JOHN M. KELLY LIBRARY
Donated by
The Redemptorists of
the Toronto Province
from the Library Collection of
Holy Redeemer College, Windsor
University of
St. Michael's College, Toronto
OUT REDEEMER L^ARY, *!.„_.
<f W^3
ADOLF HAENACK
REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND
REDEN UND AUFSiTZE
VON
ADOLF HARNACK
ERSTER BAND
ZWEITE AUFLAGE
ALFRED TOPELMANN
(VOE1ULS J. RICKEH'SCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG)
GIESZEN 1906
HOLY REDEEMER LIBRARY/ WINDSOR
LIBRA
Br uck von C. G. Roder, G. m. b. IL, Leipzig.
MEINEM SOHWAGER UND FKEUNDE
HANS DELBRtCK
VORWORT
In diesen beiden Banden habe ich solche ,,Reden uncl
Aufsatze" gesammelt, die sicli an einen weiteren Leserkreis
wenden. Sie stammen aus einem Zeitraum von mehr als
zwanzig Jahren. Obschon ich. jetzt dieses und jenes Thema
etwas anders behandeln wiirde, glaubte ich doch die ein-
zelnen Stiicke unverandert in der Gestalt aufnelimen zu
sollen, in welcher sie urspriinglich erschienen sind, da mir
kein einziges in seinen Grand gedanken fremd geworden ist.
Die ,,Reden" des ersten Bandes sind so geordnet, daft sie
einen Gang durch die Kirchengeschichte darstelleii; die
des zweiten Bandes beziehen sich vornelimlich auf wichtige
kirchliche Probleme der Gegenwart. Einen Aufsatz
den ersten des zweiten Bandes — , der nur in englischer
Ubersetzung erschienen ist, habe ich. in dieser Sprache aufs
neue zum Abdruck gebracht, da ich das dentsche Manu-
skript nicht mehr besitze und eine Ruckiibersetzung sich
nicht empfahl. Fortlassen wollte ich das Sttick aber nicht,
da es die Wendung, welche die Geschichte der Erforschung
des Urchristentums um das Jahr 1885 genomrnen hat,
widerspiegelt.
September 1903
Ausser kleinen stilistischen Verbesserungen habe ich
in diesen ,,Reden und Aufsatzen" nichts verandert.
Ihre freundliche Aufnahme verpflichtet mich zu leb-
haftem Dank.
Juli 1905
ADOLF HAENACK
INHALTSVEEZEICHOTS DES EESTEN BANDES
ERSTE ABTEILUNG: REDEN
Selto
I. Legenden als Geschichtsquellen (1890) 1
II. Sokrates und die alte Kirche (1900) 27
III. Augustins Konfessionen (1887) 49
IV. Das Monchtum, seine Ideale und seine Geschichte (1880) 81
V. Martin Luther, in seiner Bedeutung for die Geschichte
der Wissenschaft und der Bildung (1883) 141
VI. Philipp Melanchthon (1897) 171
VII. August Neander (1889) 193
ZWEITE ABTEILUNG: AUFSATZE
I. Das apostolische Glaubensbekenntnis, ein geschichtlicher Be-
richt nebst einer Einleitung und einem Nachwort (1892) 219
IE. Antwort auf die Streitschrift D. Cremers: Zum Kampf
urn das Apostolikum (1892) 265
HI. Als die Zeit erfullet war. Der Heiland (1899/1900) . 299
IV. Uber die jiingsten Entdeckungen auf dem Gebiete der
altesten Ku-chengeschichte (1898) 313
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND . ERSTE ABTEILUNG
REDEN: I
LEGENDEN ALS GESCHICHTSQUELLEN
Vortrag
geKalten am 4. II. 1890 in der Neuen Kirche zn Berlin. Erschienen
im Druck in: PreuB. Jahrbiicher, Band 65 (1890) Heft 3.
Luther hat als Student auf der Bibliothek zu Erfurt
zum erstenmal eine Bibel gefunden und mit freudigem Er-
staunen das unbekannte Buch aufgeschlagen. — Nach
seinem G-esprach mit dem Kardinal Cajetan in Augsburg
ist dieser in die Worte ausgebrochen: 7,ich will nicht weiter
mit dieser Bestie reden; denn sie hat tiefe Augen und
wundersame Spekulationen im Kopfe". -- Auf der Wart-
burg hat Luther das Tintenfafi nach dem Teufel, der inn
bedrangte, geworfen, sodafi der Fleck noch heute zu sehen
ist: Wer unter uns kennt diese Erzahlungen iiber Luther
nicht und halt sie nicht hoch? Ahnliche G-eschichten,
Legenden, sind uns von vielen groflen Personen berichtet,
und dariiber hinaus wunderbare Ereignisse. Die Wunden-
male des h. Franziskus, das Rosenwunder der h. Elisabeth,
der Kaiser Karl im Untersberg, der Kaiser Friedrich im
Kyffhauser, die reiche Kaiserlegende des Mittelalters iiber-
haupt. Dann wiederum unvergeflliche Worte, wie jenes
unerschiitterliche Gralileis: ,,Und sie bewegt sich dochu, oder
jenes riihrende des greisen Evangelisten Johannes, unab-
lassig wiederholt: wKindlein, liebet euch untereinander",
oder jenes verzweifelte Bekenntnis Julians des Abtriinnigen,
als er die Todeswunde empfing: ^Du hast gesiegt, G-alilaera.
Von alien diesen Erzahlungen und vielen ahnlichen
wissen wir heute, dafi sie nicht tatsachliche Wahrheit
wiedergeben oder mindestens nicht bewiesen werden konnen.
Und doch erzahlen wir sie weiter, nicht nur den Kindern,
sondern auch den Erwachsenen, und halten es fur schlimmer,
sie nicht zu kennen als manche Ziige beglaubigter Q-e-
schichte. Lassen sie sich malerisch darstellen, so begluck-
1*
4 Erster Band, erste Abteilung. Reden: I.
wiinschen wir den Kiinstler, der sich solche Stoffe gewahlt
hat. Man kann nichts Schoneres sehen als die Wunder
des h. Franziskus, gemalt von Giotto, und man kann nichts
Eindrucksvolleres und Gewaltigeres in sich anfnehmen, als
die Propheten und Sibyllen Michel Angelos in der Sixtina
und doch sind diese Sibyllen nur Gestalten der Legende,
und die Wunder des Franziskus Stiicke einer Geschichte,
die sich niemals begeben hat.
Ich meine, es verlohnt sich wohl der Miihe, eine
fliichtige Stunde dem Nachdenken dariiber zu widmen, was
denn eigentlich Legenden sind, warum sie uns teuer sind
und ob sie uns teuer bleiben diirfen. Wir leben in einem
Zeitalter, das vielleicht nicht geringeren Selbsttauschungen
ausgesetzt ist, als die vergangenen, aber doch ernsthafter
als die meisten der friiheren sich benmht, der wirklichen
Geschichte ins Auge zu sehen. Wir sind angstlich besorgt,
uns vor Tauschungen zu sichern. Wenn wir manches von
dem verloren haben, was den friiheren Geschlechtern als
unantastbar und herrlich gait, so wollen wir wenigstens
den herben Trost behalten, dafiir die Wahrheit zu besitzen.
Was sollen nun noch die Legenden? Sind sie nicht das
Uberbleibsel einer Epoche, die anders empfand und anders
urteilte als wir? Konnen sie uns denn iiberhaupt irgend
etwas lehren? oder haben sie nicht vielmehr die Menschen
stets in die Irre gefuhrt und halten sie noch heute mit
Tauschungen hin?
Gewifl — die Legende ist in vieler Hinsicht die
schlimmste, nie rastende Feindin der wirklichen G-eschichte.
Man kann sie der Schlingpflanze vergleichen, die aufwachst,
wo nur immer Geschichte aufwachst. Fast gleichzeitig
mit dem grofien Ereignis und mit dem groJJen Mann strebt
auch die Legende auf. Je grofler jene werden, um so
starker wuchert auch sie. Sie umrankt und umklammert
elementare Ereignisse ebenso wie gewaltige Taten, das
Faktum ebenso wie die Person. Sie sendet ihre Ranken
Legenden als Geschichtsquellen. 5
von Baum zu Baum; je hoher der Stamm, um so dichter
und fester umzieht sie ihn. Zuletzt 1st der ganze Wald
in ein Gewirr von Ranken und Laub geschlungen. Ein
Stamm nach dem andern ist ausgesogen und verdorrt:
nicht mehr die natiirliche Mannigfaltigkeit der verschie-
denen Baume stellt sich dem Beschauer dar; iiberall er-
scheint das einformige Laub der Schlingpnanze ; nur das
unbedeutende Gestriipp am niederen Waldboden bleibt
verschont.
Das ist das Bild, welches die von der Legende um-
sponnene Geschichte bietet. Bedarf es Beweise? Was haben
die Griechen, was die Homer von ihrer altesten Geschichte
gewuOt? So gut wie nichts mehr, weil die Legende alles
iiberwuchert hatte. Was Livius von der altesten Geschichte
Eoms berichtet, ist mannigfaltig genug; aber fast nichts
halt vor der Kritik Stich. Man wendet ein, das lage zu
weit zuruck; denn es fuhre in das Kindesalter der europa-
ischen Menschheit. Nun wohl, blicken wir auf das Mittel-
alter! Was hat man im Mittelalter von der altesten Ge
schichte des Christentums gewufit, von der Geschichte
Jesu Christi, von dem apostolischen Zeitalter, von den
Christenverfolgungen , von der Entstehung der katho-
lischen Kirche und dem Ursprung des Papsttums, von
dem groBen Umschwung unter Konstantin und der Ent
stehung der Staatskirche? Ich sage nicht zu viel, wenn
ich behaupte, dafi man weniger als nichts gewufit hat;
denn nur nebelhafte und unsichere Erinnerungen an die
Wirklichkeit waren vorhanden, wahrend ein ungeheures
Gestriipp fortwuchernder Legenden alles iiberzog. Die Le
gende herrschte damals ebenso im Abendland, wie im
Morgenland. Volkstumlich und nationalkirchlich verschie-
den war sie ausgepragt; in ihren Grundziigen war sie die-
selbe. In dem weiten Gebiete der romischen Kirche zeigte
sie sich in wesentlich einforiniger Gestalt. Man erzahlte
sie in Spanien ebenso wie in England, auf Sizilien nicht
6 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
anders als in Schweden; denn was man erzahlte, war die
legendarische tJberliefening der romischen Kirche. Noch
schlimmer herrschte sie bei den Christen des Orients. Wie
die heiBe Wustensonne im Hochsommer alles Griinende ver-
zehrt, so erscheint z. B. in der koptischen Kirche alle wirk-
liche Erinnerang ausgebrannt durch die Glut der Martyrer-
und Heiligen-Legenden.
Lassen Sie mich das mittelalterliche Q-eschichtsbild in
wenigen Strichen zeichnen. Es gehort ja leider zum ge-
ringsten Teile der Vergangenheit an: die katholische Kirche
halt noch heute das meiste aufrecht. Und viele von den
Legenden, die sie erzahlt, gleichen nicht einmal der Schling-
pflanze, die wenigstens naturwiichsig aufstrebt; sie gleichen
vielmehr der weiBgrauen Tiinche, mit der ein Barbar die
herrlichen Freskogemalde in dem Kreuzgang einer Kirche
bedeckt. Schon hier begegnet tins ein bedeutungsvoller
Unterschied zwischen Legende und Legende, d. h. zwischen
der naiven und der tendenziosen Legende.
"Wohl warden die Evangelien und die Apostelgeschichte
im Mittelalter fort und fort gelesen; aber viel lebhafter be-
schaftigten die Phantasie die unzahligen Legenden, die von
Jesus Christus, der Jungfrau Maria und den Aposteln er
zahlt und wie das Evangelium geglaubt wurden. Joachim
und Anna die Eltern der Maria, Maria als Nonne im Tempel
erzogen, Jesus Christus als Kind die staunenswertesten
Wunder verrichtend: man hat umfangreiche Biicher aus
ihnen zusammengestellt, dafi er als zartes Kind aus Lehm
Vogel bildete und sie dann fliegen liefi und vieles ahnliche.
Dann Marias Geschichte als Parallele zur Qeschichte Christi,
durchgefuhrt bis zur Himmelfahrt. Die Apostel samtlich
nach stronger Monchsregel lebend, die Wirksamkeit jedes
einzelnen eine Kette erstaunlicher Wunder; in Jerusalem
halten sie ein Konzil ab und verteilen die Welt unter sich;
dann ziehen sie hinaus, ein jeder zu den ihm bestimmten
Volkern; schon nach einem Menschenalter ist das Christen-
Legenden als Gesdrichtsquellen. 7
turn in der ganzen Welt verkiindet worden. Nach England
gent Joseph von Arimathia als Missionar, nach Frankreich
jener Dionysius, den Paulus zu Athen bekehrt hatte. Als
Oberbischof waltet iiber dem ganzen Abendlande der Apostel
Petrus. Inn hat Christus zum Papst eingesetzt; er nahm
daher seinen Sitz in Rom nnd hat dort 25 Jahre als Bischof
gewirkt. Von Rom ans hat er Bistumer in Italien, Spanien,
Frankreich und Deutschland gegriindet, indem er seine
Schuler ordinierte und als Bischofe iiberall hinsandte, z. B.
auch nach Koln, Trier und Mainz. Dann kamen die Ver-
folgungszeiten. Fa-st jeder romische Kaiser, von Nero bis
Konstantin, wurde als wutender, furchtbarer Christenver-
folger dargestellt. Dreihundert Jahre lang sind fort und
fort Strome von Blut geflossen; alle romischen Bischofe z. B.
sind Martyrer geworden. Dann auf einmal, ohne Vorbe-
reitung, der herrlichste Umschwung! Die Sonne strahlt auf
iiber dem Leichenfeld: G-ott erweckt Konstantin den GroBen.
Dieses auserwahlte Riistzeug rottet das Heidentum aus und
setzt die Kirche auf den Thron. Schon beim Antritt seiner
Herrschaft lafit er sich vom romischen Bischof Sylvester
taufen und schenkt diesem dafiir Italien und die Inseln
d. h. nicht weniger als alle Inseln, die es auf der Erde gibt.
Er selbst verlafit Rom und schlagt seinen Herrschersitz in
Konstantinopel auf; denn es ziemte ihm nicht, neben dem
Statthalter Christi in derselben Stadt zu regieren. Dieser
bleibt in Rom und iibertragt spater die romische Kaiserkrone
kraft eigener Machtvollkommenheit auf Karl den Groflen.
In alien diesen Legenden und hundert ahnlichen, welche die
Geschichtsbetrachtung und Politik des Mittelalters bestimmt
haben, ist Waives und Tendenzioses wundersam gemischt.
Aber immer starker iiberwog das tendenziose Element. Wie
vieles, was sich auf den romischen Bischof bezieht, ist Ten-
denzlegende! Nachdem im 8. Jahrhundert die Geschichte
von der Schenkung Konstantins erfunden worden war,
folgte im 9. Jahrhundert die verhangnisvollste Legenden-
g Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
bildung, die in der Kirche je vorgekommen ist und welche
das Andenken an die wahre Greschichte fast vollig austilgte.
In einer gef alschten Briefsammlung wurden jedem der altesten
romischen Bischofe von Petrus bis zum 4. Jahrhundert Briefe
beigelegt, und jeder spricht in ihnen wie ein Papst des
9. Jahrhunderts. Da man diese Briefe fur echt nahm, so
erlosch das Andenken an die wirkliche G-eschichte; es ist
zu den Zeiten des heiligen Petrus und seiner nachsten
Nachfolger in Rom und in der Kirche alles genau so ge-
wesen, wie es heute dort ist. Diese Annahme, die sich wie
ein Leichentuch auf die wirkliche Q-eschichte legte, war
die notwendige Folge der Legendenbildung, und sie setzte
sich mit erstaunlicher Schnelligkeit durch. Seitdem sah
man die Vergangenheit der Kirche wesentlich nur als den
Reflex ihrer Gregenwart.
Die Legende hat hier ihr Werk wirklich vollbracht. Es
handelte sich im Mittelalter nicht nur um einzelne unrichtige
legendarische Ziige an dem Greschichtsbilde der Vergangen
heit; nein — dieses Bild selbst wurde ganz und gar durch
ein anderes ersetzt. Allein nicht nur im Altertum und im
Mittelalter ist das geschehen. Wenn wir heute unsere grofien
Historiker, welche die neueste Greschichte schreiben, be-
fragen, welches der schwierigste Teil ihrer Aufgabe sei, so
antworten sie uns einmiitig, der Kampf wider die Legende.
Sie reden von einer fridericianischen, einer napoleonischen,
einer koburgischen Legende, und wiederum von einer Le
gende des Liberalismus, der Konservativen usw. Eine jede
politische und kirchliche Partei hat ihre Legenden, und
diese Legenden, sagen sie, lasten mit Zentnerschwere auf
der Erkenntnis der Greschichte. Sollen wir diese Legenden,
nur weil sie keine Wunder und Zeichen enthalten, von den
alten Legenden unterscheiden? Ein durchschlagender Grund
laflt sich nicht linden. Kernige Zusammenfassungen zu
unwirklichen Anekdoten und wiederum pure tendenziose
Erfindungen schlimmster Art finden sich hier wie dort. Die
Legenden als Geschicktsquellen. 9
Unterschiede kommen lediglich durch die Coulissen der Zeit
und der allgemeinen Kultur zustande. Aber wo hort die
Greschichte auf, und wo fangt die Legende an, wenn wir
dem Worte die weiteste Bedeutung geben? Die Frage
scheint keine ganz einfache zu sein; denn wir sehen Manner
von erprobter Wahrheitsliebe heftig iiber sie streiten. Der
eine schreibt ein Greschichtswerk und meint in allem der
Wahrheit die Ehre gegeben zu haben. Aber ein anderer
tritt auf und erklart diese Darstellung fiir legendarisch.
Gregen ein katholisches Greschichtswerk iiber die Reformation,
das vor zwei Jahrzehnten erschienen ist, erhoben sich ein-
hellig die protestantischen Grelehrten und bezeichneten die
Darstellung als Tendenzlegende. Das ist sie auch. Dennoch
kann man dem Verfasser kaum irgendwo nachweisen, daC
er dem gefolgt sei, was man im gemeinen Sinn „ Legenden"
nennt. Er schrieb seine Greschichte grofitenteils aus Quellen-
stellen zusammen, und doch soil sie Legende sein? Bei
dieser paradoxen Behauptung konnen wir ankniipfen. Wir
miissen uns fragen: Was ist denn eigentlich Legende?
Tiber ihren Unwert und ihren Wert vermogen wir nur zu
urteilen, wenn wir ihre Natur kennen gelernt haben. Was
ist Legende? Nun, daU sie und die ihr verwandte rSage"
etwas anderes ist als ein Mythus oder als ein Marchen, ist
uns unmittelbar deutlich, wenn auch nicht wenige Sagen
aus Legenden und Mythen gemischt sind. Der Mythus
stammt aus der religiosen Naturbetrachtung vergangener
Zeiten: der Kampf des Zeus mit den Titanen ist ein Mythus.
Das Marchen nimmt seine Stoffe, wo es sie findet und will
lediglich unterhalten. Das Reich des Marchens ist die
schrankenlose, unermefiliche Phantasie. Was aber will die
Legende? Unser Sprachgebrauch scheint auf den ersten
Blick keine einfache Antwort zuzulassen. Er nennt Wunder-
geschichten Legenden; er nennt Greschichten , die an sich
wahr sein konnten, es aber nicht sind, auch Legenden; er
nennt fromme Erzahlungen so, und andererseits bezeichnet
JQ Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
er umfassende Geschichtsdarstellungen unter Umstanden als
legendarisch. Wo 1st hier ein G-emeinsames? Ein Gemein-
sames 1st dennoch vorhanden, und man kann es mit einem
Worte ausdriicken: die Legende will die G-eschichte charak-
terisieren. Die Legende — im weitesten Sinn des Wortes
— ist Beurteilung der Geschichte in der Form der Ge-
schichtserzahlung. In den Mitteln for solche Beurteilung
ist sie nicht wahlerisch. Sie beurteilt die Geschichte erst-
lich, indem sie in einem ungeheuren wunderbaren Ereignis
den ganzen Eindruck derselben zusammenfafit: Konstantin
der Grofle hat am hellichten Tage ein Kreuzeszeichen am
Himmel geschaut mit der Aufschrift: ,,In diesem Zeichen
wirst du siegen". So vollzog sich in ihm und im Reiche
der plotzliche grofie Umschwung. Die Legende beurteilt
die G-eschichte zweitens aber, indem sie in einer schlagen-
den Anekdote, in einem kraftigen Wort den Wert und die
ganze Bedeutung einer Person zum Ausdruck zu bringen
sucht. Wir erinnern uns an das Galilei in den Mund ge-
legte Wort: nUnd sie bewegt sich doch", und an viele
ahnliche. Die Legende beurteilt die G-eschichte endlich
durch Auswahl und Gruppierung der Tatsachen, die sie
erzahlt. Sie braucht nichts hinzuzufugen, und sie vermag
doch durch das, was sie erzahlt und was sie verschweigt,
ein solches Bild von der Greschichte zu schaffen, wie sie es
wiinscht. Uberall ist ihr Absehen darauf gerichtet, ein be-
stimmtes Urteil iiber die Geschichte geltend zu machen
und wirksam einzupragen. Dieses Urteil, projiziert in die
Geschichte, ist die Legende.
In dem Moment, wo wir dies erkannt haben, offnet
sich uns die weiteste Perspektive. Wir alle leben in der
Legende, d. h. in Urteilen iiber die Geschichte. Somit leben
wir in einer doppelten Geschichte: in der Geschichte der
Tatsachen, die mit elementarer Macht uns bestimmen, und
in der Geschichte der Gedanken iiber die Tatsachen. An
jener Geschichte vermogen wir nichts zu andern, wenn sie
Legenden als Geschichtsquellen. \\
sich einmal vollzogen liat; an dieser Q-eschichte arbeiten
wir unaufhorlich selbst mit. Wenn eine Hungersnot oder
Krankheit oder eine wirtschaftliche Krisis iiber ein Land
kommt, wenn eine Nation eine Niederlage im Krieg er-
leidet, wenn furchtbare Natur-Ereignisse ganze Stadte zer-
storen, so sind das Tatsachen, deren Folgen kein Beteiligter
auszuweichen vermag. Er mag iiber sie denken und ur-
teilen wie er will: er kann sich der elementaren Gewalt
dieser Vorgange zunachst nicht entziehen. Deutschland ist
durch den dreifiigjahrigen Krieg verwiistet, Preufien ist
durch. die Niederlage bei Jena gebeugt, die Franzosen sind
bei Sedan geschlagen worden — das sind Ereignisse, deren
natiirliche Folgen bestehen bleiben, mag man sie nun gelten
lassen oder nicht, sie offen bekennen oder vertuschen. Allein
nur ihre natiirlichen Folgen bleiben bestehen ; aber sie haben
noch andere Folgen; denn sie treffen, indem sie den Men-
schen treffen, nicht Holz und Stein, sondern den lebendigen
Q-eist. Aus der Art aber, wie der lebendige G-eist sie auf-
fafit, entsteht eine neue, zweite Greschichte. Bleiben wir
bei dem Beispiel der Niederlage von Jena. Alles kam dar-
auf an, wie man damals diese Niederlage deutete, als zu-
falliges Ereignis oder als notwendiges Greschick oder als
verdiente Strafe, als den Anfang des Endes oder als die
letzte furchtbare Mahnung an das Vaterland, in einmiitiger
Kraft sich zu erheben. Die Tatsache selbst ist stumm und
brutal; aber der G-eist deutet die Tatsache, und je nach
dem Ausfall dieser Deutung bildet er eine neue Geschichte.
So wichtig und entscheidend ist diese Deutung, dafi erst
dann alles verloren ist, wenn sie falsch ist, wahrend noch
alles zuriickgewonnen werden kann, wenn sie richtig ist.
In der Tat: die Deutung ist oftmals in der Geschichte viel
wichtiger geworden als die Sache selbst. DaJS der Papst
am Weihnachtsfest des Jahres 800 dem Konig Karl die
romische Kaiserkrone auf das Haupt gesetzt hat, war fak-
tisch bei dem ganzen Vorgang nicht das wichtigste und
j2 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
hatte zunachst auch keine besonderen Wirkungen; aber
dafl man nachmals diese Kronung als Verleihung der Krone
durch den Papst deutete — diese Legende hat unermeflliche
Folgen gehabt. Der Q-laube an die Verleihung hat in der
Geschichte dieselbe Kraft und Bedentung gewonnen, als
ware sie wirklich geschehen. Durch die Deutung konnen
die natiirlichen Folgen eines Ereignisses geradezu um-
gebogen und in ihr Gregenteil verwandelt werden. Wer
auBeres Leiden, Kummer und Not sich als Mahnungen oder
Priifungen deutet, der vermag Trauben von den Dornen
und Feigen von den Disteln zu sammeln. Und was von
dem Leben des einzelnen gilt, das gilt auch von dem Leben
ganzer Volker. Mit den natiirlichen Folgen der Tatsachen
miissen wir alle fertig werden; aber der Streit hebt an, wo
es sich urn die Beurteilung der Tatsachen handelt. Schon
ein Weiser des griechischen Altertums hat gesagt: „ Nicht
die Tatsachen erschiittern die Menschen, sondern das, was
sie iiber die Tatsachen denken, das erschiittert sie."
Aber gehen wir nicht zu weit, wenn wir alles das,
was man iiber die Tatsachen denkt und urteilt, also die
ganze Greschichtsbetrachtung, in die Legende hineinziehen?
1st es wirklich Legende, wenn ich sage, die Niederlage bei
Jena sei ein heilsames Strafgericht iiber PreuBen gewesen?
1st es eine Legende, wenn man Luther den Reformator der
Christenheit nennt? 1st jedes Urteil iiber die Q-eschichte
Legende? Nun an dem Worte liegt es nicht, und wer es
vermeiden will, mag es lassen. Der Sprachgebrauch nennt
auch nicht alle Urteile iiber die Q-eschichte Legenden. Das
zutreffende geschichtliche Urteil, wenn es nicht in eine
poetische Form gekleidet wird, nennen wir nicht so. Aber
im letzten Grunde ist kein Unterschied. Denn auch das
zutreffendste Urteil iiber die G-eschichte lafit sich nicht
rund und auflerlich beweisen. Niemand bestreitet, dafi
Luther im Jahre 1517 die Thesen angeschlagen, dafi er
im Jahre 1521 vor Kaiser und Reich zu Worms gestanden
Legenden als Geschichtsquellen. 13
hat; aber dafi er der Reformator der Kirche gewesen 1st,
bestreitet die Mehrzahl der Christen aufs heffcigste. Es
muB sich also mit diesem Satze ganz anders verhalten als
mit jenen, und es verhalt sich anders. Jene driicken die
einfache Anerkennung einer Tatsache aus; dieser stammt
ans dem Eindruck, dem Anteil und der "Uberzeugung.
In welchem Lichte erscheint nns nun die Legende;
sie, die uns im Eingang unserer Betrachtungen als die ge-
fahrlichste Feindin der G-eschichte entgegengetreten ist?
Hier offenbart sie sich vielmehr als eine zweite G-eschichte,
wichtiger als die erste, und als unsere G-eschichte, d. h.
als die Q-eschichte, die der Greist kraft seiner Freiheit her-
vorruft. Dieselbe Macht scheint hier zugleich zu zerstoren
und zu bauen. Lassen Sie uns, bevor wir auf dieses Pro
blem eingehen, zuvor die Naturgeschichte der Legende im
engeren Sinne des "Wortes naher betrachten. Aus ihr wird
sich ergeben, dafi die wahre Legende die Wahrheit und
die falsche Legende die Luge ist; und dafi die wahre
Legende der Sonne gleicht, welche mit derselben Kraft das
Blatt welken macht und die Frucht reift.
Statt eine trockene Ubersicht zu geben, in wie ver-
schiedener und mannigfaltiger Weise die Legende arbeitet,
wollen wir uns eine Reihe der bekanntesten Legenden
naher ansehen, um aus ihnen zu lernen. Wir fassen zu-
erst die Gruppe von Legenden ins Auge, die sich auf ein-
zelne hervorragende Personen beziehen. Was die Legende
hier bezweckt, ist unmittelbar deutlich. Sie will die seelische
Empfindung fixieren, die der Eindruck der Person hervor-
gerufen hat. Sie will die geistige Bedeutung und den
Wert einer grofien Personlichkeit in einem Ausdruck zu-
sammenfassen. Die wirkliche Greschichte ist selten so freund-
lich, dafi sie uns den bedeutenden Mann auf dem Hohe-
punkt seiner Entwickelung sozusagen rein darstellt. Luther
in Worms — das ist ein geschichtliches Bild, welches an
und fur sich stark genug ist, um jede Legende uberfliissig
j4 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
zu machen. Aber wie selten liefert uns die Geschichte
solche Bilder! Da hilft dann die Legende nach. Und nun
gar, wo es sich urn feine seelische Eindriicke handelt! Das
Beste am Menschen, sagt Goethe, ist gestaltlos! Wie soil
die reine Geschichtserzahlung das Gestaltlose wiedergeben?
Sie kann es nicht; aber die Legende vermag es. Als Attila
vor Rom lag und der Stadt Verderben drohte, da zog der
romische Bischof Leo I., umgeben von seinen Priestern,
hinaus zum Hunnen-Konig, um ihn zu beschworen, von
der Belagerung abzulassen. Wahrend er zu Attila redete,
sah dieser die Apostelfursten Petrus und Paulus mit ge-
zuckten Schwertern neben dem Papste stehen. Im Tief-
sten erschreckt gab der Barbar den Befehl zum Riickzug.
Das ist gewift eine Legende; aber wer die wundersam ge-
waltige Personlichkeit Leos des Grofien kennt, der weifi,
daB diese Legende eine wahre Legende ist. Nicht in dem
gemeinen niederen Sinne; aber sie bringt in uniibertreff-
licher Weise zum Ausdruck, dafi die ganze Kraft Leos des
Grofien der Gedanke gewesen ist, den er zeitlebens, wie
kein anderer romischer Bischof, geltend gemacht hat: ich
bin der Nachfolger des heiligen Petrus. Was er an Maje-
stat und imponierender Wiirde besafi, das flofi ihm aus
dieser felsenfesten tJberzeugung. Zugleich zeigt die Legende
das moralische tJbergewicht der romisch-christlichen Kul-
tur iiber einen Barbarenkonig. — Man erzahlt, dafi der
gewaltigste Papst des 16. Jahrhunderts, Sixtus V., an dem
Tage, da er zum Papst gewahlt wurde, die Kriicken, deren
«r sich bisher bediente, von sich geworfen habe und frei
gegangen sei. Das ist eine Legende. Aber sie zeigt, durch
welche Eigenschaften damals nach der Volksmeinung die
dreifache Krone gewonnen wurde, und sie bringt in vor-
ziiglicher Weise den Kontrast zum Ausdruck zwischen dem
Kardinal und dem Papst. Als Kardinal war Sixtus schmieg-
sam, zuriickhaltend, vorsichtig, als Papst selbstandig und
energisch. - - Eine sehr alte "Uberlieferung berichtet, der
Legenden als G-eschichtsquellen. 15
Apostel Petrus sei in der Nacht vor seiner Hinrichtung
im G-efangnis von Furcht und Kleinmut iiberfallen worden
und sei deshalb geflohen. Da sei ihm auf der Flucht plotz-
lich Christus erschienen und habe auf die erstaunte Frage
des Petrus: ^Herr, wohin gehst du?" geantwortet nnaeh
Rom, um mich abermals kreuzigen zu lassen"; beschamt
sei Petrus in das Grefangnis zuriickgekelirt. Gewifl eina
Legende; aber sie ist schon im 2. Jahrhundert in Rom er-
zahlt worden, wo man doch sonst den Petrus nur verherr-
lichte; sie pragt also den Eindruck aus, dafi Petrus bis zu
seinem Tode den leichtbeweglichen , vordrangenden aber
nicht standhaften Charakter bewahrt hat, den wir aus der
evangelischen G-eschichte kennen. — Die Meisten, die von
dem grofien Kirchenvater Augustin gehort haben, kennen
den Wahlspruch, der ihm in den Mund gelegt wird: nln
notwendigen Dingen Einheit, in zweifelhaften Freiheit, in
alien Dingen Liebe." Wir wissen jetzt, daU dieser Spruch
nicht von Augustin herriihrt, sondern aus viel spaterer Zeit
stammt. Allein es ist noch nicht gelungen, kiirzer und
besser den Menschen und den Theologen Augustin zu cha-
rakterisieren als durch diesen legendarischen Satz. — Dem
heifiblutigen afrikanischen Kirchenvater Tertullian wird das
Wort in den Mund gelegt: „ Credo, quia absurdum" (Ich
glaube der christlichen Lehre, weil sie absurd ist). Nie-
mand vermag diese schJimme Paradoxie in den Werken
Tertullians nachzuweisen; aber sie charakterisiert den Theo
logen, der trotzig der Vernunft der G-ebildeten den Fehde-
handschuh hinwarf. — Kaiser Konstantin der GrroCe soil
auf dem Totenbett die Taufe mit den Worten begehrt
haben: nEs schwinde nun alle Zweideutigkeit." Es ist
ganz unglaublich, dafi er das wirklich gesagt hat. Allein
diese Legende bringt in uniibertrefflicher Weise zum Aus-
druck, dafi das bisherige Verhalten Konstantins gegeniiber
dem Christentum und dem Heidentum noch nicht ein
vollig entschiedenes gewesen ist. — Luther, erzahlt die
jg Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
Legende, hat mit dem leibhaftigen Teufel zu kampfen ge-
habt. Aber was damit gemeint 1st, sagt uns der Dichter
uniibertrefflich:
,,Er tmg den Kampf in breiter Brust verhullt,
Der jetzt der Erde halben Kreis erfiillt;
Sein G-eist war zweier Zeiten ScMachtgebiet :
Mich wundert's nicht, daJS er Damonen sieht."
Das alles sind Legenden im engsten Sinn des Wortes;
aber das eben Ausgefiihrte gilt auch dort, wo es sich nm
grofle geschichtliche Urteile iiber eine Personlichkeit han-
delt, die im niederen Sinn unrichtig, in einem hoheren richtig
sind. Wir feiern Gustav Adolf als einen deutschen Helden.
Nichts ist leichter zu beweisen, als dafi er Dentschland soviel
rauben wollte, als er bekommen konnte, dafi er keine
dentsche, sondern schwedische Politik getrieben hat. Mit
Hohn weisen daher die Katholiken auf diesen angeblichen
deutschen Helden, den wir riihmen. Allein Grustav Adolf
rettete den Protestantismus, wenn er auch Deutschland zer-
fleischen half. Die E/ettung des Protestantismus war aber
mittelbar auch die Rettung Deutschlands , ja die einzige
Rettung; denn ein spanisch-habsburgisches katholisch.es
Deutschland ware kein Deutschland mehr gewesen. So mag
man mit gutem Gewissen die Legende fortpflanzen, dafl
Gustav Adolf ein deutscher Held gewesen ist.
Indem die Legende ihre Helden charakterisiert, ver-
starkt sie oftmals das in ungeschichtlicher Weise, was ihnen
eigentumlich gewesen ist. Die Legende liebt die Ubertrei-
bung. Allein das ist doch nicht einfach als Unwahrhaftig-
keit zu beurteilen. Sie will durch Wort und Schilderung
denselben Eindruck hervorrufen, den einst die Person selbst
gemacht hat. Aber welches Wort ist dazu fahig? So bleibt
ihr nichts iibrig, als die iiberlieferten Zuge zu verstarken.
Sie tut das oft in sehr kindlicher Weise, und an der Art
der Verstarkung kann man feststeUen, aus welchen Kreisen
die Legende stammt. Anders erzahlen die Germanen ihre
Legenden als Geschichtsquellen. 17
Heldengeschichten und anders die E/omanen. Anders haben
die Morgenlander uns die Heiligen- und Martyrergeschichten
iiberliefert und anders die Abendlander. Die frankischen
Heiligenlegenden des friihen Mittelalters zeichnen sieh durch
gemiitvolle Schilderung und individuelle Zeichnung aus;
die Martyrergeschicliten der Orientalen sind starr und
einformig. Aber Eines konnen die Biographen gerade heut-
zutage von der Legende lernen, dafi es nicht Aufgabe der
Geschichtsschreibung ist, das Kleinliche und Erbarmliche,
was in jedem Menschenleben vorhanden ist, der Nachwelt
zu uberliefern. Eine grofie Personlichkeit, welche der Ge-
schichte angehort, gehort ihr doch nur in dem an, was sie
ihr bedeutet. Das bringt die Legende unubertrefflich zum
Ausdruck. Dagegen sind unsere photographischen Bio-
graphien ein wahrer Unfug. Wir haben nicht nur das
Eecht, sondern die Pflicht, das Andenken an eine grofie
Personlichkeit, die in der G-eschichte etwas geleistet hat und
fortwirkend leistet, rein zu erhalten. Was geht es uns an,
was sie sonst noch gewesen ist, wenn sie nur das wirklich
gewesen ist, weshalb wir sie feiern. Allerdings soweit wie
die Legende geht, kann der Historiker nicht gehen. Die
Legende bildet den Helden zum Typus aus, fordert vom
Himmel die schonsten Sterne fur ihn und lafit ihn haufig
nicht einmal sterben. Sie kann sich nicht davon iiberzeugen,
dafi auch gewaltige Q-eister dem allgemeinen Menschenlose
unterliegen. Daher lebt Kaiser Karl im Untersberg, Kaiser
Friedrich im Kyffhauser, und der Grabhiigel des Evange-
listen Johannes in Ephesus hebt und senkt sich mit den
Atemziigen des Schlummernden. Aber sie gonnt auch den
vollkommenen Bosewichtern die Ruhe des Todes nicht.
Daher ist Nero nicht gestorben, sondern aufbehalten zum
G-ericht. In dieser Art der Betrachtung zeigt sich eine
bemerkenswerte TJbereinstinimung in der Legendenbildung
aller Zeiten und Volker. Indem die Legende, wie der
Prophet, die Personen deutet und wagt, wird sie zum Welt-
Ham a ck, Reden nnd Anfsatze. 2. Anfl. L 2
18
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
gericht und teilt Belohnungen und Strafen aus. Was ist
Dantes gottliche Komodie anderes als das Qericht eines
Propheten iiber die Weltgeschichte in der Form derLegende?
Hierbei zeigt es sich, dafi die Phantasie nicht unerschopf-
lich ist. Es gibt im grofien wie im kleinen flatternde Le-
genden, die entweder von mehreren Personen gleichformig
erzahlt werden oder so lange unruhig umherschweifen, bis
sie den richtigen Platz gefunden haben. Sie alle kennen
hundert Beispiele fiir jene wandernden Anekdoten, die lange
Zeit umgehen, bald dieses, bald jenes Haupt kronen und
den Erzahler oft in Verlegenheit bringen, wenn er sie z. B.
vom alten Bliicher berichtet und ihm dann entgegengehalten
wird: ganz richtig; aber es war der alte Wrangel. Was
hier im kleinen tagtaglich begegnet, wiederholt sich. auch
im grofien, und man kann daraus nur den Schlufi ziehen,
dafi jede Anekdote, jede Legende von Rechts wegen dem
gehort, auf den sie am besten pafit. Aber wir machen auch
die Beobachtung, dafi manche Legenden sich ganzlich ab-
losen von ihrem ursprunglichen Inhaber, dieser in voile
Vergessenheit gerat, die Legende aber, an sich vielleicht
diirftig und niichtern, von einem Poeten aufgegriffen und
mit bedeutendem Inhalt erfullt wird. Hier erhalt die Le
gende ein eigentiimliches rein poetisches Leben. So sind
die Legenden von den grofien Magiern, vom Faust, vom
ewigen Juden u. a. allmahlich entstanden. Aus harten
Kieseln hat der Stahl des Dichters Funken geschlagen und
die Legende zum allgemein Menschlichen ausgestaltet. Diese
G-edichte sind der hochste Triumph der Legende, das Siegel
der Wahrheit auf den Spruch: ,,Was sich nie und nirgends
hat begeben, das allein veraltet nie" ; aber andererseits hat
in dieser Form die Legende jeden Zusammenhang mit der
G-eschichte aufgegeben und sich zu einer neuen Sphare
emporgeschwungen.
Wir haben bisher nur von Legenden gehandelt, die
sich auf Personen beziehen. Das ist auch das eigentliche
Legenden als G-eschichtsquellen. 19
Reich der Legende. Allein es gibt solche, welche den Grang
der geschich.tlich.en Entwickelung zu ihrem Inhalte haben,
ich mochte sie kulturgeschichtliche Legenden nennen. Auch
sie sind keineswegs zu verachten. Die Legende schlagt
Bracken iiber Abgriinde, iiber geschichtliche Partien, die
dem Historiker noch dunkel sind. Sie verbindet Zeitalter
und getrennte Entwickelungen und weist einen einheitlichen
Grang der Greschichte nach, wo der Geschichtsschreiber es
nicht vermag. Aber wie viel wertvolle Fingerzeige gibt
sie ihm doch! Wie oft hat sie wirklich geschichtliche Er-
innerungen aufbewahrt! Sie alle kennen jene Sagen von
Kadnms und anderen, die aus Phonizien und dem Orient
nach Griechenland gekommen sind und dort die Kultur
begriindet haben! Von Jugend auf haben wir gehort, dafi
der fromme Aeneas aus Troja niichtend iiber Karthago
nach Italien gekommen ist; wir kennen die Greschichten
von Alba Longa, Romulus und Remus und von der Grun-
dung Roms. Welche Miihe hat man sich im Mittelalter
gegeben, die Franken mit den Trojanern in Yerbindung
zu bringen oder deutsche Furstenfamilien auf die Heroen
der romischen Greschichte zuruckzufiihren. Diese Legenden
waren auch dann schon wertvoll, wenn sie nichts anderes
waren als der lebhafte Ausdruck fur die Einsicht, daB alle
Kultur Uberlieferung ist, dafi hier nichts wild wachst,
sondern dafi sich Grlied an Grlied reiht. Allein sehr viele
dieser Legenden enthalten weit mehr. Sie geben wirklich
bestimmte Fingerzeige, wie Eines aus dem Anderen ge-
worden ist. Vor allem ist es die religiose Uberlieferung
der Nationen, welche diese Art von Greschichtsbetrachtung
nicht entbehren kann. Das zeigt sich sogar bei den poly-
theistischen Yolkern, aber in ungleich kraftigerer Weise bei
den monotheistischen. Die IJberzeugung, dafi ein G-ott sei
und dafi dieser Grott die Greschichte leitet, fordert eine ein-
heitliche Betrachtung der Weltgeschichte ; ja man kann
geradezu sagen, dafi wir an eine Weltgeschichte glauben
20
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
und eine einheitliche Weltgeschichte zu sclireiben versuchen,
1st eine Folge des Monotheisnms. Zu den altesten "Welt-
geschichtsschreibern gehoren die alttestamentlichen Pro-
pheten. Aber wahrend ihr Auge gen Himmel schaute,
schrieb ihre Feder kindliche Ziige. In all den groflen ge-
schiclitliclienKonzeptionen religioser Art von den Geschichts-
bildern der altesten jiidischen Propheten ab bis zn jenem
,,teste David cum Sibylla" steckt mehr Vernnnft, als die
Schulweisheit sich traumen lafit. Sie sind als geschicht-
liche Berichte kindlich und unwahr, aber gewaltig nnd
wahrhaftig als Ausdruck des Urteils iiber den Gang der
Geschichte nnd als Anweisung, wie man sich zn ihr zu
stellen hat. Hier offenbart sich die Legende in ihrer ganzen
Macht; denn indem sie die Geschichte dentet nnd durch
erschiitternde Propheten diese Deutnng den Zeitgenossen
einpragt, wird sie selbst ein wirksames Element in der Ge
schichte, wirft sie sich dem Strom des gemeinen Geschehens
entgegen, sucht ihn aufzuhalten oder in neue Bahnen zu
leiten. Der Prophet, der die Niederlage Israels als Ziich-
tigung deutet, der sich Assur oder Babel entgegenstemmt,
weil er an ihren definitiven Sieg trotz des Augenscheins
nicht glaubt, ermutigt und rettet durch seine paradoxe Ge-
schichtsdeutung sein Volk. Er bricht die Gewalt der Ge
schichte durch die Macht der Legende. Man sagt wohl,
solche Geschichtsdeutung sei subjektiv. Als ob es nberhaupt
eine lehrreiche Geschichtsschreibung geben konnte, die nicht
subjektiv ware! Nur dem sehenden Auge und dem ur-
teilenden Geiste erschliefit sich die Geschichte. Nur darum
kann es sich handeln, dafi der Geist das Wahrhaftige und
die Kraft erkennt, und dafi er die Tatsachen nicht meistert.
Neuere deutsche Geschichte vom preufiischen Standpunkt
zu schreiben, das ist die wahre Geschichte Deutschlands ;
Kirchengeschichte vom Standpunkt der Reformation zu
schreiben, das ist die wahre Kirchengeschichte. Hier wie
dort ist man subjektiv und hat den Vorwurf zu gewartigen,
Legenden ala Geschichtsquellen. 21
dafl man Legenden bilde. Allein man schreibt die wahre
Legende, wenn man die richtig erkannten Tatsachen nach
Maflgabe ihrer Krafte gruppiert.
Aber nun die Kehrseite zu dem Bilde! Die Legende
tritt auch in den Dienst der Unwahrheit und Schwache
statt in den Dienst der Wahrheit und Kraft. Die unge-
heuere Macht, welche der Mensch besitzt, aus dem natiir-
lichen G-eschehen, indem er es deutet, eine zweite G-eschiehte
zu machen — diese Macht wird ihm auch zum UnheiL
Das ist der Jammer der Legende, von dem wir im Eingang
gesprochen haben, die G-eschichtsliige, welche den Tatsachen
ihr Mafl nimmt, sie erstickt oder falscht. Den Tatsachen
ihr MaB nimmt — nun an dieser Art Legendenbildung
sind wir alle jeden Augenblick beteiligt. Je nach der
Stimmung, in der uns eine Tatsache trifft, heute so und
morgen so, beurteilen wir sie anders. Wir tauschen mit
unsern Freunden dieses Urteil aus oder schreiben es nieder,
und die Legende ist fertig. Heute schreiben wir, dafi die
Welt immer schlechter wird, und vielleicht schreiben wir
morgen, dafi sie besser wird. Heute tadeln wir die Politik,
und morgen vielleicht loben wir sie. tiberall trifft die Tat
sache, indem sie auf Menschen trifft, auf Stimmungen.
Stimmungen aber sind ein unreiner Spiegel. Sie werfen
das Bild verzerrt zuriick. So wird den Tatsachen das MaC
genommen, und es entstehen Legenden. Das ist die haufigste,
tausendfach sich taglich wiederholende Form der Legenden
bildung. Sie ist darum die lastigste, aber nicht die schlimmste.
Ersticken und Falschen, das sind die beiden Arten,
in denen die wahrhaft unheilvolle Legende ihr Werk treibt,
durch welche sie den Ernst und die Grofle der Greschichte
auszutilgen versucht. Sie erstickt die Personen und die
Tatsachen. Braucht es Beweise dafur? Sind wir nicht
auch von dieser Legendenbildung immerfort umgeben?
Nichts liegt uns alien naher, als das naive Vorurteil, es
mache sich alles von selbst, oder die Losung lautet: ,,so ist
22 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
es immer gewesen", und jede Partei, jede Denkweise sucht
sich in der Vergangenheit wiederzufinden. Weil man fuhlt,
welch eine Macht die Geschichte ist, und well es unbequem
ist, eine Neuerung verteidigen zu miissen, so sucht jeder
sich selbst mit der Vergangenheit zu decken. Das grotes-
keste Beispiel liefert freilich auch hier die romische Kirche.
Sie behauptet es als ein Glaubenssatz, so wie sie heute sei,
sei sie schon vor 1800 Jahren gewesen; in ihrer Lehre,
ihrer Verfassung, ihren Ordnungen habe sich wesentlich
nichts verandert. Wir Protestanten weisen diese Tendenz-
legende, welche alle Tatsachen der Kirchengeschichte er-
stickt, weit von uns; aber machen wir es in Kirche und
Staat denn wesentlich anders? Am Ende sind wir nur
Dilettanten und sie sind Virtuosen in ein und derselben
bosen Sache. Man werfe einen Blick auf unsere offent-
lichen Blatter, auf die Geschichtsschreibung unserer Zei-
tungen! Die Parteilegende regiert — jene Legende, kraffc
welcher jede Partei, wie sie heute ist, sich mit ihrer klas-
sischen Zeit einfach identifiziert, die Q-eschichte fur sich in
Anspruch nimmt und die Tatsachen erstickt! Und wie be-
handelt die gemeine Legende den wahrhaft grofien Mann,
den Genius? So lange er lebt, wirkt und daher unbequem
ist, ist sie unablassig bemiiht, ihn auf das gemeine Niveau
herabzuziehen, hundert Geschichten iiber ihn zu erfinden,
damit sie dem groBen Haufen das befriedigende Bewufitsein
verschaffe: er ist doch ganz so wie wir. Weil die Menge
das ewig Gestrige liebt, sucht sie jedes gewaltige Heute zu
ersticken. Und doch ist auch das noch nicht die schlimmste
Form der Legendenbildung. Wo es sich um das Ersticken
handelt, da wirkt noch unbewuflter Trieb mit. Aber es
gibt eine bewufite Legendenbildung der Luge, die wissend
und schauend die Geschichte falscht und die Tatsachen in
ihr Gegenteil zu verwandeln sucht Auf alien Blattern der
Geschichte sind solche bewuCte Liigenlegenden zu finden,
und sie haben unsagliches Unheil angerichtet. Ich erinnere
Legenden als Geschichtsquellen. 23
micli einmal das "Wort gelesen zu haben: wman mufi den
Tatsachen die Zahne ausbrechen", und ein anderes: ,,man
mufl die Geschichte durch das Dogma uberwinden". Hier
haben Sie die Arznei und das furchtbare Gift der Legende
in Eins, je nach der Dentung dieser "Worte. Die Arznei —
denn gewiG, es gibt niehts Grofieres und Segensreicheres
als die Uberwindung des gemeinen G-eschehens durch die
wahrhaffcige Deutung desselben, durch die Freiheit des
G-eistes, durch die Kraft des Gottvertrauens. Das Gift;
denn wenn jenes "Wort besagen soil, man miisse die Ge-
schichte ersticken und falschen durch raffinierte Tendenz-
dichtungen, dann wird die Legende zur Mutter der Luge.
In diesem Sinn gilt das Urteil: die wahre Legende ist in
der Geschichte die Wahrheit und die falsche Legende ist
die Luge.
Darf ich nun zusammenfassen, was wir aus dieser Uber-
sicht iiber die Naturgeschichte der Legende lernen konnen?
Die Frage, die wir stellen miissen, lautet: Sind Legenden
Geschichtsquellen? Wir antworten: Nein: sie sind es zu-
nachst in keinem Sinn; denn da sie samtlich, die wahren
und die falschen, aus dem Eindruck und dem Urteil ge-
flossen sind, so bieten sie keine Gewahr dafiir, dafi die Tat-
sachen richtig wiedergegeben sind. Mit der Feststellung
der Tatsachen hat es aber der Historiker vor allem zu tun.
Die Wahrheit der Tatsachen zu ermitteln, ist seine heiligste
Pflicht. Wehe dem Geschichtsschreiber, der diese Aufgabe
gering achtet oder falscht! Es gibt hier keine Ent-
schuldigung : er ist ein Verrater seines heiligen Berufs. Wer
die Tatsachen ermitteln will, mufi bei den Institutionen
einsetzen; sie sind das B/iickgrat der Geschichte. Hier sind
Tauschungen am wenigsten zu erwarten. Erst wenn aus
dem tatsachlichen Material die Kette der Erscheinungen
hergestellt ist, darf sich der Historiker nach den Stimmungs-
berichten und Legenden umsehen. Selbst die Stimmungs-
berichte von Augenzeugen sind schlechte Quellen; denn die
24 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: I.
Legenden bilden sich oft im Augenblick. Dafi es nicht
schwer 1st, z. B. aus Stimmungsberichten der Reformatoren
ein verachtliches Urteil iiber die Reformation abzuleiten,
ist uns jiingst gezeigt worden. Und wie haben die Roman-
tiker die Geschichte iibermalt, weil sie mit Vorliebe Legen
den ihrer Darstellung zu Grunde legten! So sind die einst
vielbewunderten kirchenhistorischen Darstellungen des groflen
Eomantikers Chateaubriand nichts anderes als Legenden
aus Legenden. Aber wenn die Kette der Erscheinungen
sicher hergestellt ist, dann hat der Greschichtsschreiber nicht
nur das Recht, sondern die Pflicht, die Legenden kritisch
zu benutzen; denn wenn er das personliche Element in der
Greschichte schatzen und zur Darstellung bringen will, so
mufi er naeh ihnen greifen. Die gewaltige Personlichkeit
spiegelt sich niemals vollkommen in den Tatsachen; sie
spiegelt sich nur in den Kopfen und Herzen derer, die sie
entziindet und entflammt hat. Darf ich gleich das Hochste
zum Beweise anfuhren? Wie unvollkommen ware unsere
Kenntnis von Jesus Christus, wenn wir nur seine Worte
hatten und nur seine aufiere G-eschichte kennten! Erst da-
durch, daB wir die Legende von ibm besitzen — das Wort
hier im weitesten Sinn — d. h. den Eindruck, den er auf
seine Jiinger gemacht, leuchtet uns das ganze Bild seiner
Herrlichkeit auf. Ich rechne hierzu auch alles das, was
schon in altester Zeit von eigentlichen Legenden iiber ihn
erzahlt worden ist. Wir miihen uns ab, festzustellen, was
hier tatsachlich ist und was nicht, und miissen uns abmuhen,
sonst waren wir Mietlinge. Aber hoch iiber jeder Frage
und aller Rritik steht die Tatsache, die sich fast in jeder
Legende iiber ihn spiegelt, dafi er die hochste Gewalt be-
sessen hat, die iiberhaupt besessen werden kann, die Gewalt
iiber sich selber, und dafi er durch Demut und Liebe die
Herzen bezwungen hat. Was hier im Grofien gilt, das gilt
auch im Kleineren. Die Tatsachen allein bringen uns nie
einer entschwundenen Person naher. Aus dem Eindruck,
Legenden als Geschiclitsquellen. 25
den sie auf die Gemiiter kinterlassen, wird sie selbst er-
kannt nnd geliebt: so entziindet sick eine Fackel an der
anderen. Nickt nur fiir die Zeit, aus welcker sie stammen,
sondern auch fiir die Person und das Ereignis, von welcken
sie Zeugnis ablegen, konnen die Legenden somit vom kock-
sten Werte werden. Die Gesckicktssckreibung des 18. Jakr-
kunderts ist darum so diirftig und ungeniigend gewesen,
weil sie die Bedeutung der Legende verkannt hat. Die
Kritik allein vermag so wenig Gesckickte zu sckreiben wie
die Romantik.
Aber, was wir keute fordern miissen, ist, dafl iiberall
wo die Legende sick als tatsacklicke G-esckickte gibt, dieser
Sckein zerstort wird. Wir leben in einem Zeitalter, das
den lickten Nebel nickt mekr vertragt, in welckem Ge-
sckickte und Legende — das "Wort im engeren Sinn ge-
nommen — vermisckt werden. Es ist freilick leickter, oder
es sckeint dock so, an Zweck und Ziel, Kraft und Herr-
lickkeit der Gesckickte zu glauben, wenn sckone Legenden
sie durckzieken. Es ist leickter auf die gottlicke Leitung
der Gesckickte zu vertrauen, wenn man den Finger Gottes
sicktbar sckaut. Und gewifi soil man sckonend verfakren,
wo eine Legende den Halt bildet fur eine sittlicke Erkennt-
nis, eingedenk des tiefen Spruckes: ?,Krafte und Kriicken
kommen aus einer Hand." Aber immer gekt die Wakrkeit
iiber alles, und scklieBlick ist in der wirklicken Gesckickte
Erkebung und Kraft genug zu finden, wakrend man nickt
ungestraft unter den Palmen der erfundenen Legenden
wandelt.
Hier liegt eine Aufgabe, welcke den keutigen und den
zukiinftigen Historikern gestellt ist. Aber wenn es wirklick
eine doppelte Gesckickte gibt, eine Gesckickte der Tatsacken
und eine Gesckickte der Gedanken iiber die Tatsacken, so
ist es offenbar, dafi wir alle an dieser zweiten Gesckickte
mitarbeiten. Wie groC ist die Verantwortung, die wir da-
mit tragen! Wie wir urteilen und was wir sprecken, das
2(5 Erster Band, erste Abteilung. Reden: I.
schlagt sich nieder. Ein SancLkorn kommt zum anderen,
und so bilden sich "Uberlieferungen, offentliche Meinungen,
die selbst wieder zu Elementen der Greschichte werden.
Deshalb miissen wir Eechenschafb geben iiber jedes unniitze
Wort, well auch die unniitzen Worte nicht nnwirksam
sind. Es gilt, die Zunge im Zaum zu halten, der falschen
Legende kraftig entgegenzutreten und mitzuarbeiten an der
TJberlieferung der "Wahrheit und der Kraft, an der Uber-
lieferung der wahren Legende!
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND - ERSTE ABTEILUNG
REDEN: II
SOKRATES UND DIE ALTE KIRCHE
Rektoratsrede
gehalten in der Aula der Ktfniglichen Friedricb. Wilhelms-Universitat
in Berlin am 15. Oktober 1900. Erschienen im Druck bei Alfred TOpel-
mann (vormals J. Ricker'sche Verlagsbuchhandlung) in G-iessen.
Die akademisclie Sitte weist den Rektor an, das neue
Studienjahr mit der Betrachtung eines wissenschaftlichen
Problems von allgemeiner Bedeutung zn eroffhen. Indem
ich dieser Sitte folge, lade ich Sie ein, sich mit mir in ein
entferntes Zeitalter zu begeben. Fiirchten Sie aber nicht,
dafl ich Sie aus dem hellen Tag, der uns strahlt, in ein
unfreundliches Dunkel fiihre. Nur die Geschichte, die noch
nicht vergangen ist, die ein Teil unserer G-egenwart ist
und bleibt, hat Anspruch darauf, von alien gekannt zu
werden, und fur eine Episode aus dieser Greschichte erbitte
ich mir Ihre Teilnahme.
"Wie sich die christliche Religion und die griechische
Philosophie, oder dafi ich besser sage: die griechische
Kultur, gefunden und mit welchen Augen sie sich be-
trachtet haben in dem Momente, als eine der anderen zu-
erst auf leuchtete , wie sie dann ihre Schatze verglichen
haben und Einiges nun in doppeltem Lichte strahlte,
Anderes aber erlosch — das ist ein Schauspiel, das zuriick-
zurufen der Betrachtende nie miide werden kann. Aber
nicht nur wie ein Schauspiel steht es vor seinen Augen.
Die Werte, die ihn bewegen in Gtefuhl und Tat, in der
tiefsten Empfindung und in der hochsten Anspannung des
Eigenlebens, und wiederum in Familie und Beruf, in Kirche
und Staat — alle die Werte, die den eigentlichen Sinn des
Lebens ausmachen, sind gepragt worden in jenem wider-
spruchsvollen Bunde, der in dem zweiten und dritten Jahr-
hundert zwischen Griechentum und Christentum geschlossen
worden ist.
30
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II.
In der Tat eine concordia discors, denn von beiden
Seiten empfand man Gemeinsames und bemerkte doch
Trennendes. Das Gemeinsame waren Giiter, ans dem
Trennenden entwickelten sich Aufgaben: so sind die
Spannungen nicht minder wirksam und segensreich ge-
worden als der doppelt versicherte Besitz.
Dort wie hier aber war es je eine Personlichkeit, in
der alles Hohe zusammengefaflt, begriindet und verwirklicht
erschien. Fur das Christentum ist das ohne weiteres klar:
in der Person Christi wurde das neue Leben mit alien
seinen Giitern angeschaut. Aber auch das Griechentum,
sofern es sich. als Erhebung iiber das sinnliche Leben, als
ideale Weltanschauung und ernste Sittlichkeit darstellte,
besafi einen fuhrenden Heros. War er auch nicht so aus-
schliefilich der Fiihrer wie Jesus Christus, so war er doch
die Gr6.Ce, vor der bald jeder Grieche sich beugte und die
er als den Begriinder eines hoheren Lebens verehrte —
Sokrates. Jesus Christus und Sokrates: die beiden Namen
bezeichnen die hochsten Erinnerungen, welche die Mensch-
heit besitzt. Zwar war es Sokrates nicht beschieden, wie
Philo, Josephus und Virgil, eine Stelle unter den Kirchen-
vatern zu erhalten, aber etwas viel Grofieres hat die Ge-
schichte ihm gespendet. Sie hat seinen Namen, wenn auch
in weitem Abstande, mit dem Jesu Christi verbunden.
Vom zweiten Jahrhundert ab steht diese Verbindung vor
den Augen der empfindenden und denkenden Menschheit
als Konsonanz und als Dissonanz, vor allem als ein wunder-
volles Problem, an dem sich jedes Jahrhundert hat ver-
suchen miissen. Denn es gibt Probleme in der Geschichte,
die niemals erledigt werden und die jede Generation neu
anfassen muB. Zugleich aber laJJt sich hier mit Handen
greifen, dafi es in der Geschichte der Gedanken die Per-
sonen sind, welche die Geschichte machen. Gewifi, sie
kamen, weil die Zeit erfullt war, aber die Weisheit, welche
lehrt, dafi sie kommen mufiten, steht auf der Hohe der
Sokrates und die alte Kirche. 31
Einsicht, dafi iiberhaupt alles so gekommen 1st, wie es
kommen mufite.
Christus und Sokrates — unter diesem Titel kann man
ein grofles Stiick der Greistes- und Religionsgeschiehte von
zwei Jahrtausenden beschreiben. Wie ernsthaft hat sich
noch das vorige Jahrhundert urn dies Problem bemiiht —
seine Dichter, seine Philosophen und seine Aufklarer!
Hamanns Tiefsinn, Mendelssohns und Eberhards
klare Verstandigkeit, Matthias Claudius* bewegliche
Mitempfindung, Wielands weltmannischer Blick, Klop-
stocks Begeisterung haben sich an dem Probleme ver-
sucht. Einst war Portias, der Grattin des Pilatus, Traum,
in welchem ihr Sokrates erschien, alien gebildeten Deutschen
bekannt, und der Dichter des Messias ist um dieser er-
greifenden Episode willen aufs hochste gepriesen worden.
Aber auch noch in unserem Jahrhundert, in welchem "Welt
anschauung, Wissenschaft und Dichtung immer mehr aus-
einandergetreten sind und der Poet, ja selbst der Philosoph,
selten mehr um die hochste Palme ringt, ist das Problem
nicht ganz vergessen. Man braucht auch kein Prophet zu
sein, um verkundigen zu diirfen, dafi es uns in den
nachsten Jahrzehnten wieder mit ganzer Macht beschafti-
gen wird.
Aber nicht die lange Kette jener Bemuhungen gedenke
ich Ihnen vorzufiihren, sondern, zum Anfang zuriickkehrend,
mochte ich Ihre Teilnahme fur die Prage erwecken, wie
von den Christen im vorkonstantinischen Zeitalter Sokrates
empfunden und betrachtet worden ist.
Darf ich Sie zunachst an einige Hauptziige des grofien
Philosophen erinnern? Bei Griechen und Romern lebte er
fort ausschliefilich in dem Bilde, welches Plato von ihm
gezeichnet hatte. Dieses Bild hatte nicht nur seine Ver-
klarung und "Weihe, sondern auch seinen wesentlichen In-
halt durch den Tod empfangen. Sieht man von diesem
ab, so erscheint Sokrates als ein Sophist im hoheren Sinn
32 Erster Band, erste Abteilung. Reden: II.
des Worts, der es verstand, seine Gegner mit ihren eigenen
WafFen zu schlagen. Wie sie beseitigte er die objektive
Spekulation; wie sie hatte er nur fiir das Individuum in
seinem intellektuellen und moralischen Zustande Inter-
esse; wie sie lehnte er es ab, aus der Sitte nnd Uberliefe-
ning die Entscheidung fiber das Pflichtmaflige zn treffen;
endlich wie bei ihnen fiihrte auch bei Sokrates die ver-
nunftige TJberlegnng noch nicht zu einem systematischen
nnd geschlossenen Wissen, sondern das begriffliche Denken
war i>i in nnr ein Prinzip von Fall zu Fall. Aber freilich,
an einem entscheidenden Punkte unterschied er sich von
den Sophisten: die verniinftige Uberlegung fiihrte ihn nicht
auf den jedesmaligen eigenen Vorteil des Individuums,
sondern letztlich auf etwas Allgemeines, Bleibendes, eine
Art von kategorischem Imperativ. In diesem Sinn schloJJ
sich doch bei ihrn das Denken zu einer Einheit, einer Art
von Weltanschauung zusammen, deren Ausgangspunkt das
Innenleben war und die von einem idealen und ethischen
Gedanken beherrscht wurde. Aber wie wenig war diese
Lehre an und fur sich noch imstande, wie ein Evangelium
zu wirken und epochemachend einzugreifen! Das wesent-
liche Element fugte Sokrates ihr erst durch seinen Tod
hinzu. Der Kerker und der Schierlingsbecher sind die
eigentlichen Mittel seiner Philosophie gewesen; denn durch
sie hob er seine Lehre aus dem G-ebiet der dialektischen
Kunst und blofier Worte auf die Hohe der Tat und verlieh
dem ideellen Gedanken schlechthin Autoritat und Objek-
tivitat. So ist es von Plato, so von den Tausenden nach
ihm empfunden worden. In die griechische Welt, in diese
heitere Welt der Sinnenfreudigkeit und des Genusses, hat
Sokrates die G-ewifiheit und den Ernst eines hoheren Lebens
gebracht — der sterbende Sokrates, nicht der lehrende, oder
der lehrende nur insofern, als er in der Todesstunde lehrte.
Die Anklage, um deren willen er verurteilt worden
war, erhielt hierdurch einen ganz neuen Sinn. Verurteilt
Sokrates und die alte Kirche. 33
worden war er, well er neue Gotter lehrte nnd well er die
Jugend zum Ungehorsam gegen die Eltern nnd Staats-
gesetze verfnhrte: das behauptete die demokratische Re-
aktion, deren politisches Opfer er geworden war. Seine
Schnler nnd Verehrer mnflten nmgekehrt iiberzengt sein,
dafi eben das das G-erechte nnd Gnte sei, nm dessen willen
man ihn vernrteilt hatte. Eine vollstandige Umwertnng
der Werte war damit gegeben: nnbekiimmert nm den Staat,
nm Sitte nnd G-ewohnheit sich lediglich von personlicher
"Uberzengung nnd freier Selbstentscheidung leiten zn lassen,
der sittlichen Priifung nach den hochsten Maflstaben nnd
der innern Stimme allein zn folgen, das ist das Gute. Und
noch etwas, — Leiden, Entbehrnng, Verfolgnng, der Tod
sind keine Ubel, sondern konnen in Qnellen der Kraffc ver-
wandelt werden; das irdische Leben ist der G-iiter hochstes
nicht, denn es hat ein hoheres Leben in sich nnd iiber
sich; endlich, selbst die Staatsgotter, die olympischen
Gotter alle, verblassen an Macht nnd Antoritat vor dem
Gott, der tief das Innerste erregt. Das sind die Empfin-
dnngen nnd Uberzengnngen, die Sokrates dnrch seinen
Tod in der Antike entbnnden hat nnd die die Grundpfeiler
einer nenen Weltanschauung in Griechenland geworden sind.
Es bedarf nicht vieler "Worte, damit man erkenne, wie
verwandt das alles die Christen bernhren jmnCte. Je ein-
facher nnd reiner sie ihren eigenen Besitz empfanden, nm
so dentlicher mnfite ihnen die tJbereinstimmnng sein. Aber
andererseits — wie grofi war doch wiederum der Unter-
schied! Dieser Sokrates verlegte alle hoheren Giiter in das
Gebiet der Erkenntnis; sie, die Christen, aber waren an-
gewiesen, alle menschliche Erkenntnis miBtranisch zn be-
trachten. Er rief znm Wissen, sie aber znm Glanben. Er
liefi die Gotter gelten; sie aber betrachteten sie als Damonen.
Er zeigte den Weg znr Selbsterlosnng; sie kannten einen
Erloser nnd hofften anf ihn. Wie konnen so viele Gegen-
satze bestehen bei soviel Gemeinschaft?
Ha mack, Beden und Aufsatze. 2. Anfl. I. 3
34 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: II.
Ein Jahrhundert lang horen wir in christlichen Krei-
sen nichts von Sokrates, nicht einmal den Namen. Paulus
schweigt iiber ihn, obschon er von griechischer Philosophie
nicht ganz unberiihrt geblieben ist. Auch im Grefangnis
erinnert er sich nicht an den verhafteten Philosophen.
Nicht einmal die Legende hat es gewagt, dem Apostel ein
Urteil iiber Sokrates in den Mund zu legen, obschon sie
ihn mit Seneca zusammenbringt. 7,Wenn unsere Bekenner
etwas Todliches trinken, wird es ihnen nicht schaden", be-
zeugen die Christen; aber Sokrates erwahnen sie nicht.
Erst um die Mitte des zweiten Jahrhunderts wird sein
Name in unseren Quellen zum erstenmal genannt, und
von nun an verschwindet er nicht mehr.
Es sind die christlichen Apologeten gewesen, die ihn
aufgenommen haben, jene Manner, die das Christentum
auf den Boden der griechischen Philosophie, ja iiberhaupt
des Griechentums , hiniiber pflanzten. Und — dafl ich es
gleich sage — der erste, der dies mit ungemeiner Energie
getan hat, ist zugleich derjenige, der Christus und Sokrates
einander am nachsten geriickt hat, der Apologet Justin.
Um das Jahr 150 hat er eine umfangreiche Verteidigungs-
schrift fur das Christentum an die Kaiser Antoninus Pius
und Marc Aurel, an den Senat und das ganze romische
Volk gerichtet. In dieser Schrift streift er nicht nur So
krates und seine Lehre, sondern die Beziehung auf sie bildet
vom ersten bis zum letzten Blatt ein Hauptmittel der
Verteidigung und des Beweises. Er weifl, dafi seine kaiser-
lichen Adressaten Sokrates iiber alles schatzen; deshalb
hat er seine Schrift durchnochten mit platonischen Zitaten
und mit Anspielungen auf die letzten Eeden des Philo
sophen. Aber er selbst ist als Christ ein Verehrer des
Sokrates geblieben, und darum argumentiert er zuversicht-
lich und unbefangen von ihm aus fur die Christen und
fur Christus. Wir Christen alle erleiden heute das, was
Sokrates erlitten hat, weil wir wie er denken und hand ein;
Sokrates und die alte Kirche. 35
wir sind mit ihm ungerecht verurteilt; wir sind mit ihm
im Kerker; wir werden mit ihm getotet und — wir sind
mit ihm unverwnndbar ; denn Anytus und Meletus konnen
uns wohl toten, aber schaden konnen sie uns nicht. Das
ist keine Rhetorik, das ist auch nicht zufallige Uberein-
stimmung, nein — Justin ist tief davon durchdrungen,
dafi sich in der Verurteilung der Christen die Yerurteilung
des Sokrates wirklich fortsetze. Diese Uberzeugung mufl
er beweisen, und er beweist sie; denn so lauten seine
Worte: ?,Als Sokrates die Menschen von den Damonen ab-
zuwenden versuchte, da haben es diese dahin gebracht,
dafi er als ein Grottesleugner und Frevler sterben mufite;
denn sie liefien die Behauptung verbreiten, er fiihre neue
Grottheiten ein. Dasselbe tun sie heute uns gegeniiber;
denn nicht nur bei den Griechen hat der Logos die falsche
Religion durch Sokrates widerlegt, sondern auch bei den
Barbaren ist dies geschehen. Dort aber ist er personlich
erschienen und hat als Jesus Christus die Damonen iiber-
wunden." Und an einer anderen Stelle: ?,Alle die mit dem
Logos gelebt haben, die waren Christen, wenn sie auch als
Grottesleugner galten, wie unter den Griechen Sokrates."
Und an einer dritten: n Unter alien Philosophen ist So
krates der beste gewesen; denn er hat Homer und die
Grotter der Dichter verschmaht, dagegen die Menschen an-
gewiesen, den unbekannten Gott mittelst des Logos zu
suchen und zu erkennen; er selbst hat Christus zum
Teil erkannt; denn Christus ist die personliche Erscheinung
des Logos, der jedem Menschen inne wohnt."
Sokrates und Christus gehoren also zusammen und
werden von Justin der griechischen Religion entgegen-
gesetzt. Sie gehoren aber zusammen, weil ein und der-
selbe Logos in Beiden gewaltet hat.
Enger kann man die Verbindung nicht fassen; aber
Justin ist dabei nicht blind gegeniiber dem Unterschied.
Dieser Unterschied ist ihm ein gewaltiger; denn, so fiihrt
3*
36 Erster Band, erste Abteilung. Keden: II.
er aus: Sokrates war nur ein Werkzeug des Logos, in
Christus aber 1st dieser selbst erschienen; weiter, Sokrates
hat die Wahrheit nicht vollstandig und rein erkannt, denn
er besafl nicht den ganzen Logos; endlich rdem Sokrates
hat niemand solchen Grlauben geschenkt, dafi er fur seine
Lehre gestorben ware, for Christus aber gehen nicht nur
Philosophen, sondern auch Handwerker und ganz unge-
bildete Leute in den Tod". Diese letzte "Wendung ist ganz
besonders lehrreich: Justin vermeidet es, die so nahe lie-
gende Parallele zwischen dem Tod des Sokrates und dem
Tod Christi zu ziehen. Dagegen stellt er das Verhalten
der Junger Beider in einen Gregensatz und erschliefit aus
ihm die einzigartige Kraft der Predigt Jesu.
In Hinsicht auf Eeinheit, Universalitat, Fafilichkeit
und TJberzeugungskraft also steht dem Justin das Christen-
tum hoch uber der sokratischen Lehre; aber kein Zweifel
— Sokrates und seine Philosophie gehoren auf die Seite
der Wahrheit und nicht auf die Seite des Irrtums, darum
zu Christus und nicht zum Heidentum. Ahnlich wie Justin
haben auch die iibrigen griechischen Apologeten geurteilt,
die etwas spater geschrieben haben. Sie streifen die Person
des Sokrates zwar nur, und er steht ihnen nicht im Mittel-
punkt des Interesses, aber sie verehren ihn. Tatian schildert
das ganze Grriechentum mitsamt seinen Philosophen in den
diistersten Farben, aber Sokrates nimmt er aus: ,,Es gibt
nur einen Sokrates." Athenagoras stellt wie Justin die
Christen mit dem athenischen Philosophen zusammen: ,5Wie
dieser durch die offentliche Meinung nichts von seiner Yor-
trefflichkeit einbiifien konnte, so vermag auch uns Christen
die grundlose Verleumdung in Bezug auf die Eeinheit
unseres Lebens nicht zu schaden. " Der Philosoph Apollonius
erinnert seine Kichter, die romischen Senatoren, an die be-
riihmte Stelle aus Plato, wo dieser von dem wahrhaft Gre-
rechten weissagt, er werde gegeifielt, gefoltert, geblendet
und zuletzt aufgepfahlt werden. Dann fahrt er fort: ,,So
Sokrates und die alte Kirche. 37
wie die athenischen Anklager iiber Sokrates ein ungerech-
tes Todesurteil abgegeben haben, so haben die Gottlosen
auch iiber unseren Meister und Erloser das Verdammungs-
urteil gefallt; denn die Gerechten sind den Gottlosen stets
verhafit. " Nur einen alten griechischen Apologeten gibt
es, der hier eine Ausnahme macht und Sokrates einfach in
das blinde Heidentum einrechnet. Es ist gewifi nicht zu-
fallig, dafi dieser Eine zugleich ein Bischof gewesen ist —
Theophilus von Antiochien. Er stofit sich daran, dafi So
krates, wie die Uberlieferung sagt, bei dem Hunde und der
Platane zu schworen pflegte, und schlofi daraus, dafi er
nichts von der Wahrheit erkannt habe, und dafi daher auch
sein Tod sinn- und zwecklos gewesen sei. Jene Schwiire
des Sokrates mufiten freilich seinen christlichen Verehrern
sehr unangenehm und bedenklich sein, aber sie wufiten
sich mit ihnen abzunnden. Lediglich um die Athener und
ihren Grlauben zu verspotten, meinten sie, habe Sokrates
solche Schwurformeln gebraucht. So gewiC waren sie, dafi
der Mann, der, wie die christlichen Bekenner, fur seine
Lehre gestorben war, unmoglich im Gotzendienst stecken
geblieben sei.
Er war fur seine Lehre gestorben und die Christen
starben fur ihre Lehre — diese Ubereinstimmung hat selbst
die gebildeten Gegner des Christentums stutzig gemacht,
und noch andere Verwandtschaften fielen ihnen auf. Celsus,
der alteste und tiichtigste literarische Bestreiter des Christen
tums, hat in der Einleitung zu seiner Schrift die gefahr-
dete Lage der Christen mit der des Sokrates verglichen.
Leider kennen wir an dieser Stelle den Wortlaut seiner
Ausfuhrungen nicht mehr und wissen daher nicht, wie er
sich aus dem fur seinen eigenen Standpunkt todlichen Ver-
gleich herausgezogen hat. Eben derselbe Celsus behauptet
auch, dafi die Christen das Gebot, nicht Boses mit Bosem
zu vergelten, einer Anweisung des Sokrates entnommen
hatten, und dafi auch ihre Unterscheidung einer mensch-
gg Erster Band, erste Abteihmg. Eeden: II.
lichen und einer gottlichen Weisheit dieser Quelle ent-
stamme. Der Heide Cacilius rat den Christen, wenn sie
denn durchaus philosophieren wollten, Sokrates nachzu-
ahmen und jene Zuriickhaltung in Bezug auf die himm-
lischen Dinge zu iiben, der er sich befleifiigt habe. Lucian,
der Spotter, behauptet, die Christen hatten einen ihrer her-
vorragenden Lehrer ,,den neuen Sokrates" genannt. Gralen
gesteht einzelnen Christen zu, dafi sie wie wahre Philo-
sophen, also wie Sokrates, die sinnlichen Greniisse und den
Tod verachten. Umgekehrt sucht Marc Aurel zu zeigen,
dafi die tJbereinstimniung des Sokrates und der Christen
in der Todesbereitschaft nur eine scheinbare sei; denn
jene sei selbstbewufit und voll keuschen Ernstes gewesen,
diese aber unbesonnen und prahlsiichtig. Man erkennt
deutlich — auch fur die Gregner lag hier ein Problem.
Nicht nur die Christen nahmen Sokrates fur sich in An-
spruch; auch ihre Feinde fanden hier "Qbereinstimmungen,
die sie in Verwunderung setzten und fur die sie nach Er-
klarungen suchen mufiten. Gregenseitig bezichtigte man
sich des Plagiats: Sokrates hat die heilige Schrift gepliin-
dert; nein — Christus oder die Christen haben die grie-
chische Philosophie bestohlen. So sehr empfand man das
Gemeinsame, und so unfahig war man, es zu erklaren!
Aber — kann man einwenden — ist hier nicht alles
heriiber und hiniiber nur dialektisch-apologetische Kunst
gewesen? "War es den christlichen Philosophen wirklich
Ernst mit ihrer Verehrung des Sokrates? Bei Justin kann
dariiber kein Zweifel sein und ebensowenig bei der Gruppe
von Theologen, die sich unmittelbar ihm anschliefit, den
alexandrinischen christlichen Grelehrten. Clemens, Origenes
und ihre Schiller haben mit der gleichen Hochachtung von
Sokrates gesprochen, wenn sie fur Christen und wenn sie
far das grofie Publikum geschrieben haben. Der Ausdruck
„ Hochachtung" ist noch viel zu schwach: Sokrates war
ihnen ein Zeuge der Wahrheit, ja der Zeuge innerhalb der
Sokrates und die alte Kirche. 39
griechischen Geschichte. Noch mehr: Clemens Alexandrinus
hat die ganze Geschichte der griecliischen Philosophic von
Sokrates ab nicht im Kontraste zum Christentum betrachtet,
sondern als Vorhalle desselben wie das alte Testament, und
auch Origenes und seine Schiller benrteilten sie ahnlich.
Wie war ihnen das moglich, da sie doch iiberzeugte kirch-
liche Christen waren nnd der Bedeutung der Person Christi
nichts abzogen? Nun, moglich, ja selbstverstandlich war es
ihnen, weil sie in der christlichen Religion nicht eine
Religion sahen, sei es auch die wahre, sondern weil sie sie
als die Religion erkannten, auf welche die religiose Anlage
aller Menschen hinweise und die sich in der Menschheits-
geschichte vorbereitet habe. Diese Erkenntnis machte sie
nicht tolerant, sondern wahrhaft liberal, d. h. sie wufiten
das Grute, wo immer es sich zeigte, zu iinden und zu
schatzen und brachten es mit der christlichen Predigt in
Verbindung. Dafi die Tugenden der Heiden nur glanzende
Laster, ihre Erkenntnisse samt und senders Irrtiimer seien —
von diesem truben Gedanken waren sie noch weit entfernt.
Freilich entfernten sie sich auch von jener Auffassung des
Bosen und der Siinde, welche Paulus verkiindigt hatte;
aber man kann nicht sagen, daB sie die einzige is-t, die sich
mit dem Evangelium vereinigen lafit.
Wie sehr Clemens und Origenes Sokrates geschatzt
haben, erkennen wir am besten an der vollkommenen Un-
befangenheit, mit der sie seine Ausspriiche als anerkannte
Wahrheiten zitieren; ja Clemens verbindet sie sogar mit
Bibelspriichen. Origenes tut das nicht mehr; die Bibel
steht ihm zu hoch, aber Sokrates ist auch ihm iiber jeder
Kritik erhaben. ,,Er hatu, sagt er, wim Grefangnis mit voll-
kommener Furchtlosigkeit und mit aller Seelenruhe so viele
und so erhabene Gredanken ausgesprochen, dafi ihm kaum
die zu folgen vermochten, die vollstandig gefafit waren
und von keiner drohenden Gefahr beangstigt wurden."
Nur einmal erscheint seine unbedingte Verehrung er-
40
Erster Band, erste Abteilung. Keden: IE.
schiittert, wo er sich erinnern mufl, daft Sokrates doch
auch den Gotzen geopfert hat. Aber mit Clemens 1st er
der Uberzeugung, dafl das Damonium des Sokrates kein
boser Geist gewesen 1st, sondern ein Geist des Schutzes und
der Wahrheit. Das 1st die starkste Probe ihres Glaubens
an den Philosophen; denn es war fiir jeden Christen ein
hartes Stuck, dieses Damoninm anznerkennen. Schon der
blofle Name mufite abschrecken. Am lehrreichsten aber
ist es, zu sehen, wie Origenes in seinem groflen Werke
gegen Celsus den Ubereinstimmungen zwischen Sokrates
einerseits nnd Christus und den Christen andererseits nach-
geht. Tausend Jahre spater haben die S chiller des heiligen
Franziskus ,,Conformitates" zwischen ihrem Meister und Je
sus aufgesucht und zusammengestellt. Dasselbe hat bereits
Origenes getan; nur einige seien angefuhrt: Jesus ist
eines schmahlichen Todes gestorben, Sokrates auch; Jesus
hat gelehrt, den Tod nicht fiir ein Ungliick zu achten und
ihm gegeniiber furchtlos zu bleiben, Sokrates auch; Jesus
hat die Sunder zu sich gerufen, Sokrates hat den Phadon
aus einem schlechten Hause herausgenommen und ihn der
Philosophic zugefuhrt; von Jesus werden hochst wunderbare
und anscheinend unglaubwurdige Geschichten berichtet, von
Sokrates auch; Jesu Spruehe und Gleichnisse bediirfen der
allegorischen Erklarung, Sokrates1 Mythenerzahlungen eben-
falls ; aus Jesu Verkundigung endlich haben sich verschiedene
Sekten und Schulen entwickelt, nicht anders aus der Lehre
des Sokrates.
Diese Hochschatzung des athenischen Philosophen hat
Origenes auf seine Schuler iibertragen. In der Lobrede,
die Grregorius Thaumaturgus seinem Meister gehalten hat,
weifi er ihm kein hoheres Lob zu spenden als in den
"Worten: ,,Wie Sokrates hat mich Origenes geziigelt und
geleitet." Ebenderselbe Grregorius bezeichnet das sokratische
Wort nErkenne dich selbst" als das Grebot der tiefsten Weis-
heit. Ein anderer christlicher Philosoph, Methodius, eignet
Sokrates und die alte Kirche. 4^
sich die Auffassung vollkommen an, die Sokrates iiber den
Tod ausgesprochen hat. In die Weltchronik des Eusebius
ist Sokrates als der ?,Philosophos kathartikos", der Philosoph
nder R/einigung", aufgenommen, der durch nden Wahnsinn"
der Athener den Tod erlitten hat. Damit erschien das
christliche Urteil iiber Sokrates fiir alle konunenden Zeiten
in einem mafigebenden Werke festgelegt. Aber auch mitten
im bewegten Leben und in der Todesstunde haben christ
liche Martyrer des 3. Jahrhunderts noch immer des Sokrates
gedacht und sich auf ihn berufen, so Pionius und Phileas.
,,Ich opfere nicht; denn ich wache eifersiichtig iiber meine
Seele. Nicht nur wir Christen tun so, sondern auch Heiden;
nimm Dir den Sokrates als Beispiel: da er zum Tode ge-
fiihrt wurde und seine Gattin und Kinder neben ihm standen,
kehrte er nicht um, sondern nahm bereitwillig den Tod
auf sich." Aus dem ganzen Gebiet des Griechentums ist
mir in der Zeit vor Konstantin neben Theophilus von
Antiochien, den ich bereits erwahnt habe, nur noch ein
Christ bekannt, der sich abschatzig iiber Sokrates geaufiert
hat. Dieser Eine — es ist der Verfasser der clementinischen
Homilien, und er beschuldigt Sokrates grober Unsittlichkeit
— ist aber nur seiner Sprache nach ein Grieche; in Wahr-
heit ist er ein jiidisch-syrischer Christ. Der griechische
Geist liefi sich seinen Sokrates nicht rauben, auch dann
nicht, als er sich dem Evangelium unterworfen hatte.
Aber wer kann behaupten, dafi sich diese Verbindung
der Lehre des Sokrates und Christi auf eine vollstandige
und tiefe Einsicht in die Eigentiimlichkeit Beider griindete?
Man darf wohl sagen: sie kam zu friih, und sie flofi mehr
aus der sittlichen Stimmung, dem Willen und der Ver-
ehrung als aus gesicherter Erkenntnis. Tat man nicht
Beiden Gewalt an, indem man sie einander so nahe riickte,
und gab man nicht wesentliche Gedanken des Christentums
preis, wenn man hier nur "Ubereinstimmungen sehen wollte?
Die abendlandischen Theologen sind es gewesen, die dies
42
Erster Band, erste Abteilung. Reden: TL
erkannt haben, die Lateiner, die durch kein urspriingliches
Band mit Sokrates und dem Griechentum verbunden waren.
Sie haben den Unterschied und Gegensatz zum Ausdruck
gebracht. Aber indem sie das taten, wurden sie in der
Negative ungerecht; denn eine relative und wahrhaft ge-
schichtliche Betrachtung gab es iiberhaupt nocli nicht.
Doch haben es nur zwei unter ihnen, Minucius Felix nnd
Novatian, iiber sich gebracht, den grofien Philosophen als
verfiinrten nnd verfiihrenden Irrgeist, ja als ^attischen
Schalksnarren" einfach beiseite zn schieben. Die beiden
einflufireichsten abendlandischen Apologeten, Tertullian nnd
Lactantins, haben ein widerspruchsvolles Bild des Sokrates
entworfen, in welchem aber die nngiinstigen Ziige weit
iiberwiegen. .
Tertullian raumt in seiner grofien Verteidigungsschriffc
fur das Christentum ein, dafi Sokrates die falschen Gotter
verworfen habe und daC er deshalb verurteilt worden sei.
Daher lafit er ihrn den Titel des Weisesten der Qriechen.
,,Er erkannte etwas von der Wahrheit", sagt er, ,,und ein
gewisser Anhauch derselben hat ihn den Gottern Trotz
bieten lassen." ^In ihm ist die Wahrheit im voraus ver-
dammt worden, und sein Tod ist das grofie Beispiel, dafi
sie zu alien Zeiten den Menschen verhafit gewesen ist."
Auch die Schwurformeln des Sokrates ^beim Hunde und
dem Holze" will Tertullian so deuten, dafi die Gotzen da-
durch verspottet werden sollten. In alien diesen Urteilen,
nur nicht in dem letzten, stimmt Lactantius mit ihm iiber-
ein; er rechnet es aber Sokrates aufierdem noch zu hohem
Lobe, dafi er sich fur das Mcht-Wissen entschieden und
die ganze Philosophie in Ethik verwandelt habe. Aber
damit ist auch das Lob des Philosophen bei beiden Apolo
geten erschopft, und tiefe Schatten verdunkeln es: dieser
Sokrates ist doch ein falscher, ja letztlich ein unsittlicher
Philosoph gewesen; den christlichen Haretikern, nicht der
Kirche, hat er Stoff far ihre Lehren gegeben; er hat die
Sokrates und die alte Kirche. 43
Wahrheit nicht besessen, sondern sie niir gesucht, ja nicht
einmal ernsthaft — mit dem Wunsche sie zn finden —
gesucht; von einem bosen Damon hat er sich leiten lassen;
die Jugend hat er zu abscheulichen Lastern verfiihrt, die
Weibergemeinschaft hat er empfohlen; im Grunde war er
irreligios, denn er verkiindete, dafi das, was iiber uns ist,
uns nichts angehe, und endlich — auch jenen Anhauch
von Wahrheit, der ihn die falschen G-otter verachten lehrte,
hat er in der Todesstunde eingebiifit; denn er liefi dem
Askulap einen Hahn schlachten!
In dem letzten Urteil haben Tertullian und Lactantius
die heiligste Erinnerung der Antike, gleichsam ihr Evan-
gelium, anzutasten gewagt — den sterbenden Sokrates. Die
Seelenstarke , die er in der Todesstunde bewiesen, seine
letzten feeden, das Zeugnis, das er in Wort und Tat fur
den Adel und die Unsterblichkeit der Seele abgelegt, hatten
ihn zum Heiligen des Altertums gemacht. Alles iibrige
von ihm und seiner Lehre war verblafit und vergessen;
niemand achtete darauf; um so heller erstrahlte der Kon-
fessor und der Martyrer. Diesen wagte Tertullian anzu-
greifen und in den Staub zu ziehen, und weshalb? Weil
er in der Todesstunde befohlen hatte, dem Askulap einen
Hahn zu schlachten! Alle griechischen Apologeten sind
schweigend iiber diesen dunklen und peinlichen Punkt hin-
weggegangen; aber auch Tertullian selbst hat gefuhlt, dafi
er die wundervolle Grofie des sterbenden Sokrates nicht
durch den einen Hinweis auf das Hahnenopfer nieder-
reifien konne. Wollte er das Evangelium der Antike ver-
nichten in der Uberzeugung, dafi nicht wahrhaft groB, nicht
rein und heilig gewesen sein konne, wer der Offenbarung
entbehrte und den Damonen noch geopfert hat, so mufite
er Zug um Zug all das Herrliche vernichten, was Plato im
Phadon und sonst von dem sterbenden Sokrates berichtet
hatte. Lange ist er selbst vor dieser furchtbaren Aufgabe
zuriickgeschreckt ; erst in einem seiner letzten Werke hat
44 Erster Band, erste Abteilung. Reden: n.
er sie vollzogen. Die grofle Untersuchung iiber das Wesen
und die Unsterblichkeit der Seele, die wissenschaftlich be-
deutendste Arbeit, die wir aus seiner Feder besitzen, notigte
ihn, sich mit Sokrates anseinanderzusetzen. Wer iiber dieses
Thema sclirieb, muBte zu Plato's Phadon Stellung nehmen,
das war selbstverstandlich; aber Tertullian muflte das erst
recht, da er im Grunde dasselbe iiber die Unsterblichkeit
der Seele zu sagen hatte, was der sterbende Sokrates ge-
lehrt. Wie wird er ihn also ins Unrecht setzen konnen?
Horen wir seine Ausfiihrungen ; mit Bedacht sind sie bereits
im Prologe entwickelt, eroffnen also das Werk:
wlm Kerker des Sokrates wurde iiber den Zustand der
Seele verhandelt. Wenn auch auf den Ort nichts ankommt,
so ist mir dock allem zuvor zweifelhaft, ob die Zeit fur den,
der hier Belehrungen erteilt hat, eine gelegene war. Denn
was sollte wohl die Seele des Sokrates in jenem Augenblick
noch mit Evidenz erkannt haben, da das heilige Schifflein
schon vom Lande abgestofien, der Schierlingsbecher bereits
getrunken und die Seele, wenn es nach der Ordnung der
Natur ging, durch die Nahe des Todes notwendig in eine
gewisse Erregung versetzt war? Wie heiter und ruhig sie
auch gewesen sein mag, wie wenig sie sich auch unter die
weichen Grefuhle der Natur beugen liefl, sie war doch in
Unruhe durch die Anstrengung, nicht unruhig zu werden,
sie war in ihrer Standhaftigkeit erschiittert durch die krampf-
hafte Niederzwingung der Schwache. Weiter, wofiir wird
ein zu Unrecht Verurteilter sonst noch Sinn haben als
Trostgriinde aufzusuchen in Bezug auf die Unbill? Zumal
der Philosoph, dieses vom Ruhm lebende Greschopf! So
gratulierte sich denn Sokrates selbst zu seinem Tode, weil
es besser sei, ungerecht als gerecht verurteilt zu werden,
und, urn seinen Anklagern ihren Triumph zu rauben, de-
monstrierte er die Unsterblichkeit der Seele. Also stammte
die ganze damalige Weisheit des Sokrates aus den An-
Sokrates tmd die alte Kirche. 45
strengungen eines tendenziosen Gleichmuts, nicht aus der
Zuversicht der erlebten Wahrheit. Denn wer kann die
Wahrheit inne werden ohne Gott? wer Gott erkennen ohne
Chris tus? wer Christum linden ohne den heiligen Geist?
Naher liegt es gewifl, bei Sokrates einen ganz anderen Geist
anzunehmen; denn man sagt ja, dafi ihn von Kindheit an
ein Damon begleitet habe. Indes, wenn selbst dieser So
krates, den der pythische Damon als den Weisesten be-
zeichnet, die Unsterblichkeit der Seele bezeugt hat, um wie
viel mehr Gewicht hat das Zeugnis der christlichen Weis-
heit, bei deren Anhauch die ganze Macht der Damonen
zuruckweicht! Sie ist die Weisheit aus der Sphule des
Him m els; sie leugnet kiihn die Gotter dieser Welt; sie
erweist sich nicht als zweideutig durch den Befehl, dem
Askulap einen Hahn zu opfern; sie fiihrt keine neuen
Damonen ein; sie verfuhrt die Jugend nicht, sondern lehrt
sie alles, was keusch und ziichtig ist. "Weil sie so ist,
darum hat sie die ungerechte Verurteilung nicht blofl von
seiten einer Stadt, sondern des ganzen Erdkreises fur die
Wahrheit zu ertragen, fur die Wahrheit, die um so ver-
hafiter ist, je vollkommener sie erscheint. Sie schlurft auch
nicht den Tod in heiterem Feierkleid aus einem Becher,
sondern muC ihn nebst alien Erfindungen der Grausamkeit
am Kreuz und auf dem Scheiterhaufen durchkosten, und
sie stellt in dem viel finstereren Kerker dieser Welt ihre
Untersuchungen iiber die Seele mit ihren Phadonen nach
den Anweisungen Gottes an. Der wahre Lehrmeister der
Seele ist ihr Schopfer. Von ihm allein sollst du lernen,
und wenn nicht von ihm, dann von keinem anderen; denn
wer kann enthiillen, was er bedeckt hat? Dort soil man
fragen, wo man, auch ohne Antwort zu erhalten, am
sichersten geht. Es ist besser, etwas durch Gott nicht zu
wissen, weil er es nicht geoffenbart hat, als durch einen
Menschen zu wissen, weil er iiber wertlose Mutmafiungen
doch nicht hinauskommt. "
4(5 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: EC.
,,Wehe, wehe, du hast sie zerstort, die schone Welt"
so mufl man ausrufen. Und mit welchen Mitteln zer
stort! "Wie kreuzt sich in diesen Ausfiihrungen die Uber-
zeugung von der unerreichten Hohe des Evangeliums mit
abscheulicher Sophistik! Hat Tertullian selbst an diese
pfaffischen Ausfiihrungen geglaubt, war es ihm Ernst mit
dieser Kritik des sterbenden Sokrates? Ja und nein! Ernst
•war es ihm mit seiner Theorie, mit dem Glauben, dafi
die "Wahrheit ausschliefilich in der biblischen Offenbarung
zu finden sei; aber er hat wider sein Wissen und sein Gre-
wissen gezeugt, wenn er dieser Theorie zuliebe die Tat-
sachen beugte und den Sokrates in den Staub zog. Lafit
sich doch unschwer bemerken, dafi bei Tertullian hinter der
ungerechten Verurteilung noch immer eine scheue An-
erkennung unuberwindlich ruht. Der Mann, der einst das
herrliche Biichlein ,5De testimonio animae naturaliter
Christianae" geschrieben hat, vermochte es doch nicht iiber
sich zu bringen, dem Sokrates zum zweitenmal den Schier-
lingsbecher zu reichen. Ein Funke griechischer Auffassung
lebte auch noch in ihm, jener Uberzeugung von der Ein-
heit der geistigen und der religiosen Funktion. Aber —
wenn bereits Sokrates fur die Wahrheit gestorben war, was
blieb for Jesus Christus iibrig? Mit E-echt empfand Ter
tullian, dafi hier etwas viel Hoheres in die Greschichte ein-
getreten sei, aber er vermochte dieser Empfindung nur auf
Kosten des Sokrates Ausdruck zu geben.
Doch — den letzten Schritt hat erst Augustin getan,
und zwar durch seine furchtbare Theorie, dafi alle Tugen-
den der Heiden nur glanzende Laster gewesen seien. Erst
diese Lehre tauchte alles in dunkle ISTacht, was das Alter-
tum Erhabenes und Qrofies hervorgebracht hat. Aber —
wie so oft in der Greschichte — eben wenn eine einseitige
Betrachtung bis zur letzten Spitze durchgefuhrt ist, stellt
sich der Umschlag und der Fortschritt in der Methode der
Erkenntnis ein. Man kann die augustinische Theorie auch
Sokrates und die alte Kirche. 47
als den Anfang der Einsiclit fassen, dafi Religion etwas
Anderes ist als ein Wissen, dafi griechische Philosophie und
Christentum zwei spezinsch verschiedene Grofien sind, dafi
daher jede fur sich zu betrachten und nach verschiedenen
Mafistaben zu wiirdigen ist. Das ist der voile Gregensatz
zu der Meinung der griechischen Apologeten, beide gehorten
einfach zusammen und die eine liefie sich aus der anderen
deuten und erklaren. Wohl gibt es eine letzte Betrachtung,
nach welcher diese Auffassung ein Recht hat, aber zunachst
bildete sie ein starkes Hemmnis fur das Verstandnis beider
Grrofien. Der, welcher sie auseinander gerissen hat, hat
damit, ohne es zu wissen und zu wollen, der Erkenntnis
einen Dienst geleistet. Auf dem abendlandischen Boden,
nicht auf dem griechischen, ist, freilich erst nach Gtaneratio-
nen, die zutreffendere Erkenntnis des Christentums und
auch des Sokrates erwachsen, und heute wissen wir besser,
als es irgend jemand im zweiten Jahrhundert gewufit hat,
was sie trennt und was sie verbindet. Wir nehmen Christus
nicht mehr fur die Philosophie in Anspruch und Sokrates
nicht mehr fur das Christentum; wir erkennen, dafi an die
Hohe des Evangeliums nichts heranreicht; aber doch be-
zeugen wir mit Justin, dafi auch in Sokrates der Logos
gewaltet hat.
Ich bin am Schlusse, aber ein Doppeltes mochte ich
Ihnen, meine Herren Kommilitonen , noch ans Herz legen:
erstlich, was Sie auch studieren mogen, vernachlassigen Sie
die Greschichte nicht, die grofie Greschichte und die Ihrer
Wissenschaft. Glauben Sie nicht, dafi Sie Erkenntnisse
einsammeln konnen, ohne sich mit den Personlichkeiten
innerlich zu beriihren, denen man sie verdankt, und ohne
den Weg zu kennen, auf dem sie gefunden worden sind.
Keine hohere wissenschaftliche Erkenntnis ist eine blofie
Tatsache; eine jede ist einmal erlebt worden, und an dem
Erlebnis haftet ihr Bildungswert. Wer sich damit be-
48 Erster Band, erste Abteilung. Reden: n.
gniigt, nur die Resultate sich anzueignen, gleicht dem
Gartner, der seinen Garten mit abgesehnittenen Blumen
bepflanzt. Sodann aber — erkennen Sie an der G-eschichte
des Sokrates, was den wahrhaft groJBen Mann macht nnd
was von ihm bleibt. Nur der Teil seiner Philosophie ist
geblieben, den er durch die Tat besiegelt hat, alles andere
ist vergessen. Auch an Sie stellt die Wissenschaft, zu der
Sie berufen sind, nicht nur die Anforderung zu forschen
und zu lernen, sondern lebendige Zeugen des Wahren und
Ghiten zu werden, Manner, die da bereit sind, um dieser
Giiter willen jedes Opfer zu bringen. Der Dienst der
Wahrheit ist Gottesdienst, und in diesem Sinne sollen Sie
ihn treiben.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG
REDEN: III
AUGUSTINS KONFESSIONEN
Vortrag
erschienen in 3. Aufl. 1903 bei Alfred Tdpelmann (vormals J. Eicker'sche
Verlagsbuchhandlung) in Griessen.
In der Zeit vom Tode Konstantins bis zur Pliinderung
Roms durch die Vandalen (c. 340 — 450) ist das geistige
Kapital zusammengebracht worden, in welchem sich die
Uberlieferung des Altertums an das Mittelalter darstellt.
Mag man auf die Religion und Theologie, auf die
Wissenschaft und Politik, mag man auf die leitenden Ideen
der mittelalterlichen Menschen iiberhaupt blicken — iiberall
gewahrt man die vollkommene Abhangigkeit von den Er-
kenntnissen, welche in jenem Jahrhundert der Volkerwande-
rung von den Kirchenvatern zusammengestellt worden sind.
Diese Erkenntnisse selbst tragen freilich nicht den
Stempel frischer Produktion; sie sind vielmehr lediglich
eine Auswahl aus einer ungleich reicheren Fulle von Ideen
und lebendigen Kraften.
Nachdem die Kirche im Reiche Konstantins zum Siege
gekommen, suchten ihre Fiihrer sich des allgemeinen gei-
stigen Lebens zu bemachtigen und alles der Herrschafb der
Kirche und ihres Qeistes zu unterwerfen. Die grofie Auf-
gabe, langst schon in Angriff genommen, das Christentum
mit dem Reiche und der antiken Kultur zu verschmelzen,
wurde mit erstaunlicher Schnelligkeit zu Ende gefiihrt.
Jetzt erst wurde der Bund zwischen der christlichen Reli
gion und der antiken Philosophic festgeschlossen. GHinstige
Bedingungen ermoglichten noch einmal einen regen Aus-
tausch zwischen Abendland und Morgenland, zwischen Ro-
mischem und Griechischem. Die lateinische Kirche wurde
mit dem Kapitale griechischer Wissenschaffc ausgestattet,
unmittelbar bevor die grofie Scheidung zwischen dem Osten
4*
52 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
und Westen eintrat. Es 1st, als ob man das drohende Ver-
hangnis, die hereinbrechende Naeht der Barbarei, geahnt
hatte. In Eile wurde der feste Ban der Kirche fertig ge-
zimmert. In die Dogmatik zog man hinein, was man aus
der griechischen Philosophic brauchen zu konnen meinte;
alles ubrige wurde als gefahrlich oder als haretisch zuriick-
gestellt und so allmahlich beseitigt. Die Verfassung der
Kirche erganzte man aus den erprobten Formen der Reichs-
verfassung; in der kirchlichen Rechtsbildung folgte man
dem romischen Recht. Die Grottesdienstordnung wurde
revidiert und weiter ausgefuhrt: was an den alten heid-
nischen Mysterien imponierend und ekrwiirdig erschien, hatte
man schon langst nachgeakmt ; nun wurde alles noch prunk-
voller. Es bildete sich. jenes feierliche Greprange, die wunder-
bare Vereinigung ernabener G-edanken mit zeremoniosen
Formen, welche den katholischen Grottesdienst noch. heute
so eindrucksvoll macht. Auch die Kunst wurde nicht ver-
gessen: wenige, aber hochst bedeutende und bildungsfahige
Motive wurden der Uberlieferung entnommen und mit dem
Schimmer des Heiligen iiberkleidet. Selbst der literarische
Bildungsstoff, die Unterhaltungslektiire, wurde fur die kom-
menden Jahrhunderte zubereitet. Die alten heidnischen
Fabeln, Heroengeschichten und ISTovellen wurden gesichtet
und in christliche Heiligengeschichten umgewandelt. Uber-
all wurde hier das asketische Ideal der Kirche zugrunde ge-
legt. Aber der Kontrast zu dem bunten und siindigen Leben,
in welchem man dieses Ideal erproben liefi, gab den alten
Geschichten in der neuen Form einen besonderen Reiz.
So machte man alles, was man der Antike entnahm,
j.christlich". Es erhielt durch die Verbindung mit dem
Heiligen die Gewahr der Dauer. Der Rest der alten Kultur,
auf diese "Weise der Kirche einverleibt, war nun fahig, den
kommenden Stiirmen zu trotzen und kommenden Nationen
zu dienen.
Allein es war wirklich nur ein Rest, eine diirftige Aus-
Augustins Konfessionen. 53
wahl aus dem Bestande einer untergehenden Welt, durch
die Autoritat des Heiligen geschiitzt, zwar nicht ohne innere
Einheit, aber zunachst ohne Triebkraft und fortschreitende
Bewegung.
Das Abendland 1st im Mittelalter niehr als sieben Jahr-
hunderte lang — von dem Urwiiehsigen abgesehen, was die
Germanen hinzubrachten — auf diesen Besitz beschrankt
geblieben; aber daneben hatte es dock einen Schatz von
unvergleichlicher Fulle, einen Mann, der am Schlufi der
alten Zeit gelebt und sein Leben iiber die folgenden Jahr-
hunderte ausgeschuttet hat — Angus tin.
Zwischen Paulus, dem Apostel, und Luther, dem Re-
formator, hat die christliche Kirche niemanden besessen,
der sich mit Augustin messen konnte, und an umfassender
Wirkung kommt ihm kein anderer gleich. Wenn wir mit
Recht im Mittelalter und heute noch den Geist des Abend-
lands von dem Q-eist des Morgenlands unterscheiden und
an jenem Leben und Bewegung, die Spannungen machtiger
Kraffce, wertvolle Probleme und grofle Ziele bemerken, so
verdankt die Kirche des Abendlandes diese ihre Eigenart
nicht zum mindesten dem einen Mann, Augustin. Er ist
mit der Kirche, welcher er gedient hat, durch die Jahr-
hunderte geschritten. Ihn findet man wieder in den grofien
Theologen des Mittelalters bis zu dem grofiten hin, Thomas
von Aquino. Sein Geist waltet in den Frommen und in
den Mystikern des Mittelalters, in dem heiligen Bernhard
nicht minder als in Thomas a Kempis. Er beseelt die kirch-
lichen Reformer des Miirtelalters, die Reformer der karolin-
gischen Epoche ebenso wie einen Wiclif, Hus, Wesel und
Wessel, und andererseits ist es doch derselbe Mann, der
hochstrebenden Papsten das Ideal eines Gottesstaates zur
Verwirklichung auf Erden vorgezeichnet hat.
Doch das alles mag uns heutzutage ziemlich fremd
sein: unsere Kultur ist, sagt man, aus der Renaissance und
der Reformation geboren. Nun denn — Augustins Geist
54 Erster Band, erste Abteilung. Reden: HI.
hat liber den Anfangen beider gewaltet. Petrarca und die
groBen Meister der Renaissance haben sich an Augustin ge-
bildet, und Luther ist ohne ihn nicht zn verstehen : Augustin,
der Vater des romischen Katholizismus , ist zugleich der
einzige Kirchenvater, von dem Luther wirklich gelernt hat
und den die Humanisten wie einen Heros verehrten.
Aber Augustin steht uns noch viel naher. Die reli
giose Sprache, welche wir sprechen, die uns vertraut ist aus
den Liedern, Gebeten und Erbauungsbiichern , tragt den
Stempel seines G-eistes. Wir reden, ohne es zu wissen, noch
mit seinen Worten, und die tiefsten Empfindungen aus-
zusprechen, der Dialektik des Herzens Worte zu verleihen,
hat er zuerst gelehrt. Ich meine hier nicht, was man die
Sprache Zions nennt — auch an dieser ist er beteiligt, aber
in geringem MaJBe. Nein, die Sprache der schlichten From-
migkeit und des gewaltigen christlichen Pathos, und wieder-
um die Sprache unserer Psychologen und Padagogen ist
noch eben von ihm beeinfluBt. Hunderte von groBen Mei-
stern sind uns seitdem geschenkt worden; sie haben unsere
Gredanken bestimmt, unsere Empfindungen erwarmt, unsere
Sprache bereichert; aber keiner hat ihn verdrangt.
Endlich - - die Hauptsache — wie er das Wesen der
Religion und die tiefsten Probleme des Sittlichen beschrieben
hat, darin finden wir so viel treffende Beobachtung und
Wahrheit, daJS wir ihn noch immer als unseren Lehrer zu
verehren haben, und das Gredachtnis an ihn vermag bis zu
einem gewissen Grade auch heute noch Protestanten und
Katholiken zu einigen.
Ich habe mir nicht die Aufgabe gestellt, Ihnen ein
Bild von der Wirksamkeit und dem Einflufi dieses Mannes
zu entwerfen; schildern mochte ich ihn vielmehr lediglich
nach dem "Werke, in welchem er sich selbst geschildert
hat, nach seinen Konfessionen, dem eigentiimlichsten Buche
aus der grofien Anzahl von Schriften, die er uns hinter-
lassen hat.
Augustins Konfessionen. 55
Augustin hat dieses Werk in reifen Jahren — er zahlte
damals sechsundvierzig — geschrieben; zwolf Jahre waren
bereits verflossen seit seiner Tanfe in Mailand. Er war
schon seit langerer Zeit Bischof von Hippo in Nordafrika,
als er sich getrieben fuhlte, in der Form einer Beichte vor
Grott, sich und der Welt Rechenschaft zu geben von seinem
Leben bis zu seiner Taufe, damit, wie er sagt, ,,Grott ge-
priesen wiirde". ,,Er hat uns geschaffen, wir aber hatten
uns zugrunde gerichtet; der uns aber geschaffen, hat uns
auch neu geschaffen." nlch erzahle es dem Menschenge-
schlecht, ein wie unbedeutender Teil desselben meine Sclirift
auch lesen wird, damit ich und jeder, der dieses liest, daran
denke, aus wie grofier Tiefe man zu Grott rufen miisse."
Am Ende seines Lebens, dreifiig Jahre spater, hat er auf
dieses Werk zuriickgeblickt. Er nennt es dasjenige seiner
Biicher, welches am liebsten und am meisten gelesen werde.
Er tadelt selbst einige Ausfuhrungen in ihm; aber als
Ganzes hat er es auch angesichts des Todes als ein Zeug-
nis der Wahrheit bezeichnet. Es sollte eben nicht Dichtung
und Wahrheit enthalten, sondern offen und ohne Hehl
wollte er in dem Buche zeigen, wie er gewesen.
Die Bedeutung der Konfessionen ist ebenso groB nach
seiten der Form, wie nach seiten des Inhalts. Vor allem
sind sie eine literarische Tat gewesen. Kein Dichter, kein
Philosoph hat vor ihm das unternommen, was er hier ge-
leistet hat, und, darf ich gleich hinzufugen, fast ein Jahr-
tausend muCte vergehen, bis wieder ahnliches geleistet
worden ist. Erst die Poeten der Renaissance, die sich an
ihm gebildet, haben an ihm den Mut gewonnen, sich selbst
zu schildern und ihr Ich der Welt zu bieten. Denn was
enthalten die Konfessionen Augustins? ein Seelengemalde,
nicht psychologische Abhandlungen uber Verstand, Wille
und G-efuhl im Menschen, nicht abstrakte Untersuchungen
iiber die Seele, nicht obernachlich.es Rasonnement und mora-
lisierende Selbstbespiegelung wie die Tagebuchblatter Marc
56 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: Id.
Aurels, sondern die genaueste Schilderung eines bestimmten
Menschen, eines Individuums in seiner Entwickelung von
der Kindheit bis zum Mannesalter in alien seinen Trieben,
Grefiihlen, Zielen und Irrungen, ein Seelengemalde, mit einer
ausbiindigen Kunst der Beobachtung gezeichnet, welche
die gewohnlichen Hiilsen und Schablonen der Psychologie
beiseite lafit und der Methode des Physiologen und Arztes
fblgt.
Die Beobachtung ist die Starke Augustins. Weil er be
obachtet, darum interessiert inn alles, was die ziinffcigen
Philosophen beiseite gelassen. Er schildert das Kind in
der Wiege, die Unarten des Sauglings, und er reflektiert
iiber die ,,kmdliche Unschuld". Er beobachtet die Anfange
des Sprechens, und zeigt, wie die Sprache sich langsam aus
dem Nachahmungstriebe bildet. Er stent bei den Spielen
der Kinder und sieht in dem Kind den Erwachsenen , in
dem Erwachsenen das Kind. Er hort voll Teilnahme die
ersten Seufzer des Knaben, der lernen mufi. Er begleitet
ihn, wie er hinaustritt in die Schule und damit hinein-
gestofien wird in den Strom der menschlichen Gresellscliaft.
Er beobachtet die herrschende Erziehungsmethode, wie sie
auf Furcht und Ehrgeiz ruht. Er bemitleidet die Jugend
der toten und unwahren Stoffe wegen, die sie lernen muiL
Er meint, dafi man nur lernen soil, was wahr ist, und dafi
Grammatik besser sei als Mythologie, Physik besser als
luftige Spekulation. Dann beobachtet er das geschaftige
Treiben der Erwachsenen: ndie Possen der Kinder nennt
man bei Erwachsenen Greschafte". Er beurteilt die Gresell-
schaft; er findet, dafi ein jeder in ihr nach GHitern strebt
und dafi Bosheit fur niemanden ein Zweck ist; aber er
findet andererseits , dafi der, welcher sein Herz nicht auf
das Ghite richtet, von Stufe zu Stufe zu nichtigeren GHitern
hinabsinkt, und dafi man einen um so grofieren "Widerwillen
gegen das Grute und Heilige empfindet, je langer man es
entbehrt. Er beobachtet den Reiz und die Ansteckungs-
Augustins Konfessionen. 57
kraft des gesellschaftlichen Bosen: ,,0 Freundschaft, arger
als die groflte Feindschaft, unergriindliche Seelenverfiihrung!
Blofl well es heiflt: ,Komm, tun wir dies' — und man
schamt sich, nicht unverschamt zu sein." Er deckt die
Abhangigkeit des Einzelnen von dem Urteil der anderen
au£: jeder glaubt zu schieben und wird nur immer tiefer
hinabgestofien. Er faflt den Einzelnen iiberhaupt nicht als
ein freies, sein selbst machtiges Individuum, sondern als ein
Grlied in einer ungeheuren Verkettung: wir tragen die Kette
unserer Sterblichkeit und sind an die Gresellschaft gekettet.
Er beobachtet den vergniigten Bettler und sinnt fiber ihn
nach; er gibt eine kostliche Schilderung von dem Ansehen
und der Hohlheit eines beruhmten Lehrers. Er schildert die
Professoren und die Studenten, den geschaftigen, tandeln-
den und reizvollen Verkehr zwischen befreundeten Berufs-
genossen; nirgendwo entgeht ihm das Charakteristische.
Aber iiber das Alles: er beobachtet die geheimsten Re-
gungen seines eigenen Herzens; er folgt dem zarten Weben
und dem machtigen Wogen seiner Gefuhle. Er kennt
alle Ausniichte und Schleichwege, auf welchen der Mensch
seinem Grott und seiner hochsten Bestimmung zu entniehen
strebt.
Uberschlagt man, was und wie damals sonst geschrieben
worden ist, so wird man von staunender Bewunderung er-
griffen angesichts dieser Dichtung der Wahrheit, dieser
literarischen Tat, die nicht ihresgleichen hat. Wohl haben
Anregungen nicht gefehlt. In der Schule der Neuplatoniker
hatte Augustin gelernt, die oden Steppen aristotelischer
und stoischer Psychologie zu fliehen und auf Gemut und
Charakter, Trieb und Willen zu achten. Dazu — ein
grofier Lehrer, sein Lehrer, Ambrosius von Mailand, hatte
ihn in eine neue Welt der Empfindung und Beobachtung
eingefuhrt. Aber seine Konfessionen sind doch ganz sein
Eigentum. Kein Vorganger bedroht die Originalitat dieses
Unternehmens. Wohl hat man gesagt, dafi dem Werke
58 Erster Band, erste Abteilung. Keden: III.
ein pathologischer Zug anhafte: er habe in dem tranen-
feuchten Buche sein Herz zur Schaubiihne gemacht. Es
ist richtig, dafi er in manchen Ausfuhrungen uns iiberspannt
und ungesund, sogar unwahr erscheint; allein bedenkt man,
daB er im Zeitalter eines tiefgesunkenen Greschmacks und
einer verlogenen Rhetorik geschrieben hat, so darf man
sich billig dariiber wundern, dafl er sich so machtig iiber
die Unsitten der Zeit erhoben hat.
Wie das Unternehmen Augustins neu gewesen ist, so
war auch die Ausfuhrung und die Sprache neu. Nicht nur
die Kraft seiner Beobachtung ist bewunderungswiirdig,
sondern ebensosehr die Kraft seiner Darstellung. In der
Sprache der Konfessionen tritt uns eine unerschopflich
reiche Individuality entgegen, welche zugleich den mach-
tigen Trieb und die Fahigkeit besitzt, das zu sagen, was
sie empfindet. Groethe lafit seinen Tasso das schmerzliche
und stolze "Wort sprechen: ,,Und wenn der Mensch in seiner
Qual verstummt, gab mir ein Grott zu sagen, wie ich leide."
Das gilt auch von Augustin. Aber nicht nur von seinem
Leiden vermochte er zu sprechen, sondern ihm war es ge-
geben, jeder Bewegung seines Herzens in Worten zu folgen
und vor allem dem frommen Gemiite, dem Verkehre mit
Grott, Sprache zu verleihen. Von der Macht der Siinde
und der Seligkeit des Herzens, welches Grott anhangt, hat
er so reden konnen, dafi auch heute noch jedes zarte Gre-
miit diese Sprache verstehen mufi. So haben vor ihm nur
die Sanger der Psalmen und Paulus geredet; bei ihnen ist
Augustin, der Schiller der Rhetoren, in die Schule ge-
gangen. So ist die Sprache der Konfessionen entstanden.
Es ist nicht schwer, sie in ihre Bestandteile zu zerlegen,
das biblische und das rhetorisch-antike Element in ihr zu
unterscheiden, auch manches Gresuchte und Altertiimelnde
- frostige Wortspiele und Redekiinsteleien — im einzelnen
nachzuweisen. Allein das, was uns jetzt fremd, hie und
da sogar peinlich beriihrt, wird reichlich aufgewogen durch
Angustins Konfessionen. 59
die hochsten Vorziige. Bewundernswert 1st vor allem die
Benutzung von Spriichen und Begriffen der heiligen Schrift.
Durch den Zusammenhang , in die er sie zu stellen weiB,
verleiht er dem unscheinbarsten "Wort etwas Frappierendes
oder Erschiitterndes. In der groflen schriftstellerisclien
Kunst, einem allgemein bekannten Spruch die wirksamste
Fassung zu geben, hat ihn kein anderer erreicht. Wunder-
bar ist auch sein Vermogen in kurzen Sentenzen und Anti-
thesen, in pragnanten Satzen und neuen Begriffsbildungen
die Erscheinungen des Lebens und die Ratsel der Seele
zusammenzufassen. Vieles ist aus den Konfessionen in die
Sprache der abendlandischen Volker iibergegangen. Vieles
brauchen wir oder finden es bei unseren grofien Dichtern,
z. B. bei Lessing und G-oethe, wieder, ohne des Urhebers
zu gedenken. ^Die stummen Schwatzer", 7,die siegreiclie
Geschwatzigkeit", wdie betrogenen Betriiger", wdie ver-
fiihrten Verfuhrer", ,,der hoffnungsvolle junge Mann", 7,die
Kette unserer Sterblichkeit", wdie reiche Armut", ^der
schmachvolle Ruhm", ,,das verhafite Greleier", ,,Leben
meines Lebens" und viele ahnliche Bildungen sind von
Augustin gepragt worden oder gehen auf ihn zuriick.
Aber wertvoller sind seine psychologischen Beschreibungen
und seine Sentenzen: ,,Das war mein Leben — war's ein
Leben?" — «Icn wurde mir selbst eine gro.Ce Frage" —
^Ein tiefer Abgrund ist der Mensch" — wDas Wohlbefinden
ist das Merkmal unserer geheimnisvollen Einheit" — j5Ein
jeder hat nur sein Ich" — ,,Jeder ungeordnete Q-eist ist
sich selbst zur Strafe" — 7,Nach unwandelbarem Gresetz
folgt auf jede uneiiaubte Begierde die Verblendung" —
?,Es handelt niemand gut wider seinen "Willen, mag auch
was er tut gut sein". Das sind Einzelheiten ; man konnte
lange mit der Anfuhrung solcher fortfahren. Aber viel
grofier ist er noch in den zusammenhangenden Be
schreibungen. Ein Beispiel unter hunderten: er schildert
sich, wie er sich zu einem kraftigen christlichen Leben er-
(5Q Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
heben will, aber von Weltlust nnd Gewohnheit zuriick-
gehalten wird:
flSo lag die Last der Welt sanft auf mir wie auf einem
Traumenden, und die Gedanken, in denen sich mein Sinnen
Dir, mein Gott, zuwandte, glichen dem Bemiihen derer,
die sich ans dem Schlafe erheben wollen, aber von der
Tiefe des Schlummers iiberwaltigt, immer wieder zuriick-
sinken. Und wenn Du mir zuriefst: Stehe auf, der du
schlafst, so wuflte ich Dir keine andere Antwort zu geben,
als die saumigen nnd traumenden Worte: Gleich, gleich,
lafi mich nur noch ein wenig traumen. Doch das , Grleich,
gleich' nahm kein Ende, und das ,Nur noch ein wenig'
zog sich in die Lange."
Soviel Kunst er auch aufgewendet hat — er hat die
Einheitlichkeit seiner Sprache nicht zerstort; sie ist doch
aus einem Gufl, weil beherrscht von einer geschlossenen
Personlichkeit. Eine Person tritt uns in ihr entgegen, und
wir fiihlen, dafi diese Person iiberall viel reicher ist als ihr
Wort. Das ist der Schliissel zum Verstandnis der fort-
dauernden Wirksamkeit Augustins. Leben entziindet sich
nur an Leben; ein Liebender entflammt den anderen —
das hat er selbst gesagt, und wir diirfen es auf ihn an-
wenden. Er war viel grofier als seine Schriften; denn er
verstand es, durch seine Schriften die Menschen in sein
Leben hineinzuziehen. Und bei aller Weichheit der Em-
pfindung, dem Schmelzen im Gefiihl und der Lyrik der
Sprache ist doch eine erhabene Ruhe liber das ganze Werk
ausgebreitet. Das Motto des Buches: ^Du, Herr, hast uns
auf Dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis
es E,uhe findet in Dir", ist auch das Siegel des Buches
und der Grundton in seiner Sprache. Keine Angst und
keine Bitterkeit stort mehr den Leser, ob gleich es eine
Geschichte der Not und inneren Sorge ist, die es schildert.
rDie Furcht ist das Bose", sagt Augustin einmal; er aber
redet mit dem groUen Gott wie mit einem Freunde ohne
Augustins Konfessionen. (Jl
Furcht. Problematisch.es an dem Laufe der Welt, an dem
Menschen, an sich selber erblickt er noch iiberall; aber die
Probleme bedriicken ihn nicht mekr; denn er vertraut, dafl
Qott in seiner Weisheit alles geordnet hat. Wolken des
Schmerzes und der Tranen umgeben ihn noch; aber seine
Grrundstimmung ist frei. So darf man den Eindruck,
welchen das Buch hinterlafit, mit dem Eindruck vergleichen,
den wir erhalten, wenn nach einem dunklen Regentage
die Sonne zuletzt noch siegt und ein milder Strahl das be-
feuchtete Land verklart.
Aber die wunderbare Form nnd der Zauber der Sprache
des Buches sind doch nicht das wichtigste. Der Inhalt ist
es, die Greschichte, die es uns erzahlt. Auf auflere Tatsachen
gesehen ist das Buch allerdings arm. Es schildert das Leben
eines Gelehrten, der unter Verhaltnissen, wie sie fur jene
Zeit normal waren, aufgewachsen ist, der mit widrigem Gre-
schick und auCerer Not nicht zu kampfen gehabt hat, der
die mannigfaltige Weisheit seiner Zeit aufnimmt, einen
offentlichen Beruf ergreift, um schliefilich skeptisch und
unbefriedigt sich einem heiligen Leben der Entsagung, der
theologischen Wissenschaft und — der festen Autoritat der
Kirche hinzugeben. Das war ein Entwicklungsgang, wie
ihn nicht wenige Zeitgenossen Augustins durchgemacht
haben. Frommigkeit und ernster wissenschaftlicher Sinn
fanden damals iiberhaupt keinen anderen Ausweg. Durch
diese Auffassung der Greschichte Augustins ist ein weitver-
breitetes Vorurteil beseitigt, an dem er selbst freilich nicht
ganz unschuldig ist. In weiten Kreisen herrscht die Vor-
stellung, die Konfessionen schilderten uns einen verlorenen
Sohn, einen Mann, der nach einem wilden, ausschweifenden
Leben plotzlich in sich geht und Bufie tut, oder sie zeich-
neten uns das Bild eines Heiden, der nach einem Laster-
leben plotzlich von der Wahrheit der christlichen Religion
ergriffen wird. Nichts ist unrichtiger als diese Vorstellung.
Die Konfessionen schildern uns vielmehr einen Mann, der
62 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
von Jugend auf von einer treuen Mutter christlich d. h.
katholisch erzogen 1st, der aber zugleich von Jugend auf
dureh seinen Vater und durch den Bildungsgang, in den
er hineingestellt 1st, die Richtung auf die hochsten welt-
lichen Ziele empfangen hat. Sie schildern uns einen Mann,
dem sich der Name Christi von Kind auf unausloschlich
eingepragt hat, der aber, sobald er zu selbstandigem Denken
erwacht ist, stets von dem Motive beseelt gewesen ist, die
Wahrheit zu suchen. Er wird in diesem Streben, wie wir
Alle, niedergehalten, durch Ehrgeiz, Weltsinn und Sinnlich-
keit; aber er kampft unablassig wider sie an; er gewinnt
endlich den Sieg iiber sich selber, aber er bringt zugleich
dabei sein freies Streben der Autoritat der Kirche zum
Opfer, weil er in der Verkiindigung dieser Kirche die Kraft
erfahren hat, mit der Welt zu brechen und G-ott anzuhangen.
In seinem auBeren Leben stellt sich das als ein Bruch mit
seiner Vergangenheit dar, und so hat er es selbst geschil-
dert: er sieht nur einen Kontrast zwischen dem Einst und
dem Jetzt. Aber in seinem inneren Leben erscheint uns
trotz seiner eigenen Darstellung alles in verstandlicher Ent-
wickelung. "Wir verstehen aber auch, dafi er selbst nicht
anders fiber sich urteilen konnte; denn niemand, der von
innerer Unruhe zur R/uhe, von der Knechtschaft der Welt
zur Freiheit in G-ott und zur Herrschaft iiber sich selbst
gelangt ist, wird riickwarts schauend die Pfade, die er ge-
wandelt, den Weg der Wahrheit nennen konnen. Aber die
Mit- und Nachwelt darf anders urteilen, und in diesem Fall
ist es ihr besonders leicht gemacht; denn der Mann, der
hier zu uns spricht, mufi in seinem Buche wider seinen
Willen Zeugnis da von ablegen, dafi er vor seiner Bekehrung
unablassig nach Wahrheit und nach sittlicher Kraft gestrebt
hat, und andererseits zeigen die zahlreichen Schriften, die
er unmittelbar nach dem Bruche geschrieben hat, dafi dieser
keineswegs so vollkommen war, wie ihn die Konfessionen
darstellen. Sie sind zwolf Jahre nach dem grofien Um-
Augustins Konfessionen. 63
schwung geschrieben. Vieles von dem, was erst wahrend
dieser Zeit in Augustin zur Reife gekommen 1st, hat er
unbewuflt in den Moment des Umschwungs versetzt. Da-
mals war er noch kein kirchlicher Theologe, vielmehr lebte
er trotz der Entschlossenheit, sich der Kirche zu unter-
werfen, noch ganz und gar in den philosophischen Pro-
blemen. Der grofie Bruch bezog sich lediglich auf den
aufieren Beruf und auf die geschlechtliche Entsagung, nicht
auf den bisherigen Kreis seiner Interessen. So ist es nicht
schwer, Augustin aus Augustin zu widerlegen und zu
zeigen, dafi er in den Konfessionen sehr vieles antizipiert
hat. Aber im letzten Grrunde hatte er ein Recht dazu;
denn sein Leben hatte wirklich nur zwei Perioden — die
eine, die er mit den Worten schildert: j,In der Zerstreuung
zerfiel ich stiickweise und verlor mich selbst in das Viele"r
und die andere, in welcher er Kraft und Einheit seines
Wesens in G-ott gefunden hat.
Die Schilderung jener ersten Periode liegt in seinen
Konfessionen vor. Man hat sie vielfach mit den Konfes-
sions Rousseaus und mit Hamanns Bekenntnissen ver-
glichen; allein diese sind anderer Art. Ich wufite die Kon
fessionen trotz der durchgreifendsten Verschiedenheiten
doch mit keinem anderen Werke zusammenzustellen als
mit G-oethes Faust. In den Konfessionen tritt uns ein
lebendiger Faust entgegen, der freilich einen anderen Aus-
gang nimmt als der Faust der Dichtung. Aber beide sind
doch in vieler Hinsicht wahlverwandt. Alle die schmerz-
lichen Bekenntnisse aus den ersten Szenen des Faust von
dem ,,Habe nun — ach — Philosophic" an bis zu dem
Entschlufi des Selbstmordes : nJa kehre nur der holden
Erdensonne entschlossen deinen Riicken zu" — man findet
sie in den Konfessionen wieder. Herzbewegend ruft
Augustin immer wieder aus: ,,0 Wahrheit, Wahrheit, wie
innig seufzt das Mark meiner Seele nach dir." Wie oft
klagt er, dafi er trotz des ,,Durchaus Studierens mit heifiem
64 Erster Band, erste Abteilung. Reden: III.
Bemuhen" nicht kliiger geworden sei als wie zuvor. Wie
oft bemitleidet er seine Schiller, dafi er, ein trunkener
Lehrer, ilinen den Wein des Irrtums gereicht habe. Wie
schmerzlich kommt auch uber seine Lippen das Bekenntnis:
wUnd sehe, dafi wir nichts wissen konnen, das will mir
sehier das Herz verbrennen." wEs mochte kein Hnnd so
langer leben", sagt Faust, und Augustin beneidet mit dem
grimmigsten Neide einen verlumpten, aber frohlichen Bettler.
Auch er ergibt sich der Magie, wob ihun durch Geistes Ejraffc
nnd Mund nicht manch' G-eheimnis wiirde kund", nnd anch
in seiner Seele steigt verlockend die dunkle Frage anf:
^Wie, wenn der Tod mit der Empfindung zugleich. alle
Sorgen besehnitte und hinwegnehme?"
Aber selbst der Ausgang, den Goethe seiner Dichtung
gegeben, die Art der Befreiung, ist nicht ganz ohne Grleich-
nis. Faust wird durch die himmlische Liebe erlost:
Steigt hinan zu hOhrem Kreise,
Wachset immer unvermerkt,
Wie nach ewig reiner Weise
Gottes Gegenwart verstarkt!
Denn das ist der Geister Nahrung,
Die im freisten Ather waltet,
Ewgen Liebens Offenbarung,
Die zur Seligkeit entfaltet.
Und:
Wie strack mit eignem kraftgen Triebe
Der Stamm sich in die Liifte tragt,
So ist es die allmacht'ge Liebe,
Die alles bildet, alles hegt.
Das ist ganz im Sinne Augustins, und auf augusti-
nischer Anschauung ruht iiberhaupt letztlich der Gedanken-
inhalt der wunderbaren SchluBszene des zweiten Teils des
Faust, obgleich sich Goethe dessen nicht bewufit gewesen
ist; denn Goethe hat Augustin selbst schwerlich gekannt,
sondern beriihrte sich mit ihm nur durch Vennittelungeru
DaB in dieser Welt der Irrung und des Scheins die Liebe,
Augustins Konfessionen. 65
die gottliche Liebe, allein Kraft und Wahrheit 1st, daB sie
allein, indem sie bindet, befreit und beseligt — das ist der
positive Grundgedanke der Konfessionen und der meisten
Schriften, die Augustin spater geschrieben hat. Die Q-e-
rechtigkeit, die vor Grott gilt, ist die Liebe, mit der uns
G-ott erfullt, und darum ist die anfangende Liebe (Ge-
rechtigkeit) die anfangende Seligkeit, die wachsende Liebe
die wachsende Seligkeit, die vollendete Liebe die vollendete
Seligkeit. Das ist die Erkenntnis, zu welcher der ringende
Philosoph gelangt ist, nachdem er sonst nirgends Ruhe
und Frieden gefunden hat.
Dennoch liegt eine gewaltige Klufb zwischen dem Faust
der Dichtung und diesem wahrhaftigen Faust. Jener steht
in all seinen Kampfen mit festem Fufi auf dieser Erde.
Der Q-ott, der iTin dem Teufel zeitweilig iiberlassen, ist nicht
das Q-ut, um dessen Besitz er ringt; der innere Kampf mit
der eigenen Not und Siinde ist kaum angedeutet. Fiir
Augustin dagegen ist der Kampf um die "Wahrheit der
Kampf um ein uberweltlich.es Ghit, um das Heilige und Ghite
— der Kampf um G-ott. Darum hat auch der Schlufi des
Faust etwas Befremdliches ; man ist auf diese "Wendung
keineswegs gefafit. Bed Augustin ergibt sich der Schlufi
mit einer inneren Notwendigkeit. Seine Irrwege erweisen
sich wirklich als der Weg, auf dem er gerade zu diesem
Ziele, zu der Beseligung durch die gottliche Liebe, gefohrt
worden ist.
Lassen Sie mich diese Wege mit einigen Strichen zeich-
nen. Sie sind auch deshalb interessant, weil sie fiir die
Zeit Augustins typisch sind. Mit alien groflen geistigen
Machten des Zeitalters ist er in die innigste Verbindung ge-
treten. Sein Ich war wirklich erweitert zum Ich der da-
maligen Welt, und darum zeigt uns sein individueller Ent-
wickelungsgang, wie jene Welt damals allmahlich aus dem
Heidentum und der Philosophie zur katholischen Kirche
iibergegangen ist.
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. I. 5
QQ Erster Band, erste Abteilung. Reden: in.
Zu Thagaste, einer Landstadt Nordafrikas , geboren
zeigte Augustin als Knabe nicht glanzende, aber gute An-
lagen. Nachdem er in der Schule seiner Vaterstadt und zu
Madaura gebildet war, brachte sein Vater miihsam die Mittel
auf, um ihn in Karthago studieren zu lassen. Der Vater
war ein biirgerlich rechtschaifener, aber schwacher und in
seinem Privatleben nicht vorwurfsfreier Mann, der fur den
Sohn kein hoheres Ziel kannte, als eine glanzende Laufbahn.
Er war noch Heide, aber die Mutter Augustins war Christin.
Dieses Verhaltnis war in der Mitte des 4. Jahrhunderts
haufig: die Frauen verbreiteten in der Familie das Christen-
tum. Seiner Mutter hat Augustin in den Konfessionen, aber
auch sonst in seinen Schriften, ein schones Denkmal gesetzt.
Er erzahlt, wie sie ihn beten gelehrt habe, und mit Leiden-
schaft ergriff das Kind die miitterlichen Lehren: oft habe
ich G-ott innig gebeten, dafi ich in der Schule keine Schlage
bekomme. Er erinnert sich noch als Mann, wie er als fieber-
kranker Knabe sturmisch die Taufe begehrt habe, und Eines
1st ihm von der Kinderzeit her unausloschlich auf alien
seinen "Wegen geblieben — die Verehrung Christi. Immer
wieder berichtet er in den Konfessionen, dafi ihn alle Weis-
heit von vornherein unbefriedigt gelassen habe, die nicht
mit dem Namen Christi irgendwie verkniipft war. So sind
die Jugenderinnerungen dem Manne von hochster Bedeu-
tung geworden. Faust sagt:
Sonst stiirzte sich der Himmelsliebe KuO
Auf mich herab in ernster Sabbathstille ;
Da klang so ahnungsvoll des G-lockentones Flille,
Und ein Gebet war briinstiger GenuB.
Wie oft, wie wunderbar variiert klingt derselbe Q-edanke
in Augustins Konfessionen wieder!
Bis zum siebzehnten Jahre iiberwogen Phantasie und
jugendliche Lust in dem Knaben. Er hatte anfangs wenig
Geschmack am Lernen, obgleich er alles mit Leichtigkeit
iiberwand; er hatte nur Lust zu Spiel und Scherzen mit
Augustins Konfessionen. 67
den Freunden. Friihzeitig geriet er auch zum Rummer der
Mutter in die Siinden der Jugend, die weder der Vater
noch die Q-esellschaft als Siinden beurteilte. Da, in Kar-
thago, fiel ihm eine Schrift Ciceros, der Hortensius, in die
Hand, und von diesem Moment rechnet er selbst den An-
fang eines neuen hoheren Strebens. Wir besitzen diese
Schrift Ciceros nicht mehr, aber wir konnen uns den
Greist derselben nach den ubrigen Werken des Mannes
deutlich machen. Ein hoher sittlicher Schwung, ein ernstes
Interesse an der Wahrheitserkenntnis , aber auf unsicherer
Grundlage, mehr anregend als festigend, wohl geeignet,
ein jugendliches G-emut von dem hohlen und wilden studen-
tischen Treiben zur Einkehr und zur Betrachtung der hoch-
sten Fragen zu bewegen. Das leistete das Buch dem
Augustin wirklich; er trennte sich nun von den guten
Kameraden, um mit aller Hingebung die Wahrheit zu er-
forschen. Allein von seiner sinnlichen Lust trennte inn
das Buch nicht, und bald sah er sich einer Belehrung ent-
wachsen, die seinen Verstand nicht befriedigte, sein religi-
oses Gremut leer liefl und ihrn die Kraft der Selbstbe-
herrschung nicht verlieh. Er hatte Cicero, den Philosophen
und Moralisten, kennen gelernt und war nicht besser ge-
worden als wie zuvor. Aber was Cicero ihm geleistet, den
tlbergang aus einem nichtigen und tandelnden Leben zu
ernster Selbstpriifung und zur Erforschung der Wahrheit,
das haben Moralisten wie Cicero der damaligen Welt iiber-
haupt geleistet. Augustin ist doch von Cicero viel starker
und viel dauernder abhangig geblieben, als er dies in den
Konfessionen wahr haben will. Die fruhesten Schriften,
die er als katholischer Christ geschrieben, beweisen es.
Er wandte sich nun dem Manichaismus zu. Die ma-
nichaische Weisheit iibte damals auf tiefere Gemiiter eine
grofie Anziehung aus. Wer einen Eindruck von dem In-
halt der heiligen Schriften gewonnen hatte, aber doch die
kirchliche Erklarung derselben fur unrichtig hielt und
5*
(53 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
namentlicli iiber die Anstofie nicht Mnwegkommen konnte,
welche das alte Testament hot, wer in der freien Forschung
nicht bevornmndet sein wollte, wer zu erkennen suchte,
was die "Welt im Innersten zusammenhalt, wer aus den
physikalischen Elementen auch den Bau der geistigen Welt
und das Problem des Bosen zu begreifen strebte, der wurde
damals Manichaer. Dazu hatte sich diese Sekte teils aus
Not, teils aus innerem Triebe mit Greheimnissen umgeben,
wie unsere Freimaurer, und sie bildete zugleich in der G-e-
sellschaft einen festen geheimen Ring. Endlich trugen
ihre Mitglieder einen ernsten Lebenswandel zur Schau, und
indem man stufenweise zu immer engeren und hoheren
Kreisen aufstieg, sah man sich am Ziele in einer Gresell-
schaft von HeiHgen und Erlosern. In diese G-emeinschaft
trat Augustin ein und hat ihr neun Jahre (bis zu seinem
28. Lebensjahr) angehort. Dafi sie Christus eine hohe Stelle
anwies, dabei aber doch eine verniinftige Losung der Welt-
ratsel ihren Jiingern zusicherte, zog Augustin zu ihr hin.
Heifihungrig sturzte er sich auf diese geistige Nahrung.
Die Ansicht, dafi das Bose wie das Grute physikalische Po-
tenzen seien, dafi der Kampf in der Menschenbrust nur
die Fortsetzung des grofien Kampfes zwischen Licht und
Finsternis, Sonne und Nebel in der Natur sei, erschien ihm
tief und befriedigend. Statt seichter moralischer Lehren
trat ihm hier eine tiefsinnige Metaphysik entgegen. Allein
schon nach Verlauf weniger Jahre — er hatte unterdessen
ein Lehramt in Karthago angetreten — wurde er skeptisch.
Zuerst erwies sich ihm die astrologische Weisheit, mit der
er es auch versucht hatte, als Schwindel. Dann war es
das Studium des Aristo teles, welches ihn in Bezug auf die
manichaische Physik erniichterte. Sein klarer Verstand
fing an einzusehen, dafi die ganze manichaische "Weisheit
auf physikalischer Mythologie beruhe. Die angeborene
Richtung seines Qeistes auf das Empirische und Eeale ge-
wann den Sieg, nachdem ihr Aristoteles, der grofie Natur-
Augustins Konfessionen. 69
forscher und Logiker des Altertums, zu Hilfe gekommen
war. Er hat den Augustin, wie viele vor ihm und nach
ihm, zu niichternem Denken zuruckgefuhrt. Die manicha-
ischen Fabeln offenbarten sich ihm nun als die schlimmsten
Fabeln, weil ihnen schlechterdings nichts in der Welt des
Wirkliehen entspricht. Er aber suchte nach dem Wirk-
lichen und hielt vor seinen Bundesbriidern mit seinen auf-
steigenden Zweifeln nicht zuriick. Damals lebte in Rom
ein hochberuhmter manichaischer Lehrer, Faustus. Mit
ihm vertrosteten ihn die Freunde, wenn sie die Zweifel-
fragen, die er ihnen vorhielt, nicht zu losen vermochten:
^Faustus wird sie losen; Faustus wird kommen und alles
erklaren" — so hiefl es. Und Augustin liefl sich lange
vertrosten. Endlich kam Faustus wirklich. Es ist der
einzige Abschnitt in den Konfessionen, uber dem ein Hauch
von Humor liegt, die Schilderung des hochgepriesenen
Faustus, des vollkommenen Salonprofessors, der aber doch
ehrlich genug war, schliefilich unter vier Augen die eigene
Unwissenheit einzugestehen. Seitdem war Augustin mit
dem Manichaismus innerlich fertig.
Aber was nun? Aristoteles war wohl ein Befreier,
aber kein Lehrer in den Fragen, auf die Augustin Ant-
wort suchte. Jetzt naherte er sich wieder der Kirche.
Aber sie verbot die freie Forschung; sie hielt die Fabeln
des alten Testaments aufrecht; sie lehrte, wie Augustin
meinte, einen Qott mit Augen und Ohren und machte ihn
zum Schopfer des Bosen. Sie konnte unmoglich die Wahr-
heit besitzen. Also gibt es iiberhaupt keine Wahrheit;
man mufi an allem zweifeln. Diese Stimmung beherrschte
jetzt seine Seele, und er nahrte sie durch Lektiire der
Schriften skeptischer Philosophen. Er suchte nach einer
fertigen Wahrheit und wollte doch den rastlosen Trieb nach
Wahrheit nicht ersticken. Kein Wunder, dafi er in den
Skeptizismus geriet; er fuhlte sich im tiefsten arm und
haltlos. Dazu kam, dafi er langst an sich die Anforde-
7Q Erster Band, ersto Abteilung. Beden: III.
rungen gestellt hatte, alles Unsittliche abzutun und sich
in voller Selbstbeherrschung zusammenzufassen. Das ge-
lang ilim in vieler Hinsicht, wie er selbst widerwillig be-
zeugen mufl: den gewohnlichen Tandeleien und Eitelkeiten,
den Theatern und Spielen, hatte er Valet gesagt und war
ein gewissenhafter Lehrer. Aber um Ruhm und Ehre bei
den Menschen war es ihm noch zu tun, und vor allem ver-
mochte er sich aus einem Verhaltnisse nicht zu befreien,
welches er selbst bereits als ein unsittliches beurteilte, ob-
gleich es die Sitte der Zeit nicht wider sich hatte. Er
aber empfand von diesem einen Punkte her einen tiefen
Eifi und eine Spaltung in seinem "Wesen. Er sah sich
von dem Q-uten und Heiligen, von Grott, entfernt; er sah
sich mit der Welt und der Sinnlichkeit verflochten, die
er doch fliehen wollte, und — wie er spater bekennt —
er wollte sich nicht heilen lassen, weil ihm seine Krank-
heit lieb war. Indessen — reine sittliche Empfindung
und Forciertes lagen schon damals in ihm, wie in seinen
ernsten Zeitgenossen, dicht beieinander. Ein heiliges Leben
schien ihm lediglich das Leben vollkommenster Entsagung
zu sein; ein solches zu fiihren, dazu fehlte ihm aber noch
die Kraft.
In diesen Noten und in der Stimmung des Skeptikers
verliefi er Karthago, um in Rom als Lehrer der Rhetorik
zu wirken. Die karthaginiensischen Studenten hatten ihm
durch ihr ungebundenes Wesen die Heimat verleidet. Aber
auch in Rom machte er mit seinen Zuhorern schlimme
Erfahrungen, und so nahm er schon nach wenigen Monaten
eine 6'ffentliche Professur in Mailand an. Die Manichaer,
mit denen er noch immer Beziehungen unterhielt, da ,,sich
ja doch nichts Besseres bisher gefunden hatte", hatten ihm
durch ihre Empfehlungen bei dem einflufireichen Symmachus
die Anstellung verschafft.
Hier in Mailand nun hat sich der Umschwung lang-
sam, aber in wunderbar durchsichtiger Weise und in dra-
Augustins Konfessionen. 71
matischer Folgericlitigkeit vollzogen. Dafi man nur durch
ernste unablassige Arbeit an sich selber ein festes Ver-
haltnis zu den hochsten Fragen gewinnen konne, wurde
Augustin immer klarer, und dafi der Mensch sittliche Kraft
gewinnt, wenn er sich. einer ihn iiberragenden Personlich-
keit frei hingibt, das durfte er erfahren. In Mailand trat
der Bischof Ambrosius Augustin entgegen. Bisher war
ihm noch kein katholischer Christ begegnet, der ihm im-
poniert hatte, jetzt lernte er einen solchen kennen. War
es auch zuerst die giitige G-esinnung und die aufierordent-
liche Rednergabe des Ajnbrosius, die ihn fesselten, so zog
ihn doch bald auch der Inhalt der Predigten des Bischofs
an. Er selbst sagt in den Konfessionen, dafi der hochste
Dienst, den Ambrosius ihm geleistet, die Wegraumung der
Anstofie, die das alte Testament bot, gewesen sei. Grewifi
hat die griechische Kunst der Exegese, welche Ambrosius
iibte, eine starke Anziehung auf Augustin wie auf alle
Gebildeten der Zeit ausgeiibt. Allein das Imponierendste
an Ambrosius war die Personlichkeit, die hinter dem Wort
stand. Augustin brach jetzt auch aufierlich mit dem Mani-
chaismus. Wenn irgendwo die Wahrheit ist, so ist sie bei
der Kirche: dieses Eingestandnis notigte ihin die Autori-
tat des groCen Bischofs ab. Das Bild Christi, welches ihm
zuerst die Mutter gezeigt, stieg wieder vor seiner Seele auf,
und er liefl es nicht mehr.
Aber Ambrosius hatte keine Zeit, sich um den Zweifler,
der doch gerne geglaubt hatte, zu kummern, und noch
war ein fundamentaler Anstofi der Kirchenlehre nicht be-
seitigt. Augustin vermochte sich nicht zu denken, dafi es
ein wirksames geistiges Wesen geben konne ohne materielle
G-rundlage. Der geistige G-ottesbegriff und die idealistische
Weltanschauung schienen ihm unbeweisbar, unmoglich. Aber
indem er hier vergeblich nach Grewifiheit rang, war die
Verzweiflung dariiber, dafi er noch immer nicht von Welt
und Sinnlichkeit loskommen und sich selbst beherrschen
72 Erster Band, erste Abteilung. Reden: III.
konnte, viel grofier. Furcht vor dem Richter nnd Todes-
furclit lagen iiber seiner Seele. Er lechzte nach einer
Kraft; schon hatte er alles for sie hingegeben, Ehre und
Beruf, ja selbst das Opfer des Verstandes gebracht. Aber
dem Schlafenden gleich, der sich aufzurichten strebt, sank
er immer wieder zuriick. Die verschiedensten Entschliisse
kreuzten sick in seiner Seele; mit gleichgestimmten Freun-
den und Schiilern wiegt er sich in den Plan, sich aus der
"Welt zuriickzuziehen und in der Stille gemeinsam der
eigenen Ausbildung und der Erforschung der Wahrheit zu
leben. Aber noch war es ein unkraftiger Entschlufi; noch
verhinderten Weib und Beruf die Ausfiihrung. Im Grande
suchte er in seinen theoretischen und praktischen Zweifeln
bereits nur Eines, den Verkehr mit dem lebendigen Q-ott,
der von der Siinde befreit; aber er erschien ihm nicht und
er fand ihn nicht.
Da kam ihni von unerwarteter Seite Hilfe. Er las
Schriffcen aus der Schule der Neuplatoniker. In dem Neu-
platonismus hat die griechische Philosophie ihr letztes Wort
gesprochen und ihr Testament gemacht. Einem Sterbenden
gleich, der sich mit den Dingen dieser Welt nur noch not-
gedrungen befafit, hat sie alle ihre Q-edanken auf das
Hochste und Heilige, auf Gott, gerichtet. Alles Erhabene
und Edle, was sie im Laufe einer langen Arbeit erworben,
hat sie zusammengefafit in ein kuhnes idealistisches System
und in eine Anweisung zum sehgen Leben. Im Neuplato-
nismus lehrte die griechische Philosophie, dafi man der
Autoritat der Offenbarung folgen miisse, und daH es nur
eine B/ealitat gebe, Q-ott, nur eine Aufgabe, zu ihtn aufzu-
steigen; sie lehrte, dafi das Bose nichts anderes sei als die
Entfernung von Gott, dafi die sinnliche Welt nur Schein
und Gleichnis sei, dafi man zu Gott nur gelangen konne
durch Selbstzucht und Enthaltung, durch aufsteigende Be-
trachtung von niederen zu immer hoheren Spharen, schliefi-
lich durch einen unbeschreiblichen Exzefi, die Ekstase, in
Augustins ELonfessionen. 73
welcher Q-ott selbst die Seele erfafit und ihr sein Licht
lenchten laflt:
Alles Vergangliclie 1st nur ein Gleichnis,
Das Unzulangliche, hier wird's Ereignis,
Das Unbeschreibliclie, hier ist's getan.
Diese Schluflworte des Faust sind echt neuplatonisch.
Die neuplatonisclie Philosophic hatte mehr und mehr die
helle Wissenschaft abgedankt; sie hatte sich der Offen-
barung in die Arme geworfen, um die Menschen iiber sich
selber zu erheben. Sie, die letzte Hervorbringung des stolzen
griechischen G-eistes, verschmahte selbst christliche Schriffcen
nicht, um aus ihnen zu lernen. Das Johannesevangelium
wurde in neuplatonischen Kreisen gelesen und hochgeschatzt.
In diese Philosophie vertiefte sich nun Augustin; sie loste
ihm die theoretischen Ratsel und Zweifel; sie hat ihn aus
dem Skeptizismus herausgefuhrt und fur immer gewonnen.
Die EeaHtat geistiger Groflen, der geistige G-ottesbegriff,
wurde ihm nun zur G-ewiGheit. Die scharfe Kritik, die
er sonst an die theoretischen Grundlagen philosophischer
Systeme gelegt hatte — hier versagte sie ihm. Der Skep
tizismus hatte sein Auge stumpf gemacht oder vielmehr —
er suchte vor allem nach einer Anweisung zum seligen
Leben und nach einer Autoritat, die ihm den lebendigen
Gott verbiirgte. Was er suchte trug er in die neue Philo
sophie number; denn das heilige Wesen, dem er sich zu
eigen geben und dessen Nahe er fuhlen wollte, hot ihm der
Neuplatonismus nicht so, wie es vor seiner Seele stand.
Den Unterschied hat auch er nicht verkannt; aber in seinem
tiefsten G-runde hat er ihn nicht, auch spater nicht, durch-
schaut. Dafi es eine Philosophie gebe, an die er das an-
kniipfen konnte, was seine Seele begehrte, war ihm vor
allem wichtig. Der Neuplatonismus ist fur ihn, wie fur
viele vor ihm und nach ihm, der Weg zur Kirche geworden;
durch ihn gewann er Yertrauen zu den Q-rundgedanken
der damaligen kirchlichen Theologie. Es ist merkwurdig,
74 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
wie rasch, wie unvermerkt er vom Neuplatonismus zur An-
erkennung der ganzen heiligen Schriffc und der katholischen
Kirchenlehre iibergegangen ist, oder vielmehr: der Neu-
platonismus erschien ihm einfach als wahr, aber niclit als
die vollstandige Wahrheit. Es fehlte ihm vor allem ein
Moment, die Anerkemmng der Erlosung durch den mensch-
gewordenen G-ott, und damit der rechte Weg zur Wahr
heit. Sie schauen, sagt er, das gelobte Land, wie Moses;
aber sie wissen nicht, wie man in dasselbe hineinkommt
und es bewohnt. Er glaubte es jetzt zu wissen: durch die
Unterwerfung des Verstandes unter Christus. Aber Christus
ist nur dort wo die Kirche ist, das hatte er an Ambrosius
gelernt. Man muB also glauben, glauben, was die Kirche
glaubt. Augustin lafit uns in den Konfessionen dariiber
nicht im Zweifel, dafi der Entschlufl, sich der Autoritat zu
unterwerfen, die Bedingung ist fur den Besitz der Wahrheit.
Er entschloB sich; so wurde er katholischer Christ. Wunder-
bar sind bei diesem innern Ubergang die Ursachen ver-
kettet, der Neuplatonismus, der fortwirkende Eindruck der
Person Christi, der durch die Lektiire pauKnischer Briefe
sich ihm verstarkte, und die imponierende Autoritat der
Kirche.
Er war jetzt katholischer Christ nach Einsicht und
Wille; aber er selbst beschreibt seinen damaligen Zustand
mit den Worten: nSo hatte ich die kostbare Perle gefunden,
aber ich trug noch immer Bedenken, alles zu verkaufen,
was ich besafi; ich hatte Lust an dem Gesetze Q-ottes nach
dem inwendigen Menschen; aber ich sah ein anderes G-esetz
in meinen G-Hedern." Keine Theorie, keine Lehre konnte
ihm hier helfen. Nur iiberwaltigende personliche Eindrucke
konnten ihn bezwingen und fortreifien. Und diese kamen.
Zuerst war es die Kunde von einem hochberuhmten heid-
nischen Redner in Rom, der plotzlich eine glanzende Lauf-
bahn preisgegeben und sich offentlich als katholischer Christ
bekannt hatte; sie erschiitterte ihn aufs tiefste. Dann —
Augustins Konfessionen. 75
wenige Tage darauf — erzahlte ihm ein Landsmann, der
ilin besuchte, was sich jiingst in Trier zugetragen hatte.
Ein paar junge kaiserliche Beamte seien in den Garten an
der Stadtmauer spazieren gegangen und dort auf die Hutte
eines Einsiedlers gestofien. In der Hiitte fanden sie ein
Buch, das Leben des groflen Monchsvaters Antonins. Einer
von ihnen begann es zu lesen, und das Buch iibte auf sie
einen solchen Zanber aus, dafl sie sofort beschlossen, alles
zu verlassen und es dem Antonius nachzutun. Hit
flammender Begeisterung berichtete der Erzahler von diesem
plotzlichen Umschwung; er war selbst zugegen gewesen
und hat ihn mitangesehen. Er bemerkte es nicht, welchen
Eindruck seine Erzahlung auf den Horer machte. Ein
furchtbarer Kampf entspann sich in Augustins Brust:
wWohm lassen wir es mit uns selber kommen? Was ist
das? Ungelehrte stehen auf und reifien das Himmelreich
an sich, und wir mit unserer herzlosen G-elehrsamkeit walzen
uns in Fleisch und Blut herum!" Im Widerstreit seiner
G-efuhle, seiner selbst nicht mehr machtig, stiirzte er in den
Grarten. Der Gredanke an das, was er preisgeben sollte,
rang in ihm mit der Macht eines neuen Lebens. Er brach
zusammen und erwachte erst wieder, als er im Nachbar-
haus eine Kinderstimme, wahrscheinlich im Spiel, die
Worte immer wiederholen horte: ,,!Nimm und lies, nimm
und lies." Er eilte in das Haus zuriick und schlug, sich
an die G-eschichte des Antonius erinnernd, die heilige Schrift
auf. Sein Blick fiel auf die Stelle im Romerbrief: „ Nicht
in Fressen und S auf en, nicht in Kammern und Unzucht,
nicht in Hader und Neid; sondern ziehet an den Herrn
Jesum Christum, und wartet des Leibes, doch also, dafl er
nicht geil werde." «Ich wollte nicht weiter lesen; es war
auch nicht notig; denn beim Schlusse dieses Spruches stromte
in mein Herz sofort das Licht ruhiger Sicherheit ein und
alle Finsternisse der Unentschlossenheit verschwanden."
Er brach in diesem Momente mit seiner Vergangenheit; er
76 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: III.
fiihlte die Kraft in sich, die sundige Grewohnheit preiszu-
geben und im Bunde mit seinem Grott ein neues heiliges
Leben zu fiihren. Er gelobte das, und liat das Grelobnis
gehalten.
Ein Beweis, dafi es ein innerer Umschwung war, den
er hier erlebt hat, liegt in der Tatsache, dafi er zwar fortab
auf Weib und offentlichen Bemf als auf ein Ubel ver-
zichtete, aber keineswegs sofort seine Studien und den
Kreis seiner Interessen anderte. Er zog vielmehr mit den
Freunden nnd der Mutter auf ein nahe bei Mailand ge-
legenes Landgut, um dort ungestort der Philosophie und
einer gehaltvollen Greselligkeit zu leben und seine philo-
sophischen Spekulationen, wie er sie bisher schon betrieben,
fortzusetzen. Nicht der heilige Antonius wurde sein und
seiner Freunde Vorbild, sondern die G-emeinschaft der
Weisen, wie sie Cicero, Plotin und Porphyrius als Ideal
vorgeschwebt hatte. Keine vordringliche Kirchendogmatik
storte nock die philosophischen Dialoge der Freunde; aber
beherrscht war ihr Gremiit von der GrewiCheit des leben-
digen Qottes, und statt der Unsicherheiten iiber den Aus-
gangspunkt und das Ziel aller Wahrheitserkenntnis lebten
sie jetzt in der Sicherheit, welche die Offenbarung Grottes
in Christo und die Autoritat der Kirche boten. Die Frage,
ob schon das Forschen nach Wahrheit gliicklich mache
oder erst der Besitz der "Wahrheit, wurde von Augustin
im Kreise der Freunde aufgeworfen und in letzterem Sinne
entschieden. Rastlos wollte er weiter forschen, aber die
letzte und hochste Wahrheit suchte er nicht mehr, sondern
war sich bewufit, sie in der Unterwerfung unter die Autori
tat Grottes, wie die Kirche sie verkiindigt, gefunden zu
haben.
Ich habe nach den Konfessionen zu erzahlen versucht
und nur zum SchluG ihre Darstellung aus den zuverlas-
sigeren Quellen, den Schriften, die Augustin gleich nach
dem Umschwung geschrieben, berichtigt. Sie werden das
Augustins Konfessionen. 77
Problem, welches dieser Lebensgang bietet, wohl empfunden
haben. Einerseits eine Entwickelung aus dem Innern heraus
durch unablassige Arbeit, ein Aufsteigen von einem ge-
bundenen und zerspaltenen Leben zur Freiheit und Kraft
in Gott, andererseits die Entwickelung zum Autoritats-
glauben, das Ausruhen in der Autoritat der Kirche und
die monchische Auffassung der Ehe und des Berufs. Auch
wenn man die Zeitverhaltnisse in Anschlag bringt, wie
groB scheint noch immer das Problem, daB dieser reiche
und rastlose Geist zu personlicher christlicher Frommigkeit
emporstrebt, sie aber erst erlangt, nachdem er sich der
Autoritat der Kirche unterworfen hat!
Beides ist seitdem untrennbar in Augustins Leben und
Denken verbunden gewesen. Einerseits kiindet er nun in
einer neuen Weise — aber im Sinne der Kirche — von
Gott und den gottlichen Dingen. Aus der innersten Er-
fahrung heraus zeugt er von Siinde und Schuld, von Bufie
und Glauben, von Grottes Kraft und Gottesliebe. An die
Stelle einer blassen Moral setzt er die lebendige Frommig
keit, das Leben in Q-ott durch Christus. Zu diesem Leben
ruft er den Einzelnen auf ; er zeigt ihm, wie arm und elend
er bei allem Wissen und bei aller Tugend sei, solange er
von der Liebe Gottes nicht ergriffen ist. Er zeigt ihm,
dafi der natiirliche Mensch von der Selbstsucht beherrscht
ist, daC die Selbstsucht Unfreiheit und Schuld ist, und dafi
jeder von Natur ein Glied ist in einer ungeheuren Ver-
kettung der Siinde. Er lehrt ihn aber auch, dafi Gott
groBer ist als unser Herz, daB die in Christus offenbarte
Liebe Gottes machtiger ist als die Triebe der Natur, und
daB die Freiheit die selige Notwendigkeit des Guten ist.
"Wo nur immer in dem folgenden Jahrtausend und weiter
der Kampf wider eine mechanische Frommigkeit, wider
Selbstgerechtigkeit und stumpfe Moral unternommen wird,
da ist es sein Geist gewesen, der fortgewirkt hat. Allein
andererseits hat es niemand vor Augustin gegeben, der in
78 Erster Band, erste Abteilung. Keden: III.
so entschlossener und unverhullter Weise die Christenlieit
auf die Autoritat der Kirche gestellt und die lebendige Au
toritat geheiligter Personen, welche gleichartiges Leben er-
zeugen, mit der Autoritat der Institutionen verwecliselt hat.
Was sich in seinen Erfahrungen und in seinem Lebens-
gang untrennbar verkettet hatte, hat durch ihn genau so
fortgewirkt auf die Kirche: seine Bedeutung fur die Aus-
bildung des katholischen Kirchentums und fur die Herr-
schaft der Kirche ist nicht geringer als seine kritische Be
deutung und als die Kraft, die ihm verliehen war, in-
dividuelle Frommigkeit und personliches Christentum zu
erwecken.
Die Losung dieses Problems will ich nicht beriihren;
es mag geniigen, daran zu erinnern, dafl dasselbe im G-runde
keineswegs erstaunlich ist. Religion und Autoritatsglaube,
so verschieden sie sind, sind durch eine sehr schmale
Grenze getrennt, und wo der Glaube vor allem als ein
Wissen vorgestellt wird, da schwindet diese Grenze vollig.
Hier hat Luther eingesetzt und den Christen auf einen
Grund zu stellen unternommen, auf dem er die Autoritat
von Institutionen und die Moncherei als Triibungen des
Glaubens betrachten mufi.
Aber jede Zeit hat von Grott ihren Inhalt empfangen
und jeder Geist sein Mafi. Seine Schranken sind auch
seine Starke und die Bedingungen seiner wirksamen Kraft.
Innerhalb seiner Schranken hat sich Augustin in den drei-
undvierzig Jahren, die er als katholischer Christ verbracht
hat, zu einer Personlichkeit entwickelt, deren Hoheit und
Demut uns ergreift. Ein Strom von Wahrhaftigkeit, Giite
und Wohlwollen und wiederum von lebendigen Anschau-
ungen und tiefen Gedanken geht durch seine Schriften,
durch die er der grofie Lehrer des Abendlandes geworden
ist. Wohl ist er iiberboten worden durch die Reformation,
die er doch mit hervorgerufen hat, und die Grundziige
seiner religiosen Weltanschauung haben vor den Erkennt-
Augustins Konfessionen. 79
nissen, die wir seit Leibniz erworben haben, nicht Stand
halten konnen. Der romische Katholizismus hat seinen
fortwirkenden Einflufl im Tridentinum, im Kampf gegen
den Jansenismus und im Vaticanum zu ersticken unter-
nommen. Aber er ist doch kein Toter: was er der Kirche
Christi gewesen ist, wird nicht untergehen, und er wird
auch der romischen Kirche keine Ruhe lassen.
Es sind zu Ostern des Jahres 1887 genau 1500 Jahre
gewesen, seitdem sich Augustin zu Mailand durch die Taufe
in den Dienst der Kirche gestellt hat. Niemand hat den
Tag gefeiert; man hat dem Lehrer der Kirche auch keine
Denkmaler gesetzt. Aber er besitzt das erhabenste Denk-
mal: auf den Blattern der Q-eschichte des Abendlandes
von den Tagen der Volkerwanderung an bis auf unsere
Tage steht unausloschlich sein Name geschrieben.
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND . ERSTE ABTEILUNG
REDEN: IV
DAS MONCHTUM
SEINE IDEALE UND SEINE GESCHICHTE
Eine kirchenkistorische Vorlesung
erschienen in 6. Aufl. 1903 bei Alfred Topelmann (vorinals J. Kicker'sche
Verlagsbuchhandlung) in Giessen.
Die christlichen Konfessionen, so verschieden sie unter-
-einander sein mogen, stimmen in der Grundforderung iiber-
ein, dafl sich der Glaube darstellen musse in einem christ
lichen Leben, dafi das Christentum nur dort zu seinem Rechte
komme, wo es ein eigentiimliches Leben erzeuge. Wahrhaft
christliches Leben ist das gemeinsame Ideal der Christen-
heit. Aber wie soil es geartet sein? Hier scheiden sich
die Wege. Dafl es unter uns verschiedene Konfessionen
gibt, ist im letzten Grande bedingt sowohl durch die Ver-
schiedenheit des Glaubens, als auch des Lebensideals, welches
der Glaube vorhalt. Alle ubrigen Unterschiede sind religios
betrachtet unwesentliche oder erhalten doch von hier aus
erst ihr Gewicht und ihre Bedeutung. Nicht theologischer
Zank oder priesterliche Herrschsucht oder nationale Gegen-
satze haben allein die Spaltung der Kirche herbeigefuhrt —
sie waren an ihr beteiligt und konservieren sie heute noch — ,
sondern die verschiedene Beantwortung der Lebensfrage
nach dem Ideal des Lebens hat getrennt und der Trennung
Dauer gegeben. Es ist in den Verhaltnissen ganzer Gruppen
nicht anders wie in den der Einzelnen. Nicht theoretische
Meinungen, sondern Gesinnungen und Willensrichtungen
scheiden und vereinen.
Fragen wir nun die romisch- oder die griechisch-katho-
lische Kirche, worin besteht das vollkommenste christliche
Leben, so antworten sie beide: in dem Dienste Gottes unter
Yerzicht auf alle Giiter des Lebens, auf Eigentum, Ehe,
personlichen Willen und personliche Ehre, kurz in der reli-
_giosen Weltflucht, in dem Monchtum. Der wahre Monch ist
6*
g4 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
der wahre, vollkommenste Christ. Das Monchtum 1st also
nicht eine mehr oder weniger zufallige Erscheinung in den
katholischen Kirchen neben anderen, sondern, wie die Kirchen
heute sind und wie sie schon seit Jahrhunderten das Evan-
gelium verstanden haben, ist es eine in ihrem Wesen be-
griindete Institution: es ist das christliche Leben. Wir
werden deshalb erwarten diirfen, dafi in den Idealen des
Monchtums sich auch die Ideale der Kirche, in der Ge-
schichte des Monchtums sich die Geschichte der Kirche
darstellen werden.
Aber kann das Monchtum iiberhaupt wechselnde Ideale,
kann es eine Geschichte haben? Ist es nicht verurteilt, in
groflartiger Einfiormigkeit tausendfacher Wiederholung durch
die G-eschichte zu schreiten? Welch' einer Veranderung sind
die Ideale der Armut, der Ehelosigkeit, der entschlossenen
Weltnucht fahig? "Welch1 eine Geschichte konnen die er-
leben oder herbeifuhren, welche mit der Welt auch ihren
wechselnden G-estalten, d. h. ihrer G-eschichte, den Riicken
gekehrt? Ist nicht Weltentsagung zugleich Verzicht auf
alle Entwickelung und alle Geschichte? Oder, wenn sie
das in Wirklichkeit nicht gewesen ist, ist nicht eine Ge
schichte der Ideale des Monchtums schon ein Protest gegen
den Gedanken des Monchtums iiberhaupt? Es scheint so,
und vielleicht scheint es nicht blofi so. Aber das lehrt die
Geschichte des Abendlandes auch dem fluchtigsten Be-
obachter: das Monchtum hat seine Geschichte gehabt, nicht
nur eine aufiere, sondern auch eine innere, voll von ge-
waltigsten Veranderungen und gewaltigsten Wirkungen.
Welch' eine Kluft trennt den schweigsamen BuJBer der
Wiiste, der ein Menschenleben hindurch in keines Menschen
Auge geblickt hat, von dem Monche, der einer Welt Befehle
gab! Und dazwischen die Hunderte von Gestalten, eigen-
tiimlich und verschieden, und doch Monche, alle begeistert
und beherrscht von der Idee, der Welt zu entsagen. Aber
noch mehr: alle Regungen des Gemiites, die leidenschaft-
Das Menchtum.
85
lichsten und die zartesten, kommen uns ans jener "Welt der
Weltentsagung entgegen. Kunst, Poesie und Wissenschaffc
haben dort Hire Pflege gefunden, ja die Anfange der Zivi-
lisation nnseres Vaterlandes sind ein Kapitel aus der Gre-
schiclite des Monchtums. Hat das Monchtum dieses alles
nur leisten konnen, indem es seine Ideale verliefi, oder
lassen seine eigensten Ideale solche Wirkungen zu? Setzt
die Weltentsagung eine zweite Welt und eine zweite Gre-
schiclite, der gemeinen ahnlieh, nur reiner und grofier, oder
mufl sie die Welt zur Wliste werden lassen? 1st das das
wahre Monchtum, welches in der Welt den Tempel Grottes
sieht und auch in der schweigsamen Natur entziickt das
Wehen gottlichen Q-eistes vernimmt, oder ist das das wahre
Monchtum, welches behauptet, die Welt mitsamt ihrer Natur
und ihrer Q-eschichte sei des Teufels? Beide Losungen
tonen zu uns heriiber aus dem Reiche der Weltentsagung:
welche von ihnen ist authentisch und hat das geschicht-
liche Recht fur sich? In dem Monchtum ist das Individuum
gerettet worden aus den Banden der Gesellschaft und der
gemeinen Grewohnheit, ist befreit und erhoben worden zu
edler Selbstandigkeit und Menschlichkeit, und in demselben
Monchtum ist es geknechtet worden in Engherzigkeit, geist-
loser Ode und sklavischer Abhangigkeit. Hat das urspriing-
liche Ideal dieses verschuldet oder jenes hervorgebracht?
Solche und ahnliche Fragen tauchen hier auf. Der
evangelische Christ hat nicht blofi ein historisches Interesse
an ihrer richtigen Beantwortung. Ist es ihm auch gewiC,
dafi die christliche Vollkommenheit nicht in den Formen des
Monchtums zu suchen ist, so hat er es doch zu prufen und
seine Lichtgestalt festzustellen. Nur dann ist es in Wahr-
heit uberwunden, wenn dem Besten, was es hat, ein Besseres
ubergeordnet werden kann. Wer es abschatzig beiseite
schiebt, kennt es nicht. Wer es kennt, der wird bekennen,
wieviel von ihm zu lernen ist. Ja er wird hier nicht nur wie
von einem Q-egner, er wird wie von einem Freunde lernen
gg Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
konnen, unbeschadet seines evangelischen Standpunktesr
vielmehr zu Nutz desselben. Suchen wir uns durch einen
gescliichtlichen Uberblick fiber das Monchtum zu orientieren.
I.
Das Monchtum 1st niclit so alt wie die Kirche. Aller-
dings hat die Kirche des 4. Jahrhunderts, in welcher es sich
ausbildete, wesentlich ahnliche Institutionen schon im apo-
stolisclien Zeitalter zu finden gemeint; aber die Vorbilder
dort, auf welche man sich berufen hat und noch beruft, ge-
horen zum grofiten Teile der Legende an. Dennoch ist die
alte Kirche mit ihrem Urteile nicht ganz im Unrechte. Der
G-edanke, sich zu separieren, geschlossene Vereinigungen
innerhalb der Q-emeinde zu bilden und besondere Weltent-
sagung zu iiben, konnte freilich den Einzelnen in den ersten
Jahrzehnten des Bestehens der Kirche gar nicht kommen.
Aber diejenigen, welche sich von dem G-eiste Grottes ge-
trieben fuhlten, ihr ganzes Leben der Verkiindigung des
Evangeliuras zu widmen, haben in der Hegel alle ihre Habe
dahingegeben und sind in freiwilliger Armut als Apostel und
Evangelisten Christi von einer Stadt zur anderen gewandert.
Andere haben sich, auf Vermogen und Ehe verzichtend,
ganz in den Dienst der Armen und Hilfsbediirftigen der
Gremeinde begeben. Dieser apostolischen Manner hat man
sich, als das Monchtum nach seinem Ursprunge im aposto
lischen Zeitalter suchte, hin und her wieder erinnert. Ferner
aber - - alle Christen, soweit sie es ernst nahmen, standen
gleichmafiig unter dem Eindrucke, dafi der Welt und ihrer
G-eschichte nur noch eine kurze Spanne Zeit gelassen sei,
dafi ihr Ende bevorstehe. Wo diese Hoffnung aber lebendig
ist, da kann das irdische Leben, wie es gelebt wird, einen
selbstandigen Wert nicht mehr behaupten, so gewissenhaft
man es auch mit den Berufspflichten nehmen mag. Der
Apostel Paulus hat unter besonderen Verhaltnissen diese
Das MOnchtum. 87
wiederholt und nachdrucklich seinen Gemeinden eingescharft.
Man hat ihn deshalb evangelischerseits wider Moncherei und
alles weltfliiclitige Christentum angerufen,. anf die Grund-
satze christlicher Freiheit verweisend, die er verkiindet hat.
Aber man soil dabei nicht vergessen, dafi auch er in Bezug
auf die irdischen Giiter das Urteil geteilt hat, es sei dem
Christen zutraglicher, sie preiszugeben, und dafi wir so auch
im Evangelium lesen. Damit ist das, was sich als Honch-
tum ausgebildet hat, dennoch nicht im voraus geboten noch
empfohlen. Jesus Christus hat nicht als ein neues, pein-
liches Gesetz schwere Lasten auferlegt, noch weniger in der
Askese als solcher — er selbst lebte nicht als Asket — eine
Heiligung gesehen, sondern eine vollkommene Einfalt und
Reinheit der G-esinnung und eine Ungeteiltheit des Herzens
hat er vorgestellt, die in Verzicht und Triibsal, im Besitz
und Gebrauch irdischer Giiter, wandellos dieselbe bleiben
soil. Das Einfachste und Schwerste im Gesetz, die Liebe
Gottes und des Nachsten, hat er an die Spitze gestellt und
aller zeremoniosen Heiligkeit und raffinierten Moral ent-
gegengesetzt. Geboten hat er, dafi ein jeglicher sein Kreuz,
d. h. die Leiden, die Gott geschickt hat, auf sich nehmen
und ihm nachfolgen solle. In der Nachfolge Jesu, in welcher
sich das Trachten nach dem Reiche Gottes und seiner Ge-
rechtigkeit verwirklicht, liegt die EntauCerung von allem}
was hemmend und hinderlich ist, beschlossen. Das Monch-
tum hat aber nachmals versucht, der entscheidenden evan-
gelischen Forderung : ,,Enthalte dich" so gerecht zu werden,
daB es den Umfang des Verzichtes ohne Riicksicht auf die
individuelle Beschaffenheit und den Beruf des Einzelnen
bestimmte.
Als das Evangelium im ersten Jahrhundert und im An-
fang des zweiten seine Mission in der griechisch-romischen
"Welt aufnahm, da wurde es ergriffen von den Empfang-
lichen als die Botschaft wvon der Enthaltsamkeit und der
Auferstehung". Diese gewahrte die befreiende Hoffnung,
gg Erster Band, erste Abteilung. Reden: IV.
und jene forderte die Loslosung von der Welt der Sinn-
lichkeit und Siinde. Die ersten Christen sahen in dem
Heidentum, seinem Grotzendienst, seinem offentlichen Leben,
auch in seinem Staate, das Reich des Satan in "Wirklichkeit
aufgerichtet und forderten daher Verneinung dieser Welt;
aber fur ihre Auffassung waren es nicht unvereinbare Gregen-
satze, dafi die Erde Q-ottes sei, von ihm geleitet und be-
herrscht werde, und dafi sie doch zugleich in satanischer
Verwiistung liege. Weiter: sie wufiten sich als Burger einer
zukiinftigen Welt, deren Eintritt in Balde bevorstehe. Wer
das glaubt, der kann alles gering achten, was urn ihn ist,
ohne in die Stimmung zu geraten, die man die pessimistische
nennt, und die im besten Falle die Stimmung des gekrankten
und leidensmiiden Heros ist. Er wird die Freude am ^Leben"
behalten; denn er wiinscht nichts sehnlicher als zu leben,
und er wird selbst dem Tode sich gerne darbieten, der ihn
zum Leben fuhrt. Dort ist kein Haum fur den Verzicht
auf die Freude, wo der Giaube lebendig ist, dafi Q-ott die
Welt geschafFen hat und regiert, wo man der Zuversicht
lebt, dafi kein Sperling vom Dache fallt ohne den himm-
lischen Vater. Es ist richtig, dafi die Phantasie damals aufs
lebhaffceste bewegt worden ist von dem Q-edanken, dafi der
gegenwartige Weltlauf dem Q-erichte verfalle, weil alles ver-
giftet und des Unterganges wert sei; aber man wufite diese
Welt doch auch als die Statte des Reiches Grottes, die man
der Verklarung fur wiirdig erachtete. Das Christentum
mufite den Kampf aufnehmen mit der groben und der feinen
Sinnlichkeit der Heidenwelt und es erschopfte, wie man
richtig gesagt hat, seine ganze Energie in der Predigt der
grofien Botschaft: wlhr seid keine Tiere, sondern unsterbliche
Seelen, nicht die Sklaven des Fleisches und der Materie,
sondern die Herren eures Fleisches, Diener allein des leben-
digen G-ottes." Jedes Kulturideal mufi zuriicktreten, bis
diese Botschaft geglaubt wird. Besser, der Mensch erachtet
die Ehe, Essen und Trinken, ja, sein menschliches Teil an
Das M6nchtum. 89
sich fur unrein, als dafi er diese Dinge wirklicli unrein
macht durch sinnliche Verwilderung. Kein neues Prinzip
vermag sich. in dieser Welt der Tragheit und G-ewohnheit
durchzusetzen, das nicht die schneidendste Kritik an dem
Zustande der Gegenwart iibt und hochgespannte Forderungen
stellt. Das alteste Christentum stellte solche Forderungen;
aber bald erhob sich die Frage, wie sie theoretisch zu be-
griinden seien und in welchem Umfang sie gelten sollen.
II.
Bereits am Anfang des zweiten Jahrhunderts drangte
sich eine bunte Menge Suchender und Glaubiger an die
christlichen Gemeinden heran. Unter ihnen gab es Manner
— man nennt sie herkommlich G-nostiker — , die genahrfc
und verwirrt waren durch alte und neueste Mysterienweis-
heit, zugleich aber ergriffen von der evangelischen Botschaffc
und der Reinheit des christlichen Lebens. Sie suchten zu
hp.st.iTmnp.Ti, worin das Wesen der christlichen Religion als
einer Erkenntnis Gottes und der "Welt bestehe, und sie
meinten den wahren, der Menge unbekannten Sinn des
Evangeliums ergriindet zu haben: Gott als den Herrn und
den Schopfer der Geister, aber ihm von Ewigkeit gegen-
iiberstehend das Reich der Materie, der sinnlichen Endlich-
keit, welches als solches bose ist; der menschliche Geist ein
Lichtfunke Gottes} aber sclimachvoll gefangen von seiner
Feindin, der Sinnenwelt; die Erlosung durch Christus eine
Entkorperung des Geistes, die Wiederherstellung der reinen
Geistigkeit; darum die sittliche Aufgabe: vollkommene
Askese, Flucht aus der damonischen Natur, Einswerden mit
dem Urquell des Geistes durch Erkenntnis und "Wissen.
In dem Kampf mit dieser Lehre, welche die griechische
war, sich aber als die christliche zu legitimieren versuchte,
und im Kampfe mit der marcionitischen, die in ihren prak-
tischen Anweisungen sich mit der gnostischen beriihrte,
9Q Erster Band, erste Abteilung. Beden: IT.
erlebte die Kirche ihre erste gewaltige Krisis in der Ge-
schichte. Sie hat sie iiberwunden; sie hat die scheinbar so
verlockende Begriindung ihrer eigenen Kritik an der Schlech-
tigkeit der gegenwartigen Welt als eine ihr fremde, als eine
falsche abgewiesen. Sie erkannte in jenen Thesen damo-
nische, d. h. heidnische Anschauungen wieder nnd beurteilte
das gnostische Christentum mitsamt seiner Askese und der
hohen Botschaffc von der Herrlichkeit und Wiirde des Geistes
als ein verweltlichtes. Auch von einem angeblich hoheren
G-eheimchristentum for die wGeistigen" wollte sie nichts
wissen; der gnostischen Unterscheidung eines zwiefachen
christlichen Ideals gegeniiber bestand sie noch, wenn anch
nicht mit Sicherheit, anf der Forderung einer einheitlichen
nnd allgemein zuganglichen christlichen Lebensordnung.
Seit dem Ende des zweiten Jahrhnnderts war es fur immer
in der Kirche festgestellt, dafl der Glaube an jenen prin-
zipiellen Dualismus zwischen Gott nnd Welt, G-eist und
Natur unvereinbar sei mit dem Christentum, unvereinbar
mit ihm darum auch jede Askese, die sich auf jenen Dua-
lismus stiitzt. Wohl fuhr man fort, zu lehren, dafi der
gegenwartige Weltlauf und die zukiinftige Zeit in einem
Kontraste stehen, dafi die Erde unter die Herrschaft der
Damonen geraten sei. Aber Gott selbst hat sie dahin-
gegeben und dem Teufel iiberantwortet. Er wird aber seine
Allmacht in dem Gerichte erweisen und zeigt sie schon
jetzt in dem Siege seiner Glaubigen liber die Damonen.
Die Welt ist des Herrn, nur verwaltet wird sie zeitweilig
von den bosen Engeln; die Welt ist gut, aber die Lebens-
weise der Welt ist schlecht. So iiberwand man den theo-
retischen Dualismus, indem man ihn in der ,,Theologieu
ablehnte und das Bose aus der im Plane Gottes notwen-
digen Freiheit der Kreatur zu verstehen suchte. Doch der
Feind, der hier lauert, kann wohl geschlagen, aber nicht
vernichtet werden. Er fand seine geheimen Bundesgenosseh
selbst in manchen mafigebenden Theologen, die den Dua-
Das MOnchtum. 91
lismus in subtiler "Weise mit dem G-lauben an Gott, den
allmachtigen Schopfer, zu vereinigen verstanden. Unter
den verschiedensten Masken und Grestalten 1st er je und je
wieder aufgetreten in der Greschichte des Christentums ; aber
er hat sich verkleiden miissen. Als Feind in offener Feld-
schlacht war er gerichtet.
Da zog eine zweite Krisis herauf for die Kirche, und
noch war die erste nicht am Ende. Seit der Mitte des
zweiten Jahrhunderts begannen sich die Bedingungen der
aufleren Lage for die Christenheit immer mehr zu andern.
In wenigen kleinen Q-emeinden war sie bisher iiber das
romische Reich zerstreut gewesen. Diese waren nur mit
den notwendigsten Formen politischer Art ansgestattet, so
wenige und so lockere, als deren ein auf iiberirdische Hoff-
nungen, strenge Disziplin und Bruderliebe begriindeter,
religioser Bund bedurfte. Aber es wurde anders. Die
Kirche sah Massen bei sich einziehen, die einer nachtrag-
lichen Zucht — der Erziehung und der Nachsicht — ebenso
bedurften wie einer politischen Leitung. Die Aussicht auf
das nahe "Weltende beherrschte nicht mehr wie friiher alle
Gremiiter. An die Stelle urspriinglicher Begeisterung trat
mehr und mehr niichterne tFberzeugung , wohl auch nur
theoretisches Fiirwahrhalten und gehorsame Anerkennung.
Viele wurden nicht Christen, sondern sie waren es und
darum blieben sie es. Sie waren zu stark vom Christentum
beruhrt, um es zu lassen, und zu wenig, um Christen zu
sein. Der rein religiose Enthusiasmus verblafite, die Ideale
erhielten eine neue Form, und die Selbstandigkeit und Ver-
antwortlichkeit der Einzelnen wurde schwacher. Die
,,Priester und Konige G-ottes" begehrten nach Priestern und
begannen sich mit den Konigen der Erde abzufinden. Die,
welche sich einst des Besitzes des Qeistes geriihmt hatten,
suchten diesen Q-eist, den sie nun nicht mehr so lebendig
spiirten, in Q-laubensformeln und in heiligen Biichern, in
Mysterien und in Kirchenordnungen zu erkennen. Dazu:
92 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
die Unterschiede in der sozialen Lage der ,,Briider" machten
sich geltend. In alien Berufsklassen fanden sich bereits
Christen, im Kaiserpalast, unter den Beamten, in den Stuben
der Handwerker und in den Salen der Gelehrten, unter
Freien und Unfreien. Sollten diese alle in ihrem Berufe
belassen werden, sollte die Kirche den entscheidenden
Schritt in die Welt hinein tun, auf ihre Verhaltnisse ein-
gehen, ihren Formen sich anschmiegen, ihre Ordnungen
soweit irgend moglich anerkennen, ihre Bedurfnisse be-
friedigen, oder sollte sie bleiben, was sie anfangs gewesen,
eine Gemeinde religios Begeisterter, getrennt und geschie-
den von der Welt, nur durch eine direkte Mission auf sie
wirkend? Die Kirche sah sich seit der zweiten Halfte des
zweiten Jahrhunderts vor das Dilemma gestellt, entweder
durch wirklichen Eintritt in die romische G-esellschaft eine
Weltmission im grofien zu beginnen, freilich unter Verzicht
auf ihre urspriingliche Ausstattung und Kraft, oder aber
diese zu behalten, die urspriinglichen Lebensformen zu be-
wahren, aber eine kleine, geringe Sekte zu bleiben, von
Tausenden kaum Einem verstandlich, nicht imstande, Na-
tionen zu retten und zu erziehen. Um diese Frage handelte
es sich — das diirfen wir heute feststellen, so wenig es da-
mals klar erkannt werden konnte — , es war eine gewaltige
Krisis, und nicht die schlechtesten Christen riefen der Kirche
ein Halt zu. Damals zum erstenmale wurden Stimmen in
der Kirche laut, welche die Bischofe und ihre Herden vor
der fortschreitenden Verweltlichung warn ten, welche den
Weltchristen jene bekannten Satze von der Nachfolge
Christi in ihrem wortlichen Ernste entgegenhielten und eine
Umkehr zur ursprunglichen Einfachheit und Reinheit ver-
langten. Damals erhob sich noch einmal laut und ein-
dringlich der Ruf , das Leben auf Grrund der Hoffnung zu
gestalten, dafi der Herr demnachst wiederkomme. Es gab
Gemeinden, die, gefuhrt von ihren Bischofen, in die Wiiste
zogen; es gab Gemeinden, die alles verkauften, was sie be-
Das Mflnchtum. 93
safien, run frei von alien Hemmnissen dem kommenden
Christus entgegenzuziehen ; es gab Stimmen, die verkundig-
ten, die Christen sollten den breiten Weg verlassen und
den sckmalen Weg und die enge Pforte aufsuchen. Die
Kirche selbst entschied sich anders, mehr von den Verhalt-
nissen getrieben als nach einem freien EntschluB. Sie zog
ein durch das offene Tor in den Weltstaat, um sich for
eine lange Dauer dort einzurichten , um ihn auf seinen
Strafien zu christianisieren, ihm die Worte des Evangeliums
zu bringen, aber ihm alles zu lassen auOer seinen Gottern.
Und sie selbst stattete sich aus mit all den GKitern, die sie
von ihm nehmen konnte, ohne das elastische Gefiige zu
sprengen, in welchem sie sich nun einrichtete. Mit seiner
Philosophie schuf sie ihre neue christliche Theologie, seine
Verfassung beutete sie aus, um sich selbst die festesten
Fonnen zu geben, seine Hechtsordnungen, Handel und Ver-
kehr, Kunst und Handwerk nahm sie in ihren Dienst, selbst
von seinen Kulten wuOte sie zu lernen. So finden wir die
Kirche um die Mitte des dritten Jahrhunderts, ausgeriistet
mit all den Machtmitteln, die der Staat und seine Kultur
ihr bieten konnten, eingehend auf alle Verhaltnisse des
Lebens, zu alien Konzessionen bereit, die nicht das Be-
kenntnis des Grlaubens betrafen. In dieser Ausstattung hat
sie eine Weltmission im grofien Stile unternommen und
durchgefuhrt. Und jene Altglaubigen und Ernsteren, die
gegen diese Weltkirche protestierten im Namen des Evan
geliums, die ihrem G-ott eine heilige Gemeinde sammeln
wollten ohne Rucksicht auf Zahl und Umstande? Sie ver-
mochten sich nicht mehr in der grofien Kirche zu halten,
und, indem die Mehrzahl von ihnen, um ihren strengeren
Forderungen eine Grundlage zu geben, sich auf eine neue
endgiiltige Offenbarung Gottes, die in Phrygien stattgefun-
den haben sollte, berief, beschleunigte sie den Bruch. Sie
schieden aus und wurden ausgeschieden. Aber, wie es zu
geschehen pflegt, sie waren in dem Kampf selbst enger und
94 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
kleinsinniger geworden. Hatte in friiheren Zeiten hohe
Begeisterung strenge Lebensformen wie von selbst hervor-
gemfen, so sollten nun diese, punktlich bemessen, jenes ur-
spriingliclie Leben konservieren und erzeugen. Sie wurden
gesetzlich in ihrer Lebensordnung, die dock nur um wenige
Grade strenger war als die inrer Gegner, und hochmiitig
im Besitze des reinen Christentums , wie sie sagten. Das
Christentum der Weltkirchenleute verachteten sie als halb-
schlachtiges, gemodeltes und ungeistlich.es Christentum.
Man hat in dieser ,,Sektea der ^Montanisten" im Reiche
und in der ihr verwandten, alteren und schrofferen der
,,Enkratitenu mit ihrer Weltscheue, ihren strengeren Fasten-
und G-ebetsordnungen, ihrem Mifitrauen gegen das geist-
liche Amt, gegen kirchenpolitische Ordnung, gegen jeden
Besitz, selbst gegen die Ehe, den Vorlaufer des spateren
Monchtums erkennen wollen — nicht mit Unrecht, wenn
man auf die Motive beider Bewegungen sieht, aber sonst
sind sie doch noch sehr verschieden. Das Monchtum setzt
die relative Berechtigung der Weltkirche voraus, jene Mon-
tanisten bestritten jede Berechtigung. Die Auskunft einer
doppelten Sittlichkeit in der Kirche, war sie gleich schon
im Anzuge, beherrschte am Anfang des dritten Jahrhun-
derts noch nicht die gesamte Auffassung vom christlichen
Leben; eben die Ausscheidung des Montanismus aus der
Kirche beweist dies. Allerdings schatzte die Kirche ihre
j,Bekenneru, ihre ^Jungfrauen", ihre Ehelosen, ihre Grott
dienenden Witwen, wenn sie ihrer Gremeinschaft treu blieben,
um so hoher, je haufiger sie die Erfahrung machen muflte,
dafi sie gegen die ngroUe Gremeinschaft" miCtrauisch wurden.
Aber jene geistlichen Aristolcraten waren noch ebensowenig
Monche wie die Montanisten. Dazu — das Monchtum er-
hob eine Lebensweise zum Prinzip, die in erster Lime nicht
an der Aussicht auf die bevorstehende Oifenbarung des
Reiches Christi, sondern an dem Gredanken des ungestorten
Genusses Gottes im Diesseits und der Unsterblichkeit im
Das Monchtum. 95
Jenseits orientiert war. Das Monchtum muflte sich zur
Weltflucht aufraffen, die Montanisten brauchten das nicht
erst ausdriicklich zu fliehen, was ihre enthusiastische Hoff-
nung als ein bereits Abgetanes erblicken wollte.
III.
Aber kehren wir zur Kirche des dritten Jahrhunderts
zuriick. Wohl hatten jene Eiferer ein Recht zur Kritik an
ihr; denn die grofien Grefahren, die sie beim Einzug der
Kirche in den Weltstaat kommen sahen, stellten sich wirk-
lich ein. Jenes Wort des Apostels: ,,Den Juden ein Jude,
den Griechen ein Grieche": es war doch ein gefahrliches
Motto. Wir sind durch eine Jahrlmnderte alte Uberliefe-
rung gewohnt, die Verweltlichung der Kirche erst von der
Zeit ab zu datieren, wo sie unter Konstantin Reichskirche
zu werden begann. Diese IJberlieferung ist falsch. Die
Kirche in der Mitte des dritten Jahrhunderts war bereits
in hohem Grade verweltlicht. Mcht als ob sie die iiber-
lieferten G-laubenssatze verleugnet und ihre Eigenart preis-
gegeben hatte, aber ihre Anspriiche an das christliche
Leben hatte sie in bedenklicher Weise herabgesetzt und die
Kulturausstattung, mit der sie sich bereichert, war ihr zum
innerlichen Schaden geworden. Zwar war sie aufierlich
fester und geschlossener denn je gefiigt — ein Staat im
Staate war sie geworden; aber das starke Band, das sie
verband, war nicht mehr religiose Hoffnung und Bruder-
liebe, sondern eine hierarchische Ordnung, welche die
christliche Miindigkeit und Preiheit, damit aber auch den
Brudersinn zu erdriicken drohte. Ihre Grlaubenslehre riva-
lisierte bereits mit den bewunderten Systemen der Philo-
sophen, aber zu tief hatte sie sich selbst mit ihnen ein-
gelassen, ihre Ziele waren ihr verriickt, ihre Methode gestort
worden. Namentlich jenes letzte nachgeborene System
griechischer Weisheit, der Neuplatonismus , hatte entschei-
96 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
dend auf sie eingewirkt. Durch das, was sie von ihm ent-
lehnte, suehte sie den Ausfall zu decken, den sie bei dem
Yerluste oder der Umsetzung ihrer rein religiosen Ideale
fruhe schon erlitten hatte. Aber der iiberweltliche G-ott,
den jener lehrte, war nicht der Grott des Evangeliums, nnd
die Erlosung aus dem Sinnlichen, die er verhiefi, war von
der urspriinglichen christlichen Heilshoffnung sehr verschie-
den. Doch die Theologen, die inn studierten oder be-
kampften, lebten sich in jene Begriffswelt ein und unmerk-
lich verschob sich ihre eigene. Wetter: die Tendenz, sich
dem Staate anzuschmiegen , wurde immer offenkundiger:
wohl wollte man ihn stiitzen, aber man begehrte auch
Stiitze von ihm, man tat mehr, als man tun durfte, um
ihn zn gewinnen. Endlich: die Kirche konnte auch die
bereits herabgestimmten Anspriiche an das sittliche Leben
des Einzelnen nicht mehr durchfuhren; sie muflte sich oft
genug mit einem Minimum, mit dem aufierlichen G-ehorsam
gegeniiber ihren Rechts- und Kultusordnungen begniigen.
- Dagegen — das Eine hatte sie erreicht, dafi so leicht
kein Christ ihren Anspruch, die christliche Gresellschaft zu
sein, antastete, den G-lauben hatte sie begrundet, daB ihr
gegliederter Verband mit seinen Bischofen, seinen Grnaden-
spendungen, seinen heiligen Biichern, seinem Kultus die
authentische, unverfalschte Stiftung Christi und der Apostel
sei, aufier welcher es kein Heil gebe. Das war die christ
liche Kirche an der Wende des dritten Jahrhunderts zum
vierten. So war sie geworden, nicht ohne ihre Schuld.
Aber das soil gesagt werden: es ist leicht, diese Kirche an
der apostolischen Zeit oder an einem selbstgezeichneten
christlichen Urbilde zu messen und sie grober Verweltlichung
zu zeihen, aber es ist ungerecht, die geschichtlichen Be-
dingungen auBer acht zu lassen, unter denen sie gestanden
hat. "Was sie in sich gerettet hat, ist doch nicht nur ein
"Uberbleibsel gewesen, welches sie eben nicht verlieren
konnte, oder ein Rest, der der Erhaltung nicht wert war,
Das MOnchtum. 97
sondern es war das alte Evangelium, freilich in die Hiillen
und Binden der Zeit gewickelt und ohne den kraftigen An-
spruch, das ganze Leben von innen heraus zu bestimmen.
Aber diese Kirche war nicht mehr imstande, alien
Gemutern, die zu ikr kamen, Frieden zu geben, sie vor
der Welt zu bergen. Den Gottesfrieden eines jenseitigen
Lebens konnte sie zusichern, den Frieden in den Stiirmen
des Diesseits konnte sie nicht gewahren. Da begann die
grofie Bewegung. Asketen, auch Einsamlebende, hat es
schon friiher in der grofien Kirche gegeben, ebenso wie
von Ort zu Ort pilgernde, nichts besitzende Evangelisten.
Tm Laufe des dritten Jahrhunderts mogen einzelne Welt-
miide bereits hinausgeflohen sein in die Wiiste, ja hin und
her mogen sie sich bereits zu gemeinsamem Leben ver-
einigt haben. Ihre Zahl wuchs beim Anbruch des neuen
Jahrhunderts. Sie flohen nicht nur die Welt, sondern die
Welt in der Kirche; aber sie flohen deshalb nicht aus der
Kirche. Auf Ehre und Vermogen, Weib und Kind ver-
zichteten sie, um Lust und Siinde zu fliehen, um sich dem
Genufl der Anschauung Gottes hinzugeben und das Leben
in Todesbereitschaft zu weihen. Lehrte doch auch die
herrschende Theologie, dafi das Ideal christlichen Lebens
in jener Sterbensubung und wiederum in jenem Gottes-
staunen bestehe, da der Mensch seiner Existenz vergifit,
sein korperliches Dasein bis zur Grenze des Todes ertotet,
um ganz aufzugehen in der Beschauung des Himmlischen
und Ewigen. Das war die allgemeine Theorie der Weisen.
Sie nahmen es ernst mit ihr. Aber weiter: keine Zeit ist
vielleicht mehr von dem Gedanken durchdrungen gewesen,
dafi der Weltzeitlauf altere, dahinsinke, daB es sich nicht
mehr lohne, zu leben. Eine grofie Epoche in der Ge-
schichte der Menschheit ging wirklich zu Grabe. Das
romische Reich, die alte Welt, schickte sich an, zu sterben,
und furchtbar waren die Todeskampfe. Aufruhr, Blutver-
giefien, Armut und Seuchen im Innern, von auCen von
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Anfl. I. 7
98 Erster Band, erste Abteilung. Keden: IV.
alien Seiten bedrangt durch Barbarenhorden. Was hatte
man ihnen entgegenzustellen ? Nicht mehr die Macht eines
seiner selbst machtigen Staates und die Kraft eines ein-
heitlichen und erprobten Bildungsideals , nein — ein aus-
einanderfallendes Reich, kaum noch zusammengehalten
durch eine sinkende und zersetzte Kultur, eine Kultur, die
hohl und unwahr geworden war, in der kaum einer ein
gutes G-ewissen, einen freien, natiirlichen Sinn, eine reine
Hand sich bewahren konnte. Nirgendwo aber mufite man
die innere Unwahrheit aller Verhaltnisse mehr empfinden,
als an den Mittelpunkten der Kultur, vor allem in Alexan-
drien. 1st es da wunderbar, dafi gerade dort, in Unter-
agypten, das Eremitenleben, das Monchtum seinen Ursprung
genommen hat? Die langste und reichste Greschichte aller
Volker, welche die G-eschichte kennt, hat das agyptische
Volk gehabt. Auch noch unter der Herrschaft von Frem-
den und unter dem Schwerte des romischen Eroberers war
Agypten das Land der Arbeit, war seine Stadt die Hoch-
schule der Bildung geblieben. Aber nun schlug der Nation
die Stunde. Damals hat das Monchtum als eine gewaltige
Bewegung dort seinen Ursprung genommen; nicht viel
spater treffen wir es auch an der Ostkiiste des Mittelmeeres
und an den Ufern des Euphrat. Man hat in neuester Zeit
den Ursprung aus spezifisch heidnischen Einflussen auf das
Christentum in Agypten erklaren wollen, aber man ist
nicht hinreichend behutsam dabei verfahren, so dankens-
wert es war, dafi die alteren analogen Erscheinungen auf
dem Boden der agyptischen Religion aufgewiesen worden
sind. Die Einfliisse von auflen her sind hier nicht starker,
wahrscheinlich sogar schwacher gewesen, als auf irgend
einem anderen Grebiete des christlichen Lebens und Denkens.
Auf jeder Stufe ihrer Entwickelung hat auch die christ-
liche Menschheit das Lebensideal abstrahiert und als das
hochste proklamiert, welches ihr die Not vorschrieb. Hier
aber traf die soziale, die politische, die religiose Not zu-
Das Mtfnchtum. 99
sammen mit einem langst aufgestellten christlichen Ideal,
welches bald for das apostolische gait.
Es sind jedoch sehr verschiedene Bedingungen und
demgemafl auch verschiedene Vorstufen gewesen, welche
der Ausbildung des Monchtums vorangingen. War es auch
vor alien Dingen der der Kirche ans den Heiden eingeborene
asketische Trieb, den G-eist zu befreien von den vielen
Tyrannen, den groben und den feinen Egoisnms zu iiber-
winden und die arme Seele zu Grott zu fuhren, so spielte
doch andererseits auch ein asketisches Ideal hinein, welches
jenem Triebe mehr entgegengesetzt als verwandt war. In
der alexandrinischen Katechetenschule , welche im dritten
Jahrhundert die hohe Schule der kirchlichen Theologie
iiberhaupt gewesen 1st, sind die Grrundgedanken aus den
Systemen der idealistischen, griechischen Moralisten seit
Sokrates samtlich aufgenommen und bearbeitet worden.
Diese aber hatten den sokratischen Spruch: ,,Erkenne dich
selbst" langst schon in mannigfaltige Regeln fur die rechte
Lebenskunst verwandelt. Die allermeisten von diesen Regeln
lenkten den wahren ,,Weisenu ab von der Greschaftigkeit
im Dienste des taglichen Lebens und von ,,dem lastigen
Auftreten in der OfFentlichkeit". Sie besagten, dafi es fur
den Greist ,,nichts Eigentiimlicheres und Angemesseneres
geben konne als die Sorge fur sich selbst, indem er nicht
nach auBen blickt, sich nicht mit fremden Dingen befafit,
sondern innerlich in sich gekehrt sein eigenes "Wesen an
sich selber zuriickgibt und so die Grerechtigkeit ausiibt".
Hier lehrte man, dafi der Weise, der keines Dinges mehr
bediirfe, der Grottheit am nachsten sei, weil er namlich in
dem Besitze seines reichen Ichs und in der ruhigen Be-
trachtung der Welt des hochsten Grutes teilhaffcig sei, dort
kiindete man, dafi der Greist, der sich vom Sinnlichen be-
freit habe und in steter Betrachtung der ewigen Ideen lebe,
schliefilich auch der Anschauung des Unsichtbaren ge-
wurdigt und selbst vergottlicht werde. Diese Weltflucht
7*
100 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
1st es gewesen, welche auch die kirchliclien Philosophen
Alexandriens ihre Schiller gelelirt haben, vor alien anderen
Origenes. Man braucht nur den Panegyricus des Gregorius
Thaumaturgus auf seinen groflen Lehrer zu lesen, urn zu
erkennen, wo die Vorbilder for diese weltfliichtige Lebens-
weisheit, welche an den Theologen geriihmt wird, zu snchen
sind. Niemand kann leugnen, dafi diese Art Weltnucht
eine spezifische Verweltlichung des Christentums in sich
schliefit, und dafi der selbstgeniigsame Weise so ziemlich
das G-egenteil von der armen Seele ist. Aber niemand
kann auch verkennen, dafi beide Formen konkret in einer
unendlichen Mannigfaltigkeit sich darstellen und in dieser
Mannigfaltigkeit auch ineinander iibergehen konnten. Und
in diesem Sinne ist namentlich Origenes selbst doch zu den
wirklichen Vatern des christlichen Monchtums zu rechnen.
Es ist ja auch schon bei ihm nicht so, daB er lediglich
das stoische oder neuplatonische Ideal in seiner Ethik zum
Ausdruck gebracht und in seinem Leben verwirklicht hatte,
vielmehr kreuzen sich bei ihm alle ethischen Richtlinien
der Vergangenheit, auch die christlichen. Das eben ist die
weltgeschichtliche Stellung der agyptischen Theologen, die
samtlich Vorlaufer oder Schiiler des Origenes gewesen sind,
dafi sie wie auf dem Grebiete der Dogmatik, so auf dem
der Disziplinierung des christlichen Lebens den mannig-
faltigen Ertrag der bisherigen Erkenntnisformen und prak-
tischen Regeln vereinigt und unter den Schutz der Offen-
barung gestellt haben. Darum sind sie auch die Vater
aller der Parteien in der griechischen Klrche geworden,
welche nachmals hervorgetreten sind und sich bekampft
haben. Wie Origenes mit gleichem Rechte fur den Aria-
nismus und fiir die Orthodoxie angerufen werden konnte,
so kann er auch mit demselben Rechte fur die besondere
Verweltlichung der Theologie der Kirche wie fiir die mon-
chischen Neigungen erst der Theologen, dann auch der
Laien, verantwortlich gemacht werden. Es ist derselbe
Das Mtfnchtum. 101
Mann gewesen, der einen dauernden Frieden des Christen-
tums mit dem Staate auf Erden als wiinschenswert be-
zeichnet und vorausgesagt hat und der zugleich im Schatten
des allgemeinen Friedens die Klosterzelle des frommen, in
sich gekehrten Monchsgelehrten erblicken wollte. Wer aber
nicht fronun und gelehrt war, der hatte doch schon an
seinem G-lauben einen Gregenstand der Beschaulichkeit von
unerschopflichem Tnhalt. Also richtet sich die Forderung
in Wahrheit an alle Christen. Aber es hat doeh fast zwei
Menschenalter gedauert, bis in der immer trager werdenden
Christenheit diese Q-edanken durchschlugen, und niemals
sind sie fur die Massen die entscheidendsten gewesen.
Monchsvereine, wie sie jener Schiller des Origenes, Hierakas,
nach dem Muster, welches Origenes aufgestellt hat, bildete,
waren selten. Not und Uberdrufl am gemeinen Leben ent-
fesselten in elementarer Weise die Bewegung, und die Kirche
Konstantins trieb die, welche der Heligion leben wollten,
in die Einsamkeit und in die Waste.
Am Schlufi der vierziger Jahre des vierten Jahrhunderts
wurde die Bewegung bereits machtig. Schon damals mufi
es Eremiten zu Tausenden gegeben haben. Die Anfange
des eigentlichen Monchtums, wie jeder grofien geschicht-
lichen Erscheinung, sind von Sagen umflossen, und nicht
mehr ist es moglich, Dichtung und Wahrheit sicher zu
scheiden. Das Andenken angeblicher Stifter hat fast nur die
Legende bewahrt. Aber ein Doppeltes wissen wir,und das
geniigt, um die Bewegung im grofien zu kennen und richtig
zu beurteilen. Wir kennen das urspriingliche Ideal, und
wir konnen den Umfang der Weltnucht ermessen. Das
urspriingliche Ideal war: der reinen Anschauung Grottes
teilhaffcig zu werden, das Mittel: absoluter Verzicht auf alle
Griiter des Lebens, dazu gehorte auch die kirchliche G-e-
meinschaft. Man floh nicht nur die Welt in jedem Sinne
dieses Wortes, man floh auch die Weltkirche. Mcht als
ob man ihre Lehren fur unzureichend, ihre Ordnungen fur
Erster Band, erste Abteikmg. Reden: IV.
unangemessen, ihre Grnadenspendungen for gleichgiiltig
hielt; aber man Melt ihren Boden fur gefahrlich und man
zweifelte nicht, alle sakramentalen Griiter durch Askese und
stetige Betrachtung des Heiligen sich zn ersetzen.
Und die Weltkirche selbst, wie stellte sie sich zu dieser
Bewegung? Ertrug sie es, dafl ihre Grlieder es wagten, sich
von ihrer direkten Leitung zu emanzipieren, einen Weg der
Heiligung einzuschlagen, den sie nicht iiberwachte? Duldete
sie es, dafi ihre Sohne auf ihre Lebensordnungen den Schatten
eines Verdachtes fallen lieBen, wenn sie sie auch nicht an-
tasteten? Sie hat keinen Augenblick gezweifelt, sie konnte
nicht zweifeln. Sie hat das Einzige getan, was ihr zu ihrem
Schutze iibrig blieb, indem sie ausdriicklich die Bewegung
billigte, ja ihr das Zeugnis gab, dafi sie das Urbild christ-
lichen Lebens verwirkliche. Die Not, sich im Strudel des
Lebens zu verlieren, der Uberdrufl an dem leeren, gemeinen
Leben, die Aussicht auf ein hohes Grut hatte die Menschen
hinausgetrieben ; die Kirche machte aus der Not recht eigent-
lich eine Tugend. Sie konnte nicht anders; denn sie selbst
hatte, je tiefer sie sich in "Welt, Staat und Kultur ver-
strickte, um so lauter und eindringlicher das gepredigt, was
das Monchtum nun durchfuhrte.
Es ist eine der frappantesten geschichtlichen Beobach-
tungen, dafi die Kirche gerade in der Zeit, wo sie iramer
mehr sich als Rechtsinstitut und Sakramentsanstalt ausbil-
dete, ein christliches Lebensideal entwarf, welches nicht in
ihr, sondern nur neben ihr verwirklicht werden konnte. Je
mehr sie sich mit der Welt einliefi, um so hoher, um so
iibermenschlicher schraubte sie ihr Ideal. Sie selbst lehrte,
dafi der hochste Zweck des Evangeliums die Anschauung
Grottes sei, und sie selbst wufite keinen sichereren Weg zu
dieser Anschauung als die Weltflucht. Indessen, diese Gre-
dankenreihe stellt sich in ihr nur als die disparate Er-
ganzung zu der moralisierenden Verflachung des Christen-
tums dar, der sie sich hingegeben. War ihr Absehen fak-
Das Monchtum. 103
tisch darauf gerichtet, ihren diirftigen sittlichen Regeln und
ihren Kultussatzungen alles unterzuordnen, so reagierte dock
ihre eigene Theologie dagegen. Das Monchtum liefi es bei
der „ Theologie" nicht sein Bewenden haben. Es machte
mit dem Gredanken Ernst, dafl das Christentum Religion sei
und Hingabe des Lebens von dem Individnum fordere. Es
1st aber ein Beweis fur die aufierordentliche Macht, mit der
sich die Kirche bereits in den Gremutern der Menschen fest-
gesetzt hatte, dafl das Monchtum bei seinem Auftreten es
nicht mehr, wie jene Montanisten, gewagt hat, an der
Kirche Kritik zu iiben, ihren Weg als einen Abweg zu be-
zeichnen. Uberschlagt man, welch' eine Begeisterung, welch'
ein Fanatismus sich rasch in den Monchskolonien ausbildete,
so kann man nur staunen, wie sparlich und unwirksam An-
griffe auf die Kirche gewesen sind, wenn sie auch nicht
ganz gefehlt haben. Kaum Einer hat eine Reform der gan-
zen Christenheit verlangt. Die Bewegung konnte eine Re
volution fur die "Weltkirche werden und sie hat in Wahr-
heit ihre Bahnen nicht gestort. Zwar fafite man ein schwe-
res MiBtrauen gegen das kirchliche Amt ; wie viele sind ent-
flohen, als man es ihnen auferlegen wollte! Aber die Ehr-
furcht vor demselben schwand nicht; man furchtete nur
seine Grefahren. Allerdings trat hie und da eine Spannung
ein zwischen Qeistlichen und Monchen; man verachtete
wohl auch die Personen dort, aber nicht mehr.
IV.
Doch greifen wir nicht vor. Tausende waren hinaus
gezogen, und der Ruf der Heiligkeit, Weltliberdrufi und
Arbeitsscheu lockte Tausende nach. Der Motive zum Monchs-
leben gab es viele, namentlich seit der Aufrichtung der
christlichen Staatskirche, seitdem der wahren oder gemachten
Begeisterung kein Martyrium mehr winkte. Schon um die
Mitte des vierten Jahrhunderts war es eine bunte (resell-
104 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
schaft in der Einsamkeit. Die einen waren hinausgezogen,
um wirklich BuJBe zu tun und Heilige zu werden, die andern,
um dafiir zu gelten. Die einen flohen die Gesellschaft und
ihre Laster, die andern den Beruf und seine Arbeit. Die
einen waren einfaltigen Herzens und von unbeugsamem
Willen, die andern waren krank vom Rausche des Lebens.
Dort wollte man reich werden an Erkenntnis und wahrer
Freude, der ,,Philosophie" leben in stillem, geistigem Gre-
nufi, hier wollte man sich arm machen, leiblich und geistig,
und verachtete Vernunft und Wissenschaft. Ergreifende
Bekenntnisse sind auf uns gekommen; aber lauter ertonen
die Klagen iiber die Versuchungen der Welt und die An-
laufe der Sinnlichkeit als iiber die Selbstsucht des Herzens.
Und neben den schweigsamen BiiOer tritt bald der zucht-
lose Schwarmer. Die Zuchtlosigkeit bedurfte einer Fessel,
die Gegensatze forderten eine Organisation. Sie ist fruhe
eingetreten. Man tat sich zusammen zu gemeinsamem Le
ben. Wir finden zwei Formen desselben: Eremitenkolonien
und wirkliche Kloster. Es wurden Ordnungen aufgestellt,
zum Teil sehr harte. Sie zeigen uns nicht nur den Ernst
der Askese, sondern auch schon grobe Ausschreitungen, die
zu bestrafen waren. Dabei wurde hie und da in den Monchs-
kolonien ein Fanatismus wach, der alles Mafi uberschritt.
Wir treffen schon fruhe auf Fanatiker, die den rasenden
Derwischen gleichen, von denen uns die Orient-Heisenden
heute noch erzahlen. Aber auch unter den wahrhaften
Monchen bemerken wir schon im vierten Jahrhundert die
wichtigsten Unterschiede. Zwar die Grundregeln: aus-
schliefiliches Leben mit G-ott, Armut und Keuschheit, wozu
bei den klosterlichen Einsiedlern noch der G-ehorsam trat,
sind bei alien die gleichen. Aber wie verschieden gestalte-
ten sie sich in Wirklichkeit! Lassen Sie mich nur eins
nennen. Die einen, voll Dank, einer verbildeten, unwahren
Kultur entronnen zu sein, entdecken in der Einsamkeit,
was sie nie gekannt — die Natur. Mit ihr leben sie sich
Das MOnchtum. 105
ein, ihre Sehonheit suchen sie auf und preisen sie. Wir
haben von Einsiedlern des vierten Jahrhunderts Natur-
schilderungen, wie sie das Altertum selten hervorgebracht
hat. Wie frohliche Kinder wollten sie ihrem Grott leben in
seinem Garten. In dem Gtarten erblicken sie den Baum
der Erkenntnis, — nicht mehr ist es verboten, seine Friichte
zu brechen — , und so wird ihnen die Einsamkeit zum
Paradies; kein Fluch liegt auf ihrer Arbeit, denn Erkennen
ist Seligkeit. Aber die andern — sie verstanden Askese
anders. Nicht die Rultur, auch die Natur ist zu fliehen,
nicht nur die gesellschaftlichen Ordnungen, sondern der
Mensch. Alles, was Anlafi zur Siinde werden kann — und
was kann nicht Anlafi werden — , ist abzutun, alle Freude,
alles Wissen, aller Menschenadel. Was war die Folge?
Der eine hungerte sich aus bis zum Tode, der andere schweifte
umher, dem Tiere der Wiiste gleich, ein dritter warf sich
in die Siimpfe des Nils und liefi sich von den Insekten
peinigen, ein vierter brachte halbnackt, Wind und Wetter
preisgegeben , Jahre hindurch schweigsam auf einer Saule
zu. So sollte das Fleisch gedampft und gekreuzigt werden;
so wollte man den Frieden der Seele in der Kontemplation
G-ottes erzwingen: Rein sein und Schweigen. Aber sie
selbst mufiten gestehen, dafi die Empfindung des Friedens
nur selten und nur auf Minuten iiber sie kam. Dafiir aber
kamen furchterliche Phantasien, die sich zu konkreter
Wirklichkeit ausgestalteten. Und die Zeitgenossen nahmen
ihre Schilderungen begierig auf. Die alternde Welt ent-
ziickte sich an dem Raffinement der Entsagung und an
den wilden Traumen in der Wiiste hausender Monche.
Was man selbst zu leisten weder den Mut noch den Willen
hatte, wollte man doch in der Vorstellung geniefien. Feuille-
tonisten im Monchsgewande formten Romane und Novellen
aus den wirklichen und ertraumten Erlebnissen schweigen-
der BiiBer. Eine neue Literaturgattung seltsamster Art
begann: die Monchsbelletristik , und Jahrhunderte haben
106 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
sich an ihr erbaut. Auch eine Weise, wie die Weltkirche
die Taten jenes grausigen Heroismus, den ihre Unterlassun-
gen immer wieder hervorriefen, quittierte!
Welche von den beiden, hier nur im Schema gezeich-
neten Arten dieses Monchtums hat aber die Folgerichtigkeit
auf griechisch-christlichem Boden fur sich? Welches Ideal
war unter den geschichtlich-religiosen Verhaltnissen das au-
thentische? Das jener natur- und gottesfrohen Briider, die
in stiller Abgeschiedenheit der Erkenntnis G-ottes und der
Welt lebten, oder das jener heroischen BiiBer? Es ist nicht
billige Konsequenzmacherei, wenn man behauptet: nur das
letztere. Hat man doch in Bezug auf das erstere sofort
auf den Zusammenhang aufmerksam zu machen, in welchem
es mit dem antiken Ideale des Weisen steht. Aber das
geniigt noch nicht : versetzen wir uns in den geschichtlichen
Zusammenhang. Das hochste Ideal kann, so lautete die
allgemeine Ansicht der Zeit, nur aufierhalb der Welt ver-
wirklicht werden, aufierhalb jedes Berufs: in der Askese
liegt es selbst beschlossen. Sie ist zwar Mittel zum Zweck,
aber zugleich auch Selbstzweck; denn sie enthalt in sich
die Grewahr, dafi der BiiBende zur Anschauung Grottes ge-
langt. Sind diese Satze richtig, dann ist alles Halbheit,
was den Kampf bis aufs auCerste hindert; dann muC nicht
nur die Kultur, es muC die Natur, es mufi die G-eschichte,
es muC schliefilich jede zweckvolle sittliche Betatigung als
ein Unvollkommenes , Storendes, beseitigt werden; dann
gilt es den grandiosen Versuch wagen, sich vom Natur-
boden, vom Kulturboden, ja von der Welt des Sozial-Sitt-
lichen zu befreien, um den reinen religiosen Menschen in
sich auf diese Weise rein zu gestalten. Hiermit haben
wir das eigentliche Q-eheimnis, aber auch die Schranke der
alten griechischen Anschauung vom Christentum beriihrt.
Auch der Weltkirche schwebte als hochstes Ideal ein reli-
gioses Leben vor, das den Menschen schon hier auf Erden
liber alle Bedingungen seiner Existenz, also auch iiber die
Das MGnchtum. 107
geschichtlichen und sozial - sittlichen , hinausfiihrt. Nieht
als ob diese gleichgultig waren, oder als ob ihr Gregenteil
ebenso Recht hatte, nein! Aber das Christentum hatte
bister kein neues sittKch.es Leben in der Gemeinschafts-
form verwirklichen konnen, und die sittlichen Maflstabe
des antiken Lebens waren abgeniitzt, an sich unbrauchbar
oder nicht mehr zu finden. Es war nur folgerecht, dafi
darum die Ernsteren, die doch keine Reformatoren waren,
die sittlichen Ordnungen, verwildert wie sie waren, als
Schranken empfanden, Schranken, im G-rnnde nicht bessere
wie die elementaren Bedingungen des Menschendaseins.
Darum wird ein christliches Ideal entworfen, welches an-
geblich rein religios ist — ich mochte sagen wubersittlich".
Nicht anf dem Boden geschichtlich gegebener sozialer Ord
nungen und sittlich zweckvoller Lebensbetatigung soil der
christliche Glaube zu seinem wahren Rechte kommen,
sondern auf dem Boden der Verneinung alles Menschlichen,
d. h. der aufiersten Askese. So soil der zukiinftige Anteil
an der gottlichen Natur antizipiert werden. Das ist der
Hochflug des griecnischen Christentums auch heute noch,
soweit es nicht versteinert oder durch abendlandische Ein-
fliisse in eine andere Richtung gewiesen ist — man kann
ihm die Sympathie nicht versagen, wenn man das tieflie-
gende Niveau der gemeinen sogenannten christlichen Sitt-
lichkeit beachtet, iiber das er sich erheben will, da ihm ein
anderes nicht erscheint — ; aber es ist ein Flug wie ins
Unendliche, so ins Leere. Denn was gewahren wir nun?
Auf der einen Seite eine Weltkirche, unterworfen dem
Staat und bis zur Identitat verkniipft mit dem Volkstum,
ganz wesentlich eine Kultusanstalt mit sparlichstem Einflufi
auf das sittliche Leben ihrer Glieder, keine selbstandigen
Aufgaben mehr verfolgend. Auf der anderen Seite ein
Monchtum ohne geschichtliche Ziele, darum auch ohne jede
geschichtliche Entwickelung. Es ist heute, von einigen
neuern, vielleicht zukunffcsreichen Erscheinungen abgesehen,
1Q8 Erster Band, erste Abteilung. Reden: IV.
wesentlich dasselbe, wie es zur Zeit der altesten byzanti-
nischen Kaiser gewesen. Selbst die aufleren Regeln haben
sieh kaum geandert. Zwar jene extremen Saulenheiligen
sind nicht durchgedrungen — solche Formen konnen nicht
siegen — , aber ihre Sache siegte und darin sind sie durch
gedrungen, dafi noch immer die aufierste Askese fiir die
beste gilt, vor allem aber darin, dafi das griechische Monch-
tmn sich selten zu zweckvoller Arbeit im Dienste der Kirche
und Menschheit entschlossen hat. Die griechischen Monche,
natiirlich gibt es ehrwiirdige Ausnahmen, leben noch heute
wie vor tausend Jahren ,,in stiller Beschaulichkeit und
seliger Ignoranz". Arbeit wird nur gerade so viel geleistet,
als zum Leben notwendig ist; aber noch immer mufi dem
gelehrten Monch der ungelehrte ein stiller Vorwurf sein,
der Naturscheue dem Naturfreudigen, noch immer mufi
dem arbeitenden Eremiten das Grewissen schlagen, wenn
er den Bruder sieht, der nicht arbeitet, auch nicht denkt,
auch nicht spricht, sondern in einsamer Beschauung und
Selbstpeinigung erwartet, dafi ihm endlich der selige Licht-
glanz Grottes erscheine. Und wie im fdnften Jahrhundert
besteht die Spannung fort zwischen Klosterbriidern und
Weltgeistlichkeit. Zwar werden die hoheren Kleriker aus
der Zahl der Klostergeistlichen genommen — das Monch-
turn hat selbst Kaiser und Hof zeitweilig oder dauernd
einen haflliehen Anstrich geben konnen — , aber das andert
nichts an den Beziehungen. Es steht neben der Kirche,
nicht in der Kirche, und es kann nicht anders sein; denn
was sollte es der Kirche leisten, die selbst auf jede eigen-
tumliche Aufgabe verzichtet? Das einzige, woran es leben-
digen Anteil nimmt, ist das Interesse am Kultus der Kirche ;
es malt Heiligenbilder, malt wohl auch Blicher ab. Aber
auch vom Kultus darf es sich emanzipieren; die Kirche
duldet nicht blofi den Eremiten, der sich jahrelang von
ihrer Gremeinschaffc fernhalt, sie bewundert ihn. Sie mufi
thn bewundern; denn er verwirklicht das ihr selbst uner-
Das Mtfnchtum. 109
reichbare Ideal. Ihr Ideal — dafi ich so sage: ihr hoheres
Ideal, denn nun hat sie ein doppeltes ausgebildet: das der
Askese und das des Kultus. Wem die Grabe oder die Kraft
nicht verliehen ist, durch Askese zum Anteil an Grott zu
gelangen, der kann diesen Anteil auch erreichen, indem er
sich im Grottesdienst durch die heiligen Mysterien fullen
laflt. Heilsgenufl gewahrt auch der Kultus, wenn man ihn
pietatsvoll mitmacht und die kirchlichen Pflichten erfullt.
Das Monchtum hat diese Theorie nicht angetastet, sondern
unterstiitzt. Indirekt kam sie ihm ja zu gute.
Zeitweilig hat das Monchtum sich der Weltkirche ge-
nahert, und auch diese hat versucht, es in ihren Dienst zu
nehmen. Zeitweilig ist der Versuch auch gegliickt. Die
grofien Kirchensynoden des fiinften bis siebenten Jahrhun-
derts wissen davon zu erzahlen. Die Dogmatik, welche
sich dort durchsetzte, entstammte zum Teil monchischer
Phantasie und ist auch durch Monchsargumente und Monchs-
fauste verteidigt worden. Aber die Bischofe wurden behut-
samer und scheuten sich, den Fanatismus der Monche auf-
zurufen; denn jedesmal, wo die Weltfluchtigen in den
Streit der Parteien eingriffen, entstand folgerecht eine Re
volution, Krieg und Totschlag. Darum, nachdem sie auch
noch monchisch - frommelnde Imperatoren kompromittiert
und bald darauf die Ideale despotischer Reformkaiser ge-
stiirzt hatten, liefi man sie beiseite. Sie hatten auch nichts
mehr zu tun. Seit dem Ende des neunten Jahrhunderts
haben sie selten mehr eine R-olle in der G-eschichte gespielt.
Weil sie gesiegt hatten, wurden sie auch der Welt und
Weltkirche gegeniiber eine konservative Macht. Wunder-
bar! die Weltfluchtigen schiitzen nun in ihrer Passivitat
Kultus und nationale Sitte! Ihr Fanatismus erwacht, wo
diese angetastet werden. Hier weifi das Monchtum sich
auch im Bunde mit den Massen. Sonst gehen Monchtum
und Weltkirche nebeneinander her, oder vielmehr, wo jenes
dieser die Hand reicht, da stellt es sich auch bedingungs-
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
los dem Staate zur Verfugung. Der Monch-Bischof ist wie
im byzantinischen so im tiirkischen Reich vielfach noch -
doch sind allmahliche Besserungen unverkennbar — ein
Scherge, wohl auch ein Steuerbeamter des Staates. Mit
ilun im Bunde beutet er das christliche Volk aus: er ge-
nieBt die Ehren der hohen Beamten, aber nimmt anch an
der Korruption und den unberechenbaren Geschicken der-
selben Anteil. So hat sich jener Hochflug des Ideals ge-
racht. Man wollte durch den Giauben alle natiirlichen
Bedingungen aufheben, man vermafl sich, auch die sitt-
lichen GHiter dahinten las sen zu diirfen — und mit ge-
brochener Kraft langte man am Boden an. Eine verstaat-
lichte, verweltlichte Kirche, ein geschichtloses Monchtum
unfruchtbarer Askese, zaher Hiiter der nationalen und
kirchlichen Grebrechen, war das Resultat. Die griechische
Kirche behauptet die Pole der Askese und der kultisch-
kirchlichen Pnichtleistung. Das eigentliche Grebiet, das
durch den Grlauben zu regelnde sittliche Berufsleben, fallt
aufierhalb ihrer direkten Beobachtung. Es wird dem Staat
und dem Volksturn. iiberlassen; es ist ja Welt. Jene haben
es nicht schwer gehabt, auf diesem Wege allmahlich die
gesamte Kirche mit Beschlag zu belegen und zum Mittel
fur ihre Zwecke herabzusetzen. Eben weil das Ideal des
Monchtums und der Weltkirche im Kampf mit dem Welt-
staate im achten und neunten Jahrhundert siegreich blieb,
eben darum unterlagen Monchtum und Kirche faktisch und
definitiv dem Staate. Auf der Flucht vor dem Sinnlichen
hat er sie eingeholt, ihr seine Behandlung des Sittlichen
aufgedrungen, aber ihren Kultus sich angeeignet. Der
byzantinische Staat erweist sich so noch immer als eine
Abart des antiken. Aber das Eine war erreicht, dafi, wo
der Staat in offentlichem Recht und im offentlichen Leben
ausdriicklich christliche Gredanken als mafigebende auf-
stellte, er sie in monchischer Fassung aufnahm. Das by
zantinische Gresetzbuch — auch unsere sozial-sittlichen An-
Das Monchtum. Ill
schauungen haben sich von den Harten desselben noch
nicht befreit — 1st z. T. ein seltsames G-emisch romischer,
unbarmherziger Klugheit und monchischer Weltbeurteilung.
Das ist die Greschichte des Monchtums im Morgenlande.
Immer wieder mag man sick erinnern, dafi es auch heute
noch. das Komplement zur verweltlichten Kirche 1st, dafi es
auch heute noch einzelne aus dem gemeinen Treiben rettet,
Heilige in sich birgt nnd das ode Kirchentnm anklagt;
aber das lehrt diese Greschichte, dafi in der abgestuften
Reihe menschlicher Ideale auf dem Grunde des Evangeliums
das Ideal der Beschaulichkeit nnd Weltflucht zur Rettung
der Seele nicht das letzte und hochste sein kann, dafi die
blofi leidende Tapferkeit schliefilich unterliegt, dafi die Welt
ihre Ideale in der Kirche aufrichtet, wenn der Christ sein
eigenes aufierhalb der Welt verwirklichen will. Wohl gibt
es Zeiten, wo das Mafi der Ungerechtigkeit, welches auf
den Handelnden fallt, ein unertraglich grofies ist, und
immer wird es Individuen geben, die so zart besaitet sind,
dafi sie ihr bestes Teil in die Einsamkeit tragen miissen,
um es zu bewahren; aber wo der Notstand zur hochsten
Tugend gestempelt wird, da werden hohe GKiter entwertet,
und schliefilich verliert man auch den Preis, um den man
die dahingegeben. Haben wir es doch in unsern Tagen
erlebt, dafi aus dem Schofie der Kirche Rufilands eine
Personlichkeit wie die des Grafen Tolstoi hervorgetreten ist
— ein Laie, aber als Schriftsteller doch der echte griechische
Monch, dem keine andere Moglichkeit einer Reform der
Kirche vorschwebt, als die eines radikalen Bruchs mit der
Kultur und der Greschichte, und dem alles Sittliche befleckt
erscheint — selbst die Ehe — , sofern es mit dem Sinn-
lichen im Zusammenhang steht. Welch7 ein furchtbarer
Feind der griechischen Kirche einst der Manichaismus ge-
wesen ist, lernt man an den Schriften dieses wunderbaren
Mannes abschatzen! Je ernster es der griechische Monch
mit seinem Christentum nimmt, desto hilfloser steht er
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
der finsteren Anschauung gegeniiber, dafl die Welt ver-
teufelt sei, und schliefilich maG der Monch sich wieder zur
Autoritat der Weltkirche fliichten, um nicht dem Mani-
chaismus zu verfallen.
V.
Wie ganz anders 1st doch die Entwickelnng des Monch
tums im Abendland verlaufen! Ein Blick auf seine Ge-
schichte dort geniigt, um gleich die wesentlichen Unter-
schiede zu entdecken. Erstlich — dort hat das Monchtum
eine wirkliche Geschichte gehabt, and zweitens — dort hat
das Monchtum Geschichte gemacht, Kirchen- und Welt-
geschichte. Es steht nicht nur neben der Kirche und ver-
zehrt sich in stiller Askese und mystischer Spekulation,
nein — es steht mitten inne in der Kirche, ja es ist neben
dem Papsttum auf alien G-ebieten der machtigste Faktor
der abendlandisch-katholischen Klirchengeschichte gewesen.
Man kann das orientalische Monchtum beschreiben vom
vierten Jahrhundert bis auf den heutigen Tag und braucht
doch nur wenige Namen zu nennen; es hat scharf um-
rissene Individualitaten nur selten hervorgebracht. Die
Geschichte des occidentahschen Monchtums ist eine Ge
schichte der Personen und Charaktere.
Der romische Katholizismus zeigt uns in seiner Ent-
wickelung eine fortgesetzte Kette von lebendigen Reformen,
und jede dieser Reformen ist bedingt durch eine neue
Stufe der Entwickelung des Monchtums. Die Stiftung des
Benediktinerordens im 6. Jahrhundert, die kluniazensische
Reform im 11., das Auftreten der Bettelorden im 13., die
Stiftung der Gesellschaffc Jesu im 16. Jahrhundert, sie sind
die vier grofien Marksteine in der Geschichte des abend-
landischen Katholizismus. Immer ist es das Monchtum
gewesen, welches die sinkende Kirche gerettet, die ver-
weltlichte befreit, die angegriffene verteidigt hat. Es hat
Das Monchtum. 113
die erkaltenden Herzen erwarmt, die widerspenstigen Geister
gezugelt, die der Kirche entfremdeten Volker wiederge-
wonnen. Dieser Hinweis allein lehrt, dafi wir in dem
Monchtum des Abendlandes einen Kirchen- und Kultur-
faktor ersten Ranges zu erkennen haben. Wie ist es zu
einem solchen geworden?
VerhaltnismaBig spat und langsam ist das Monchtum
aus dem Morgenland in das Abendland gedrungen; denn
weder die Natur noch die Kultur waren ihm hier guns tig.
Wahrend es um die Mitte des vierten Jahrhunderts schon
weit im Orient verbreitet war und, wie wir bestimmt an-
nehmen durfen, in manchen Gegenden unabhangig von
agyptisehen Einfliissen entstanden ist, hat es im Occident
erst am Ende jenes Jahrhunderts festen FuC gefafit, ja es
ist recht eigentlich aus dem Orient importiert worden. Im
Abendlande sind diejenigen Theologen seine ersten Be-
wunderer gewesen, welche Agypten und Syrien bereist
hatten und mit den ^Griechen" in engster Verbindung
standen, wie Rufin und Hieronymus. Kloster bliihten auf,
namentlich in Siidgallien; aber unter orientalischem EinfluB.
Und es hat das Monchtum gleich anfangs entschiedenen
Widerspruch in der Kirche des Westens gefunden, wahrend
wir von einem solchen im Osten nur sehr weniges ver-
nehmen. Man mufi die Schriften des Sulpicius Severus (um
400) lesen, um zu erkennen, unter welchen Angriffen sich in
Gallien und Spanien das Monchtum damals durchgesetzt
hat. Es fehlte nicht viel, so hatten die verweltlichten Bi-
schofe die Monche wie Manichaer behandelt. Indessen, der
Widerspruch verhallte doch ras<?h; auch im Abendlande
kam bald die herrschende Stimmung dem Monchtume ent-
gegen, und bald war der einst verlasterte Name des recht-
schaffenen Heiligen, Martin von Tours, hochgefeiert. Noch
bevor der grofie Augustin fur das neue Leben eingetreten,
hatte es sich eingebiirgert; unter den Stiirmen der Volker-
wanderung setzte es sich fest. Das monchische Ideal war
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. L 8
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
zunachst in seinen Grundziigen dort und hier das gleiche,
und 1st es durch ein Jahrtausend hindurch geblieben: die
Versenkung in G-ott, die strenge Askese. Namentlich war
es die Virginitat, die auch hier als die wertvollste Voraus-
setzung eines gottgeweihten Lebens gait; erschien sie doch
manchen geradezu als die Quintessenz christlicher Sittlich-
keit. Die agyptischen Anachoreten galten auch dem Abend-
lande alle Zeit als die Vater und Vorbilder des wahren
christlichen Lebens — es gelang doch nicht, ihre Taten
durch die des heil. Martin zu verdunkeln — , und die Er-
zahlungen von ihnen haben viele Menschenalter hindurch
eine stille Mission getrieben in Italien, Gallien, G-ermanien,
ja bis jenseits des Kanals in England und auf der griinen
Insel. Und doch waren die Faktoren bereits im funften
Jahrhundert vorhanden, die dem Monchtum des Abend-
landes eine so ganz andere Bedeutung, eine G-eschichte,
geben sollten. Darauf sei nur im Voriibergehen hingewiesen,
dafi schon die klimatischen Bedingungen des Abendlandes
dem Monchtum teilweise eine andere Lebensweise diktieren
mufiten als im Orient — ,,edacitas in Graecis gula est, in
Gallis natura", hat einer der altesten Patrone des abend-
landischen Monchtums bemerkt. Indessen hiervon abgesehen
— schon seit den Tagen Tertullians, seit dem Ende des
zweiten Jahrhunderts , hatte die innere Entwickelung des
Christentums im Abendland eine andere Richtung einge-
schlagen als im Morgenland. Nicht nur traten die prak-
tisch-religiosen Fragen, die nach der Bufie, der Siindenver-
gebung, dem Kirchenwesen in den Vordergrund, sondern
man lieferte auch die alten HofFnungen auf das herrliche
Weltreich Christi nicht so rasch der blassen theologischen
Spekulation des Orients aus. Man nahm an der letzteren
nur von ferne teil. In den sogenannten chiliastischen Vor-
stellungen bewahrte sich die abendlandische Kirche den
Blick fiir das, was die Kirche Jesu Christi sein soil, und
diese Yorstellungen mufiten um so wertvoller werden, je
Das Monchtum. 115
mehr man im Qegensatz zu den Montanisten das ^Phan-
tastische" abgestreift hatte und die Aussicht auf iiberzeit-
liche Erfiillung der Hoffnungen von selbst verblaflt war.
Auch das abendlandische Monchtum hat im Unterschied
von dem morgenlandischen ein apokalyptisch-chiliastisches
Element bewahrt, welches freilich oft lange Zeit latent ge-
blieben ist, aber in kritischen Momenten immer wieder her-
vortrat. Die kirchlichen Tendenzen des abendlandischen
Christentums hat der heilige Augustin zu einer neuen christ-
lichen Welt- nnd Lebensanschauung zusammengeschlossen.
Die in der Kirche gegenwartige Grnade Grottes zur Grerechtig-
keit und die Kirche selbst sind seine Zentralbegriffe. Die
Kirche, zunachst als Gremeinde der Grlaubigen, dann aber
auch als sichtbare Anstalt, ist das Reich der Grerechtigkeit
und des sittlich Ghiten — das Reich Q-ottes. Beim Zerfall
des antiken Staats im Abendlande, beim Auffcauchen neuer
halb-heidnischer Staaten entwarf er das groflartige Pro-
gramm einer zukiinftigen Greschichte der Kirche. Sie hat
die Menschheit mit Kraften des Gluten, mit der wahren
Grerechtigkeit zu erfullen; sie hat als die sichtbare Er-
scheinung des Reiches Grottes die Reiche der Welt und den
Weltstaat sich dienstbar zu machen, die Nationen zu leiten
und zu erziehen. Nur dort kommt das Christentum zu
seinem Rechte, wo es ein Reich des sittlich Gruten auf
Erden schafft, eine iiberirdische Liebesverbriiderung der
Menschheit. Nur dort kommt es darum zu seinem Rechte,
wo es herrscht; es herrscht aber nicht anders, als indem
die heilige katholische Kirche herrscht. G-eistliche Welt-
herrschaft, ein Gottesstaat der Grerechtigkeit auf Erden,
ist deshalb ein christliches Ideal, ein Ideal fur den Ein-
zelnen und fur das Granze der Kirche. Die alten apokalyp-
tischen Aussichten, die praktischen Tendenzen des Abend-
landes, aber auch die griechischen Spekulationen sind von
Augustin in eine wunderbare Beziehung gesetzt; sie sollen
sich gegenseitig zwar nicht korrigieren, aber begrenzen.
8*
Erster Band, erste Abteihmg. Eeden: IV.
Das christliche Heil erscheint gleichsam in doppelter Ge-
stalt: es 1st ewige selige Anschauung Gottes im Diesseits
wie im Jenseits; aber es ist zugleich in jenem ein welt-
beherrschendes Reich gottlicher Gaben und sittlieher Krafte.
Diese Satze lauteten anders als die muhsam gebildeten
Dogmen griechisch-christlicher Spekulation. Sie wiesen der
Kirche eine selbstandige Aufgabe an neben dem Staate
und fur den Staat. Sie sollte Gott dienen und der Welt.
Diese Aufgabe war ein Problem, der Losung wert und
bediirftig. Das griechische Ideal gibt sich nur darin als
ein Problem, dafi seine Verwirklichung nur annahernd
moglich ist; an sich. ist es eindeutig. Fur jene Auffassung
aber wurde jede Aufgabe zugleich zur Frage, die man in
dem Mafie erst stellen lernte, als man wirldich in ihr ar-
beitete. Das Einzelne in dem Ganzen der christlichen An
schauung, so bestimmt es ins Auge gefafit werden konnte,
oifenbarte sein Wesen und erhielt seinen "Wert doch erst
in den Beziehungen auf anderes, in die es zu stellen war.
Wie verhalt sich der Dienst fur die Welt zu dem Dienste
Gottes; in welche Beziehung ist das Sittliche zu dem Reli-
giosen zu setzen? Die Entdeckung war wieder gemacht,
daB es schon auf dieser Erde wahre Giiter gebe, dafi alles,
was aus Gottes Hand hervorgegangen sei, gut sei, und dafi
der Mensch seine Seligkeit nur in der Hingebung seines
Willens an Gott finde. In dieser Hingebung des Herzens
und Willens durch Glaube und Liebe, welche allein die in
den Sakramenten gespendete, gottliche Gnade bewirkt, wird
der Mensch ein rechtschaffener, erhalt er Freiheit und Ge-
rechtigkeit, das heiBt die sittliche Vollkommenheit. Diese
Yollkommenheit ist zwar ein hochstes Gut, aber sie ist doch
nicht das hochste. Denn die Aussicht gilt noch, daJJ der
Mensch zu Gott erhoben, eine Seligkeit geniefien soil, deren
Art und Wert durch keine Erfahrung des diesseitigen
Lebens im voraus deutlich festgestellt werclen kann. Sie
besteht in dem Schauen Gottes, ja in dem Sein wie Gott.
Das Monchtum. 117
Aber wie verhalt sich dieses religiose Ziel zu dem sittlichen
einer vollkommenen Q-erechtigkeit im diesseitigen Reiche
Grottes? Man kann behaupten, dafi dieses jenem unterge-
ordnet sei und doch praktisch ganz anders verfahren. So
scheint es bei Augustin, und die Kirche auf ihrer Bahn
zur Weltherrschaft ist ihm gefolgt. Sie hat faktisch
fort und fort, indem sie sich selbst mit dem Reiche
Christi zu identifizieren begann, die Sorge fur ihre eigene
Erhaltung und Herrschaft in den Vordergrund geschoben
und die Volker gelehrt, dafi sie die hochsten Griiter bei
ihr zu suchen und zu finden haben. Ln Bewufitsein, die
gottliche Grnade zur Grerechtigkeit allein zu verwalten
und auszuteilen, hat sie im Prinzip niemanden mehr dul-
den konnen, der in Tugendleistung und Askese seine
Seligkeit auf eigenem Wege finden wollte. Im Interesse
der alleinwirkenden Grnade Gottes, welches mit dem
Interesse der Kirche zusammentrifft, hat sie schon im
fiinften Jahrhundert den Wert einer kirchlich nicht be-
vormundeten Askese auch fur den katholischen Christen
in Abrede gestellt. Aber uber Schwankungen ist 'sie hier
nicht hinausgekommen, da sie niemals geleugnet hat, dafi
die Kirche nicht die Seligkeit garantiere, und dafi letzt-
lich der Einzelne allein und ohne den Schutz der Kirche
vor seinem Grott stehen werde. Dem Schwanken dariiber,
wie weit der einzelne Christ selbstandig zu lassen sei
• eine Frage, die fur die Stellung des Monchtums in
der abendlandischen Kirche von entscheidender Bedeutung
sein mufite — entspricht die Unsicherheit in der Schatzung
der biirgerlichen Rechtsordnungen und aller politischen
Formen. Die Kirche ist das Reich der Grerechtigkeit und
Liebe: aufier ihr gibt es nur Unrecht und Hafi. Wie aber
steht es dann mit den Staaten? Sind sie und ihre Rechts-
ordnungen in ihrer Selbstandigkeit doch eigentiimliche
Werte, oder werden sie solche nur, indem sie sich der
Kirche unterordnen oder konnen sie endlich Werte iiber-
Erster Band, erste Abteilung. Reden: IV.
haupt nicht werden? Hat die Kirche zu herrschen neben
dem Staate oder iiber und in den Staaten in rechtlichen
Formen, oder soil sie herrschen, indem sie alle Rechtsord-
nungen unnotig macht? Noch waren diese Fragen nicht
Mar erkannt, aber man lebte in ihnen. Die Greschichte des
abendlandischen KathoHzismus ist die G-escMchte jener Ideen,
bis sie durch die grofien Papste des Mittelalters im Sinne
einer "Weltherrschaft der Kirche verwirklicht wurden.
Wie mufite sich dasMonchtum zu ihnen verhalten? Die
Antwort ist nicht schwer. Entweder es muflte den Versuch
machen, sich mit der Kirche abzufinden und in griechischer
Weise die blofie Vorbereitung anf das Jenseits neben der
Kirche fortzusetzen, oder aber es muflte seine Askese sich
beschranken lassen durch den hoheren Zweck, mitzuarbeiten
an der grofien Aufgabe, die Menschheit durch das Evan-
gelium umzubilden und das Reich Christi auf Erden in der
Kirche zu bauen. Jenes hat nicht aufgehort, dieses ist ein-
getreten. Das abendlandische Monchtum hat teilgenommen
an der Losung der kirchlichen Aufgabe; aber, indem es
sein urspriingliches Ideal des beschaulichen Lebens nicht
opfern wollte, wurden auch ihm die Ideale zu Problemen,
und indem es an den Zielen der Kirche teilnahm, aber
ihren Weg nicht immer mitgehen konnte, erlebte es eine
eigentiimliche Greschichte. Suchen wir uns die Stadien
dieser Geschichte in Kiirze zu vergegenwartigen.
VI.
Die erste neue Stufe seiner Entwickelung hat das Monch
tum im sechsten Jahrhundert in Italien gefunden. Es ist
der heilige Benedikt von Nursia gewesen, der ihm eine neue
Regel gegeben und es zu geordneter Tatigkeit und erspriefi-
lichem Wirken befahigt hat. Erst mufite es selbst reorga-
nisiert sein, ehe es nachdrucklich eingreifen konnte. Auf
den Inhalt gesehen, war die Regel allerdings keineswegs
Das Monet turn.
119
neu. Aber es gab im Abendland am Anfang des sechsten
Jahrhunderts hochst verschiedene und z. T. hochst bedenk-
liche Formen von wM6nchtum". In der Reduktion dieser
Formen auf die zweckmafiigste besteht das Verdienst Bene-
dikts, und noch groBer als das Verdienst war der Erfolg.
Der strenge G-ehorsam, zu welchem die Monche verbunden
wurden, der geordnete Zusammenschlufl , die Opposition
gegen die vagierenden und nichtsnutzigen Monche, die feste
Regelung des taglichen Lebens und die strenge Pnicht zur
Arbeit, zunachst zum Ackerbau, sind beachtenswert. Die
Forderungen des Grehorsams und der Arbeit treffen wir zwar
schon in orientalischen Regeln, sie treten auch in der neuen
Bestimmung zunachst noch nicht an die Spitze, aber sie sind
doch in der Folgezeit vor allem wichtig geworden. Und
welche Yeranderungen brachten sie hervor! Aus den rohen,
zum Teil bereits zersprengten und zerriitteten Monchs-
kolonien entstanden gesetzliche Verbande mit einer Kraft
der Arbeit, die ein Feld der Tatigkeit suchen mufite. Jener
grofie Bischof auf dem Stuhle Petri, Grregor I., selbst Monch
von Kopf und Herzen, hat diese neue Macht in seinen Dienst
genommen und fur die Kirche verwertet. Schon vorher hatte
der ostgotische Minister Cassiodorius, nachdem er sich eines
langen Lebens miide in das Kloster zuriickgezogen , auch
wissenschaftliche Beschaftigung in den Klosterplan auf-
genommen; er selbst hatte damit begonnen, theologische und
geschichtliche Handbiicher fur die Kloster zu verfassen. Vom
siebenten Jahrhundert ab treffen wir Briider vom Orden des
hi. Benedikt weithin im Abendlande. Sie roden Walder aus,
sie schaffen Wiisteneien zu Ackerland, sie studieren mit
bosem oder mit gutem G-ewissen die Gresange heidnischer
Poeten und die Schriftwerke der Greschichtsschreiber und
Philosophen. Kloster und Klosterschulen erbliihen, und eine
jede Ansiedelung ist zugleich ein Mittelpunkt des religiosen
Lebens und der Bildung im Lande. Mit Hilfe dieser
Scharen hat der romische Bischof das Christentum und
12Q Erster Band, erste Abteihmg. Eeden: IV.
einen Rest der alten Kultur dem Abendlande bringen oder
erhalten konnen; durch sie hat er die neuen germanischen
Staaten zu romisch-germanischen umgeformt. Der romische
Bischof — denn weder hatte Benedikt eine solche Tatigkeit
des Ordens ins Auge gefafit, nocli ergab sie sich von selbst
aus seiner Eegel, noch wurde sie von seinen Jiingern be-
wufit als eine Anfgabe vorgestellt. Auf dieser ersten Stnfe
sehen wir vielmehr das Monchtum ganz im Dienste und
unter der Leitung grofier romischer Bischofe und romischer
Legaten, wie des heiligen Bonifazius. Die R/omanisierung
der von ihrem Urspmnge her verstaatlichten frankischen
Kirche, das wiclitigste Ereignis der Epoche, nnd die Ver-
drangung aller nicnt nach der Regel Benedikts geleiteten
Kloster ist dem Orden nur gelungen, indem er sich dem von
Horn aus geleiteten Kirchenwesen unterstellte. ,,Die Mit-
teilung und das "Wirkenlassen seines geistigen Besitzes lag
aufierhalb des Zweckes des Ordens, wenn auch viele Ordens-
briider als Missionare mit grofiem Segen tatig waren, wenn
auch viele andere G-elehrsamkeit aufierhalb ihrer Eloster ver-
breiteten und wenn auch einzelne sich des armen Volkes
erbarmten und es in seiner Sprache schriftlich und miind-
lich belehrten, ermahnten, erschiitterten und trosteten."
Indessen — und diese Erscheinung wiederholt sich nun
immer wieder in der Greschichte des Abendlandes — je mehr
das Monchtum sich brauchen liefi von der Erche und an
ihren Aufgaben teilnahm, desto mehr verweltlichte es selbst
und wurde zu einem Institut der Kirche. Dies mufiten
ernste Monche, die ihr Leben Grott allein geweiht hatten,
am starksten enipfinden. Es blieb ihnen nichts iibrig, als
entweder doch auf die Weltaufgabe zu verzichten, sich
wiederum ganz auf die strengste Askese zuriickzuziehen,
oder dem Orden selbst einschneidende Reformen zu pre-
digen, um dann zu versuchen, die Kanoniker, den verwelt-
lichten Episkopalklerus, zu reorganisieren. Es ist aber fur
das Abendland charakteristisch, dafi die Monche, welche mit
Das Monchtum. 121
rucksicktsloser Entschiedenheit zur griechisclien Askese zu-
riickkeliren , sich bei ihr auf die Dauer nicht beruhigen,
sondern nach langerer oder kiirzerer Zeit sich. aus freien
Stiicken dem G-edanken einer Eeform des Ordens, aber auch
der Weltkirche zuwenden; so vor allem der hi. Benedikt
von Aniane. Doch die Reformversuche des achten und
neunten Jahrhunderts fruchteten nichts. Die Kloster ge-
rieten immer mehr in Abhangigkeit nicht nur von den
Bischofen der Kirche, sondern auch von den Grofien des
Landes. Die Abte warden immer mehr, was sie schon seit
lange gewesen — Vornehme des Hofes; es waren bald nur
Zeremonien, durch die sich Monche und Weltkleriker unter-
schieden. Im zehnten Jahrhundert schien das Monchtum
seine Eolle im Abendland nahezu ausgespielt zu haben, es
schien — von einigen Klostern, namentlich Nonnenklostern,
abgesehen — der Grefahr erlegen zu sein, die im Orient in
dieser Weise iiberhaupt nicht auftauchen konnte: es war
selbst "Welt geworden, gemeine "Welt, um keines Haares-
breite iiber sie erhaben. Papsttum, Kirche, Monchtum
schienen im zehnten Jahrhundert gleichmafiig verfallen.
VII.
Und doch hatte bereits eine zweite Bewegung in der
Kirche, eine zweite Erhebung des Monchtums begonnen.
Sie ging diesmal von Frankreich aus. Das Kloster von
Clugny, gestiftet schon im zehnten Jahrhundert, ist der Sitz
der grofien Reform der Kirche geworden, welche das Abend-
land im elften Jahrhundert erlebt hat. Unternommen von
Monchen, wurde sie zuerst von frommen und klugen Fiirsten
und Bischofen unterstiitzt gegenuber dem verweltlichten
Papsttum, bis sie jener groCe Hildebrand auf griff und sie
als Kardinal und Nachfolger Petri den Fiirsten und der
verweltlichten G-eistlichkeit entgegensetzte. Was das Abend-
land in ihr erhielt, war eine wirkliche Reformation der
122 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
Kirche, nur keine evangelische , sondern eine katholische.
Was waren die Ziele dieser neuen Bewegung? Zunachst
Wiederherstellung der alten Zucht, der wahren Weltent-
sagung und Frommigkeit in den Klostern selbst, sodann
aber erstens monchische Hegulierung der gesamten Welt-
geistlichkeit, und zweitens Herrsqhaft der monchisch regu-
lierten G-eistliehkeit iiber die Laienwelt, iiber die Fiirsten
und Nationen. Die Reform der Monche von Clugny und
ihres gewaltigen Papstes stellt sich zunachst dar als der
wirksame Versuch, das Leben der gesamten Greistlichkeit
moglichst nach monchischen Ordnungen zu regeln. In ihr
erhebt das abendlandische Monchtum den entschiedenen An-
spruch, sich als die christliche Lebensordnung der mun-
digen G-laubigen (der Priester) durchzusetzen und zur Aner-
kennung zu bringen. Darum mufi das M6nchtum im Abend-
lande auf seinen Bahnen inuner wieder mit der Weltkirche
zusammentreffen, weil es nich.t aufhoren kann, selbst An-
spriiche an die ganze Christenheit zu stellen und der Kirche
zu dienen. Die christliche Freiheit, welche es erstrebt, ist
ihm bei allem Schwanken nicht nur eine Freiheit des Ein-
zelnen von der Welt, sondern die Freiheit der Christenheit
zum Dienste G-ottes in der Welt. Wir Evangelische konnen
auch heute noch jenen groBen Versuch mit Sympathie be-
urteilen; denn in ilim dammert das BewuOtsein wieder auf,
dafi es innerhalb der Kirche nur ein Lebensideal und nur
eine Sittlichkeit geben konne, dafi zu dieser darum alle
miindigen Christen verpflichtet seien. Ist das Monchtum
wirklich die hochste Form des Christentums, so gilt es, die
miindigen Bekenner desselben nach der monchischen Eegel
zu disziplinieren , die unmiindigen — und das sind nach
mittelalterlicher Auffassung alle Laien — mindestens zum
G-ehorsam zu bewegen. Diese Gredanken beherrschten Clugny
und seinen grofien Papst. Daher die strenge Einfiihrung
des Zolibats beim Klerus, daher der Kampf gegen die Ver-
weltlichung der Geistlichen, vor allem gegen die Simonie,
Das Mttnchtmn. 123
daher die monchische Zucht der Priester. Und die politische
Weltherrschaft? Man konnte sie von diesem Standpunkte
als ein Snrrogat ansehen, solange und weil die allgemeine
wahrhafte Christianisierung sich nicht dnrchsetzte. Aber
hier beginnen auch die Differenzen zwischen dem Monch-
tum und der reformierten "Weltkirche. Man kann die Ideen
Q-regors und seiner ernsten Freunde so darstellen, dafi sie
nur um eine Nuance verschieden scheinen, und doch fuhrte
diese Nuance zu einem entgegengesetzten Programm. Grleich
anfangs wurden Stimmen laut, selbst unter den unbedingten
Yerehrern des Papstes, die da meinten, man solle sich be-
gniigen mit der Reform der Sitten und der Pflege der
Frommigkeit ; der Kirche kame es nicht zu, nach der Weise
und mit den Mitteln der Staaten zu herrschen. Sie ver-
langten wahrhaftige Riickkehr zum apostolischen Leben,
Wiederherstellung der Urgestalt der Kirche. Es ist nicht
richtig, diese Bestrebungen des Monchtums so aufzufassen,
als bezeichneten sie den Riickschritt auf die Stufe der grie-
chischen Kirche und fielen damit aus dem Rahmen des
abendlandischen Katholizismus heraus; nein — jene Monche
hatten ein positives Programm vor Augen: christliches Leben
der gesamten Christenheit. Aber indem ihnen aus alter
tiberlieferung eine iiberirdische Neu- und Reichsgestaltung
derselben vorschwebte, die auf Erden zu verwirklichen sie
nicht verzichteten , fafiten sie ein schwer iiberwindliches
Mifitrauen gegen das Surrogat, welches der romische Bischof
anbot und anstrebte. In diesem Mifitrauen war der Ab-
scheu enthalten gegeniiber allem in der Kirche, was an
staatliche und rechtHche Ordnungen erinnerte. Der "Wider-
wille gegen offentliche Rechtsordnungen und gegen den
Staat ist fur das abendlandische Monchtum ebenso charak-
teristisch, als es offenbar ist, warum den griechischen As-
keten dieser Widerwille noch fehlt. Aber im elften Jahr-
hundert war die Devotion gegen die Kirche und ihren
Lenker zu machtig, als dafi es zu Konflikten zwischen dem
124 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
reformierten Klerus und dem Monchtum kommen konnte.
In dem Bufisakrament besafl die Kirclie das starkste Mittel,
urn auch das Monchtum an sich zu fesseln. Mit beflecktem
Gewissen und gebrochenen Mutes haben sich manche den
Planen des grofien Monchspapstes gebeugt. Und gerade die
holte er aus der Stille des Klosters hervor, die am liebsten
ihr ganzes Leben Gott geweiht hatten. Er wuflte es, dafl
nur der Monch die "Welt bezwingen helfen wiirde, der sie
flieht und sie los sein will. Die Weltflucht im Dienste der
weltbeherrschenden Kirclie: das ist die erstaunliche Aufgabe,
die G-regor fur anderthalb Jahrhunderte gelost hat. Aber
seine und der reformierten Bischofe Ziele waren bei aller
Politik doch auch geistliche. Nur als solche haben sie die
Massen umgestimmt und entfLammt, entflammt zum Kampf
gegen den verweltlichten Klerus in Oberitalien, gegen
simonistische Fiirsten in ganz Europa. Ein neuer Enthusias-
mus religioser Art bewegte die Volker des Abendlandes,
namentlich die romanischen. Die Begeisterung der Kreuz-
ziige ist die unmittelbare Erucht der monchischen Reform-
bewegung des elften Jahrhunderts. Der religiose Auf-
schwung, welchen Europa erhalten, stellt sich am lebendig-
sten in ihnen dar. Die Herrschaft der Kirche soil auf
Erden durchgefuhrt werden. Es sind die Ideen des welt-
herrschenden Monchs von Clugny, welche den Kreuzfahrern
vorangehen. Und aus dem heiligen Lande, von den heiligen
Statten brachten sie eine neue oder doch bisher nur selten
geiibte Form der christlichen Frommigkeit zuriick — das
sich Yersenken in die Leiden und den Leidensweg Christi.
Die negative Askese erhielt eine positive Form und ein
neues positives Ziel: Eins zu werden mit dem Erloser in
inniger Liebe und in vollkommener IsTachahmung. Ein per-
sonliches Element, vom Herzen zum Herzen wirkend, begann
das reiz- und ziellose Bemiihen der Selbstentaufierung zu
beleben und die schlummernde Subjektivitat zu erwecken.
Auch dem Monchtum verlieh es, wenn auch zunachst nur
Das Monchtum. 125
in einzelnen wenigen Individuen, einen innerlichen Auf-
schwung. Die grofle Anzahl von neuen Orden, welche
gleichzeitig gestiftet wurden, namentlich in Frankreich,
legen von dem allgemeinen Aufschwunge Zeugnis ab. Da-
mals entstanden die Orden der Karthauser, Cistercienser,
Pramonstratenser , Karmeliter und viele andere. Aber ihr
zahlreiches Auffcreten beweist nur, dafl das Monchtum sich
im Bunde mit der Weltkirche immer wieder selbst verlor.
Jeder nene Orden suchte dasselbe auf seine erste Strenge
zuriickzufuhren und aus der Verweltlichung herauszureifien ;
aber indem er der "Weltkirche sich unterwirffc, wird er rasch
von ihr mit Beschlag belegt und abgenutzt. Es ist ein
Beweis fur die Illusionen, in denen man sich bewegte, dafi
die Orden, die zur Wiederherstellung des urspriinglichen
Monchtums gestiftet sind, gleich bei ihrer Stiftung die
Uriterwiirfigkeit gegen die Bischofe ausdriicklich in ihr Pro-
gramm aufgenommen und auf die Losung eigentiimlicher
Aufgaben innerhalb der Kirche und fur die Kirche, so auf
die Seelsorge, von vornherein Verzicht geleistet haben. Im
zwolften Jahrhundert ist die Anhanglichkeit der Christen-
heit und so auch des Monchtums an die Kirche noch eine
vollig naive, der Widerspruch zwischen der wirklichen Gre-
stalt der weltherrschenden Kirche und dem Evangelium,
das sie predigt, wird zwar empfunden, aber immer wieder
zuriickgedrangt, die Kritik an den Anspriichen und an der
Verfassung der Kirche ist noch eine unwirksame. Man
braucht nur den Namen eines Mannes, den Bernhards von
Clairvaux, zu nennen, um wie in einem Bilde alles Grofle
was diese zweite monchische Reform der Kirche hervor-
gebracht hat, aber auch ihre Schranken und Illusionen, zu
erblicken. Derselbe Monch, der in der Stille seiner Kloster-
zelle eine neue Sprache der Anbetung redet, seine Seele
ganz dem ,,Brautigam" weiht, die Weltflucht der Christen-
heit predigt, dem Papste zuruft, dafi er auf dem Stuhle
Petri zum Dienste, nicht zur Herrschaft berufen sei, ist
126 Erster Band, erste Abteilung. Reden: IV.
doch zugleich in alien hierarchischen Vorurteilen seiner
Zeit befangen und leitet selbst die Politik der weltherrschen-
den Kirche. Aber eben deswegen hat das Monchtum der
Kirche in jenem Zeitalter so Grofies leisten konnen, weil
es mit ihr ging- Eine Reform in der Kirche hat es her-
vorgemfen; aber diese Reform schlug schliefllich zur Be-
festigung der Weltmacht der Kirche und damit zu ihrer
Verweltlichung aus. Das war das frappante und doch so
verstandliche Endergebnis. Das Grebiet, auf welchem sich
die Weltkirche und das Monchtum immer wieder traf, war
die Bekampfung aller Anspriiche der Laien, insonderheit
der Fursten, an die Kirche. Das abendlandische Monchtum
empfand dies als 7,Befreiung von der Welt" und stellte sich
deshalb der Kirche in diesem Kampfe zu Diensten. Nur
wenn man dies beachtet, versteht man es, wie derselbe
Mann in jener Zeit aufrichtiger Monch und Kirchenfurst
zugleich sein konnte, wie er iiber die letzten Ziele jener
Bekampfung des Staates sich selbst und andere tauschen
oder im Unklaren halten konnte.
VIII.
Eine neue Zeit kam herauf , der die alten Auffassungen
nicht mehr gewachsen waren. Die Kirche war zu politischer
Weltherrschaft gelangt; sie hatte das Kaisertum und die
alten Staatsordnungen bezwungen oder war doch dem
Siege nahe. Die Ziele und Ergebnisse der ungeheueren
Anstrengungen der Kirche im elften und zwolften Jahr-
hundert waren offenbar geworden. Aber nun regte es sich
in der Laienwelt und bei den Nationen. Sie strebten hin-
aus aus der hierarchischen Bevormundung. In sozialen
Bewegungen, in religioser Sektirerei, in from men Ver-
einigungen, die in der offiziellen Frommigkeit kein Greniige
fanden, in dem Verlangen der Nationen und Fiirsten, ihre
Das MOnchtum.
127
Angelegenheiten selbstandig zu ordnen, kiindigte sich eine
neue Zeit an. Ein Jahrhundert hindorch hat die Welt-
kirclie es vermocht, die Wogen derselben zuruckzudammen.
Eine neue Erhebung in dem Monchtum hat sie dabei
unterstiitzt. Sie ist bezeichnet durch die Stiftung der
Bettelorden.
Die Gestalt des liebevollsten und liebenswiirdigsten
aller Monche, des wundersamen Heiligen von Assisi, strahlt
in der G-eschichte des Mittelalters leuchtend hervor. Doch
wir fragen hier nicht, wie ist er gewesen, sondern was
hat er beabsichtigt, indem er sich in den Dienst Gottes
und seiner Briider begab. Zunachst: er wollte das Leben
der Apostel erneuern, in der Nachfolge ihres armen Lebens
und in der Predigt des Evangeliums. Diese Predigt sollte
Bufie schaffen in der Christenheit und sie wirklich zu dem
machen, was sie auf Grund des Besitzes der heil. Sakra-
mente schon war. Eine Gemeinschaft von Briidern sollte
sich bilden, die, wie die Apostel, nichts besitzen sollte als
BuOe, G-lauben und Liebe, die keinen anderen Zweck haben
sollte, als zu dienen und Seelen zu gewinnen. Hit klaren
Worten hat es der heil. Franziskus nicht gesagt, wie weit
sich dieser Bund erstrecken sollte. Er war kein Politiker
und hat sich selbst nicht ins Regiment gesetzt. Aber was
hatten die durch die BuOpredigt der armen Briider wirk
lich Gewonnenen selbst anders werden konnen, als wieder-
um dienende und predigendreisende Briider? Fur diese hat
der Heilige selbst bestimmte und feste Regeln aufgestellt.
Weder die Einzelnen, noch auch der Verband, der sich zu
wahrhaft christlichem Leben zusammentat, soil irgend
welches Vermogen besitzen. ^Gehe hin und verkaufe alles."
Leben in Gott, Leiden mit seinem Sohne, Liebe zu seinen
Menschen und Kreaturen, Dienstleistung bis zur Aufopfe-
rung des eigenen Lebens, der Reichtum der Seele, die nur
ihren Heiland besitzt: das war das Evangelium des heil.
Franziskus. Hat je ein Mensch in seinem Leben das ver-
128 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
wirklicht, was er gepredigt, so hat es Franziskus getan.
Und — das ist das Charakteristische dieser abendlandischen
Bewegung — die verscharfte Askese, eine Religion des
Herzens und Willens, trieb auch diesmal ihre Jiinger nicht
in die Ode nnd Einsamkeit hinaus, sondern umgekehrt:
die Christenheit, die "Welt, sollte for dieses nene und doch
alte Christentum der BuOe, Entsagung und Liebe gewonnen
werden. Die christliche "Welt — dieser Begriff hatte an
dem Anfang des 13. Jahrhunderts einen ganz anderen
Umfang, als im seclisten und elften. Nicht nur weil der
geographische Horizont sich for das Abendland erweitert
hatte, sondern in hoherem Grade, weil die kleinen Leute
und der gemeine Mann nun zu ihr gerechnet werden mufiten.
Das abendlandische Monchtum war bis zum Schlusse des
zwolften Jahrhunderts auch noch ganz wesentlich eine
aristokratische Institution gewesen. Den Rechten der
Kloster entsprach in vielen Fallen die hohe Abstam-
mung ihrer Insassen. Die Klosterschulen waren in der
Regel nur fur den Adel vorhanden. Dem. groben und ge-
meinen Volk blieb das Kloster so fremd, wie das Herren-
schlofi. Es gab keine volkstumlichen Orden und wenige
volkstumliche Monche. Der heil. Franziskus hat die Mauern
der adeligen Klosterburgen nicht niedergerissen, sondern
neben ihnen Hiitten errichtet fur Arme und Reiche. So
hat er das Evangelium dem Volke zuruckgegeben, das bis-
her nur den Priester und das Sakrament besafi. Aber der
Heilige von Assisi ist der unterwurfigste Sohn der Kirche
und des Papstes gewesen. Im Dienste der Kirche hat er
gearbeitet. So hat er zuerst dem Monchtum — denn zu
einem Monchtum wurde seine Stiftung wider seinen Willen
— eigentiimliche Aufgaben fur die ganze Christenheit zu-
gewiesen, aber im Schofle der Kirche; denn Sorge fur die
Kirche ist Sorge fur das Heil. Clugny und seine Monche
hatten es mit ihrer Reform auf die Greistlichkeit abgesehen;
der heil. Franziskus kannte keine Unterschiede. Ohne
Das Mdnchtum. 129
"Ubertreibung darf man sagen: nicht einen neuen Monchs-
orden hat er stiften wollen — die Welt wollte er um-
wandeln; ein schoner G-arten sollte sie werden, besiedelt
von gottinnigen, christusnachahmenden , bedurfnislosen
Menschen. Die Liebe hat ihm den weitesten Horizont ge-
geben; seine Phantasie verwilderte weder, noch verodete
sie unter der harten Askese; sein Wille, der Kirche und
Ghristenheit zu dienen, blieb bis zuletzt stark und kraftig,
obschon er mit Schmerzen sehen muBte, wie die Kirche
ihm seine Schopfung korrigierte nnd einengte. Hundert-
tausende stromten herzu. Aber was waren Tansende, wo
es Millionen gait? Das Auftauchen der sogenannten Ter-
tiarierbriiderschaft neben dem eigentlichen Monchsorden ist
einerseits freilich schon ein Beweis dafiir, dafi sich dies
Evangelium nicht ohne Kompromisse in der menschlichen
Gresellschaft durchfuhren lafit, andererseits aber doch ein
leuchtendes Zeichen der tiefen Wirkung der franziskanischen
Predigt. Die Tertiarier verblieben im weltlichen Beruf,
in der Ehe und im Besitz ; aber sie pafiten sich dem monch-
ischen Leben so viel als moglich an, hielten sich von dem
offentlichen Leben, seinen Aufgaben und Pflichten zuriick,
und widmeten sich, soweit sie es vermochten, der Askese
und frommen Werken. Diese Institution, die sich ohne
einen ;,Stifter" gebildet hat, ist ein schlagender Beweis fur
den universalen Charakter der franziskanischen Bewegung.
Sekten waren hier vorangegangen ; diese Bruderschaft aber
blieb der Kirche treu. Ja, das Interesse der Laien an dem
Leben und den Sakramenten der Kirche wurde hier er-
weckt; der Gredanke wurde hier leise wirksam, daB der der
Kirche aufrichtig gehorsame und innerlich fromme Laie der
hochsten Giiter teilhaftig wird, welche sie vermitteln kann.
Die Auffassung von einer doppelten, ihrem Werte nach
verschiedenen Sittlichkeit konnte sich von hier aus in die
andere ertraglichere einer nur der Art nach verschiedenen
wandeln. Das tatige christliche Leben kann dem beschau-
Harnack, Reden und Anfsatze. 2. Aufl. I. 9
j_30 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
lichen gleichwertig sein; dieses ist nur der direktere Weg
zum Heile.
Eine in der Hingabe der Seele an Christus neu ge-
stimmte Frommigkeit ging von Assisi aus und bemachtigte
sich der Kirche. Es war die religiose Individualitat und
Freiheit, die erweckt worden war; das Christentum als die
Religion der Armut und Liebe sollte zu seinem Rechte
kommen gegeniiber der Verkiimmerung in Moral und Po-
litik. Die schonsten mittelalterlichen Kirchengesange, die
gewaltigsten Predigten stammen aus dem Franziskaner-
orden und dem ihm verwandten der Dominikaner. Aber
auch der Kunst und der "Wissenschaft gaben sie einen
neuen Aufschwung. Alle die bedeutenden Scholastiker des
dreizehnten Jahrhunderts , ein Thomas von Aquino, Bona-
ventura, Albertus sind Bettelmonche gewesen. Die herr-
lichsten G-emalde der alten italienischen Schule sind von
dem neuen Greiste inspiriert, dem Greiste der Versenkung in
das Leiden Christi, einer seligen Traurigkeit und einer welt-
erhabenen Kraft. Ein Dante, ein Giotto und wiederum ein
Tauler und Berthold von Regensburg, sie alle lebten mit
ihrem christlichen Fiihlen, Denken und Schaffen in den
religiosen Ideen der Bettelorden. Aber was mehr sagen
will — jene Monche stiegen herab zu dem Yolke und zu
den Einzelnen. Fiir ihre Leiden hatten sie ein Auge, fur
ihre Klagen ein Ohr. Sie lebten mit dem Volke, sie pre-
digten ihm in seiner Sprache und brachten ihm verstand-
lichen Trost. Das, was Sakrament und Kultus bisher nicht
schaffen konnten, Heilsgewifiheit, wollte die Mystik der
Orden erzeugen; aber nicht aufierhalb der kirchlichen Grna-
denstatten. Das Auge sollte es lernen, den Heiland zu
sehen, die Seele sollte durch sinnliche Eindrucke seiner
G-egenwart zum Frieden kommen. Aber die ,,Theologie",
die hier ent stand, kiindete auch von der religiosen Freiheit
und Seligkeit der iiber die "Welt erhabenen, ihres Grottes
gewissen Seele. Sie hat in diesem G-edanken die evange-
Das Monchtum. 131
lische Reformation wenn aucli nicht begonnen, so ihr docli
den Weg gebahnt.
Mit Hilfe der Bettelorden, die sie sich dienstbar
machte, hat sich. die Kirche im dreizehnten Jahrhundert
auf der Hohe ihrer Herrschaft erhalten konnen. Sie hat
die Gemiiter ihrer Grlaubigen wiedergewonnen, aber zugleich
ihren eigenen Besitz an den GHitern der Welt, an Wissen-
schaft, Kunst und E/echt, dureh die Tatigkeit der Monche
zum Vollbestand gebracht und geordnet. Damals ist das
kanonische Rechtsbueh abgeschlossen worden, welches alle
Verhaltnisse des Lebens vom Standpunkt der kirchlichen
Weltherrschaft und einer im Dienste der Kirche stehenden
Askese regelt. Es gilt heute in den zivilisierten Staaten
nicht mehr, aber seine Anschauungen wirken noch nach.
In viel hoherem Mafie ist die Philosophie und Theologie,
auch die soziale Politik, noch heute von der Denkweise
abhangig, welche im dreizehnten Jahrhundert in den
Bettelorden zu der virtuosen Ausgestaltung grofier scho-
lastischer Systeme gefuhrt hat. Durch die Bettelmonche
gelang es der Kirche ferner, der sektirerischen Bewegungen
Herr zu werden, welche die Laienwelt ergriffen hatten.
Sie haben die ketzerischen, aber auch die freigeistigen und
evangelischen Vereinigungen des dreizehnten Jahrhunderts
mit Zorneseifer iiberwunden. So machten sie auch hier
gemeinsame Sache mit der weltherrschenden Kirche, der
Kirche der Politik und des Schwertes; ja sie warden ge-
radezu die begiinstigste papstliche Geistlichkeit dem Welt-
klerus gegeniiber. Die Papste statteten sie mit den reichsten
Privilegien aus; sie durften uberall in die regelmafiige
Kirchenleitung und Seelsorge eingreifen. In den Bettel
orden schuf sich der romische Papst ein Werkzeug, um
die Landeskirchen fester an seinen Stuhl zu kniipfen und
die Selbstandigkeit der Bischofe zu brechen. So haben sie
an der Homanisierung der katholischen Kirche in Europa
.den groflten Anteil gehabt und auch die alteren Stiftungen,
9*
132 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
die aus der Benediktinerregel hervorgegangen waren, viel-
fach beeinflufit. Aber so rasch wie nur irgend ein anderer
Orden vor ilmen sind auch sie verweltlicht. Der Bund mit
der Weltkirche war auch dieses Mai dem Monchtume tod-
lich. Er war gleich anfangs — Franziskus hatte sich wie
in ein Verhangnis fiigen miissen — ein auflerordentlich
fester gewesen, um so akuter war der Verfall. Was sie
iiber die "Welt erheben sollte, die Armut, wurde zum Anlafl
spezifischer Verweltlichung fur die, welche es mit ihr nicht
mehr ernst nahmen. Sie sahen sich. angewiesen, auf die
Roheit, den Aberglauben und die Tragheit der Massen zu
spekulieren, und wurden selbst roh , aberglaubisch und trage
wie diese.
Indessen das hohe Ideal, welches der heil. Franziskus
der Christenheit vorgehalten hatte, hat doch nicht unter-
gehen konnen, ohne zuvor den von ihm gestifteten Orden
und die Kirche auf das tiefste zu erregen. Als eine Partei
im Orden auf Milderungen der strengen Armutsregel drang,
da erhob sich eine andere, dem Meister treu, zum Schutze
derselben. Als die Papste fur jene eintraten, da wandten
die Eiferer ihre Kritik gegen das Papsttum und die welt-
herrschende Kirche. Klagen iiber die Verderbtheit der
Kirche aus der Mitte des Monchtums waren schon seit lange
vereinzelt laut geworden; aber sie waren immer wieder
verhallt. Der Kampf der Kirche gegen die Staaten und
ihre Anspriiche hatte das Monchtum bisher stets verlockt,
in dem Programm der Kirche den Anfang zur Verwirk-
lichung seines eigenen zu erkennen. Jetzt aber erhob sich
der Gredanke, der im Monchtume immer geschlummert hatte
und immer wieder unterdriickt worden war. Der Bund
mit der Kirche und dem Papsttum wurde zerrissen. Die
uralten apokalyptischen Ideen tauchten auf; die Papstkirche
erschien als das Babel, als das Eeich des Widerchrists, die
das wahre Christentum, das Christentum der Entsagung
und Armut, verfalscht hat. Die ganze Greschichte der
Das M5nclitum. 133
Kirche erschien plotzlich in dem Lichte eines ungeheuren
Abfalls, der Papst nicht mehr als der Kachfolger Petri,
sondern als der Erbe Konstantins. Es war aussichtslos,
die Kirche zur Umkehr zu bewegen. Nur eine neue Offen-
barung des Greistes konnte retten, und so blickte man hin-
aus auf ein kunftiges ewiges Evangelium christlicher Voll-
kommenheit. Die Kirche hat mit alien Mitteln diese ge-
fahrliche Bewegung unterdriickt. Sie erklarte es fur Ketzerei,
was die Franziskaner iiber die Armut Christi und der
Apostel lehrten, und verlangte Unterwerfung. Ein er-
bitterter Kampf war die Folge. Die Christenheit sah ein
neues Schauspiel: die weltherrschende Kirche im Streite
mit einer aggressiv gewordenen "Weltnucht. Mit dem Mute
von Mannern, die alles geopfert hatten, predigten die Spi-
ritualen dem Papst und den Bischofen die Armut und be-
siegelten ihre Predigt auf dem Scheiterhaufen. Siegreich
und unverandert ging am Ende des vierzehnten Jahrhun-
derts die "Weltkirche aus dem Kampfe mit der Armut her-
vor. So war doch noch einmal am Schlusse des Mittelalters
der schlummernde, aber immer wieder verdeckte prinzipielle
Gegensatz zwischen den Zielen der Kirche und den Zielen
des Monchtums in einer furchtbaren Krisis zu Tage ge-
treten. Aber dieses war unterlegen. Die Stiftung der
Bettelorden war der letzte grofiartige Versuch des Monch
tums im Mittelalter gewesen, sich und seine Ideale in der
ganzen Kirche durchzusetzen und doch mit der Gfeschichte
und der Verfassung dieser Kirche nicht zu brechen. Aber
die Entwickelung des Franziskanerordens wurde eine zwie-
spaltige. Die eine Bichtung gab ihr urspriingliches Ideal
gleich anfangs auf, ordnete sich der Kirche v6llig unter
und verweltlichte sofort, die andere suchte ihr Ideal zu be-
haupten, verscharfte es, stellte es der Kirche selbst entgegen
und erschopfte sich in schwarmerischen Bewegungen, bis
sie unterging. Die Tragik dieser Entwickelung erscheint
vollendet, vielleicht auch aufgehoben, wenn wir gewahren,
134 -Erster Band, erste Abteilung. Beden: IV.
dafi Einzelne aus dem von der Kirche sich emanzipierenden
Orden Rettung beim Staate suchten und im Gregensatz zu
den nicht mehr oder nur teilweise anerkannten Anspriichen
der Kirche nun die Selbstandigkeit des Staates und seiner
Ordnungen verteidigten. Franziskaner haben im vierzehnten
Jahrhundert die staufische Staatslenre wissenschaftlich be-
griindet. Das abendlandische Monchtum, das lekrt dieser
erstaunliche Umschwung, vermag eben auf die Dauer nicht
ohne engen Anschlufi an die Machte der Gresellschaft zu
existieren. Es sucht selbst den Staat auf, wenn ihm die
Kirche versagt ist. Doch diese Bewegung war nur eine
vorubergehende. Im fiinfzehnten Jahrhundert ist es toten-
stille in dem der Kirche vollig unterworfenen Orden; die
unkraftigen Reformversuche erzeugten kein neues Leben.
Im Zeitalter der Renaissance schien das Monchtum sich
selbst — wenige ehrenvolle Ausnahmen abgerechnet — zur
Faulheit und Nichtsnutzigkeit zu verdammen. Und doch
war die neue Kultur, deren Trager freilich oftmals ihren
ganzen Spott iiber das unwissende, knechtisch-demiitige
und heuchlerische Monchsvolk ausschiitteten, den asketi-
schen Idealen nicht durchaus feindlich. Das Bild des
Weisen und Frommen tauchte vielmehr wieder auf, der
sich dem Grenufi stiller Beschauung des Himmels, aber auch
der Welt in friedlicher Abgeschiedenheit vom Larm des
Tages hingibt, der nichts bedarf, weil er im Greiste alles
besitzt. Man machte sogar den Versuch, dieses Ideal wieder
in den herkommlichen Formen des Klosterlebens zu ver-
wirklichen, und er ist nicht uberall fehlgeschlagen. Aber
nur einzelnen Individuen gelang es, die Monchsregel mit
dem Studium Ciceros oder Platos zu vereinen und beiden
zu geniigen. Der weltkundige Grelehrte, der fiir stoischen
Grleichmut oder fiir franziskanische Bediirfnislosigkeit am
Schreibtisch sich begeisterte, war nichts weniger als ein
Monch, und die Kirche blieb trotz aller klassischen und er-
baulichen Abhandlungen wie sie war. Das arme Volk
Das Monchtum. 135
suchte wie in den Tagen, bevor ihm Franziskus den Weg
gewiesen, die Sicherstelhmg seiner Seligkeit in frommen
und enthusiastischen Vereinen aller Art, die zeitweilig der
Kirche von RTutzen, doch eine standige Gefahr for sie
waren.
IX.
Was blieb noch iibrig? Welche neue Form des Monch-
tums war nach alien diesen Versuchen noch iibrig? Keine
mehr oder vielmehr noch eine, die in Wahrheit keine mehr
ist und doch das letzte und in gewissem Sinn auch das
authentische Wort des abendlandischen Monchtums ge-
worden ist. Moglich blieb das Verhaltnis von Askese und
kirchlicher Dienstleistung von vornherein umzukehren, das,
was dem Monchtum im Abendlande immer vorgeschwebt
hatte, aber stets nur mit Zaudern ergriffen worden war,
nun als das selbstgewollte hochste Ziel sofort ins Auge zu
fassen; moglich blieb, statt eines Asketenvereins mit kirch
licher Tendenz eine Kompagnie zu griinden, die keinen
anderen Zweck verfolgen sollte, als die Herrschaffc der Kirche
zu stutzen und auszubreiten. Der Ruhm, diese Mogliehkeit
erkannt, die Weisung der Greschichte verstanden zu haben,,
gebuhrt dem Spanier Ignaz von Loyola. Seine Schopfung,
der Jesuitenorden , die er der Reformation entgegenstellte,
ist kein Monchtum mehr im altesten Sinne des Worts, ja
sie erscheint geradezu als ein Protest gegen das Monchtum
eines Antonius oder Franziskus. Wohl ist der Jesuitenorden
ausgestattet mit all den E-egeln der alteren Orden; aber
in ihm ist das oberstes Prinzip, was die friiheren unsicher
als ein Ziel mit ins Auge gefafit hatten oder sich von den
Verhaltnissen widerwillig aufdrangen lieBen. Im Jesuiten
orden ist alle Askese, alle Weltnucht nur Mittel zum
Zweck. Die Loslosung von der Welt reicht gerade so weit,
als eine solche forderlich ist, um die Welt zu beherrschen,
136 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
politisch durch die Kirche zu beherrschen; denn der ausge-
sprochene Zweck 1st die Weltherrschaffc der Kirclie. Reli
giose Phantasie, Bildung und Unbildung, Grlanz und Armut,
Politik und Einfalt — alles verwertet dieser Orden zur
Erreichung des einen Zweckes, dem er sich geweiht hat.
In ihm hat die abendlandisch-katholische Kirche das Monch-
tum gleichsam neutralisiert und hat ihm eine Wendung
gegeben, durch welche es ihre Ziele vollig zu den seinigen
gemacht hat. Und doch ist auch dieser Orden nicht das
Werk eines kliigelnden, berechnenden Verstandes allein.
Wie er entstanden ist, war er das Produkt einer hohen
Begeisterung, aber einer Begeisterung aus der Kirche her-
aus. die jede evangelische Reformation bereits von sich ge-
wiesen, die sich entschlossen hatte, sich in der Grestalt fiir
immer zu behaupten, die ihr Weltweisheit und Politik auf
dem "Wege einer langen Greschichte gegeben hatten.
Der Jesuitenorden ist andererseits das letzte und authen-
tische Wort des abendlandischen Monchtums. Seine Ent-
stehungj aber auch seine Art liegen durchaus auf der Linie,
welche wir von Benedikt zu den Cluniacensern, von diesen
zu den Bettelorden verfolgt haben. Er hat die Probleme
gelost, welche jene nicht zu losen vermochten, und die
Ziele erreicht, denen sie zustrebten. Eine neugestimmte
Frommigkeit hat er erzeugt, hat fiir sie eigentiimliche Aus-
drucksformen und eine Methode der Aneignung geschaffen,
hat sich mit ihr an die ganze katholische Christenheit ge-
wandt und ist durchgedrungen. Er hat die Laien fur die
Kirche zu interessieren verstanden und ihnen in seiner
Mystik das zuganglich gemacht, was ihnen bisher versagt
gewesen war. Er hat das gesamte Leben der Kirche auf
alien Grebieten durchdrungen und die Grlaubigen dem Papste
zu Fiifien gelegt. Aber der Orden hat nicht nur fort und
fort selbstandige Aufgaben verfolgt im Dienste der Kirche,
sondern er hat sich auch allezeit in einer gewissen Unab-
hangigkeit von ihr zu halt en verstanden. "Wie er die Poli-
Das Monchtum. 137
tik der Papste nacli dem Programm des Papsttums nicht
selten korrigiert hat, so beherrscht er heute mit seinem
Christentum, seinem phantastisch-sinnlichen Kultus, seiner
politischen Moral die Kirche. Nie ist er totes Werkzeug
in der Hand der Kirche geworden, auch ist er nicht in der
"Weise der friiheren Orden zu einem unbedeutenden Dasein
herabgesunken. Dieser Orden hat sich nicht in ein In-
stitut der Kirche gewandelt, sondern die Kirche ist unter
die Herrschaffc der Jesuiten geraten. Das Monchtum hat
wirklich iiber die Weltkirche des Abendlandes den Sieg
davongetragen.
Das Monchtum hat gesiegt - - aber welch ein Monch
tum? Mcht das des heil. Franziskus, sondern ein solches,
welches zuvor das Programm der Weltkirche zu seinem
eigenen gemacht und damit sein Wesen entleert und preis-
gegeben hat. Askese und Weltentsagung sind hier zu
Formen und Mitteln der Politik geworden; sinnliche Mystik
und Diplomatie sind an die Stelle einfaltiger Frommigkeit
und sittlicher Zucht getreten. Materiell vermag dieses
Monchtum seine Echtheit nur noch an der Antithese gegen
die Staaten und ihre Kulturentwickelung, sowie an der
Geringschatzung des Wertes des Individuums zu legiti-
mieren. Unter der Herrschaft des Jesuitenordens ist die
Kirche ganz spezifisch und definitiv verweltlicht; sie setzt
der Welt, der G-eschichte und Bildung, ihren weltlichen
Besitzstand, das Vermachtnis des Mittelalters , entgegen.
Das BewuCtsein ihrer nUberweltlichkeit" starkt sie heute
wesentlich an dem G-egensatze zur Kultur der Renaissance
und Reformation ; aber sie schopft ihre Kraft aus den G-e-
brechen und Mangeln jener Kultur und den Mifigriffen
ihrer Protektoren. LaBt man die negative Stellung der
Kirche zum modernen Staat als Ausdruck ihrer welt-
fluchtigen G-esinnung gelten, so hat das Monchtum in der
Tat in ihr gesiegt; sieht man aber in der Art, wie die
Kirche heute diese Stellung behauptet, eine wesentliche
138 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
Yerweltlichung , so 1st eben das jesuitische Monehtum fur
diese verantwortlich zu macheD. Die anderen Orden kommen
als geschichtliche Faktoren kaum melir in Betracht. Der
Jesuitenorden hat die alteren und die jiingeren fast samt-
lich beeinflufit. Mogen sie nun zu orient alischer Schweig-
samkeit zuriickgekehrt sein, wie die Trappisten, mogen
einige von ihnen, in Weise der alten agyptischen Monehe,
selbst die kirchliche Wissenschaft mit MiBtrauen betrachten
und wider sie eifern, mogen sie ihr zwisclien Welt und
Askese geteiltes Dasein fortsetzen und in sozialer Hilf-
leistung und Rettung Einzelner auch noch Bedeutendes
wirken - - ein kirchengeschiclitliclier Faktor sind sie nicht
mehr. Sie sind abgelost worden von den Jesuiten und —
von den Kongregationen , jenen elastischen und schmieg-
samen Schopfungen , in denen sick der Greist des Jesuiten-
ordens mit den Bediirfnissen und Institutionen der mo-
dernen Gresellschaft verbunden hat. Die im Sinne der
Gresellschaft Jesu geleiteten Kongregationen und die in
eben diesem Sinne arbeitenden unzahligen ?,freien" katho-
lischen Vereine, die weltlich und geistlich, frei und ge-
bunden sein konnen, je nach Bedarf, sie sind in Wahrheit
das moderne katholische Monchtum.
In der Kirche des Abendlandes, die sich sittliche und
politische Ziele gesteckt hat, hat das urspriingliche Monch
tum und seine Ideale auf die Dauer nur einen gebrochenen
Erfolg gehabt. Sofern es sich entschlossen hat, an der
Weltaufgabe der Kirche Teil zu nehmen, hat es sich in die
kirchliche Kompagnie umwandeln miissen, die ihre Freiheit
von der Welt in der weltlichen, politischen Reaktion gegen
die Kultur und die Greschichte bekundet und deshalb die
Verweltlichung der Kirche zum AbschluB gebracht hat.
Das morgenlandische Monchtum hat sich seine Selbstandig-
keit erhalten, aber es ist verodet, das abendlandische ist
wirksam geblieben, aber es ist entleert. Dort scheiterte es,.
weil es die sittlichen Aufgaben fur die Welt mifiachten zu
Das Manchtum. 139
diirfen meinte, hier unterlag es, well es sich einer Kirche
unterordnete, welche Religion und Sittlichkeit in den Dienst
der Politik gestellt hat. Dort wie hier ist es aber die
Kirche selbst gewesen, welche das Monchtum hervorgebracht
und ihm seine Ideale vorgezeichnet hat. Darum ist auch
im Morgenland wie im Abendland, allerdings nach langem
Schwanken und nach sehweren Krisen, das Monchtum
schliefilich zum Hiiter der kirchlichen Grewohnheit und
zum Wachter des kirchlichen Empirismus geworden. Seine
urspriinglichen Ziele sind somit in ihr Gregenteil umge-
schlagen.
"Wohl kann das Monchtum noch heute einzelnen "Welt-
miiden Frieden geben; aber die Greschichte weist iiber das-
selbe hinaus auf die Predigt Luthers, dafi der Mensch die
Nachfolge Christi beginnt, der in seinem Beruf und Stand
durch Grlauben und dienende Liebe mitarbeitet am Reiche
Grottes. Auch dieses Ideal fallt nicht einfach zusammen
mit dem Inhalt der evangelischen Botschaft; aber es gibt
die Bichtung an, in welcher der Christ sich zu bewegen
hat und stellt ihn gegen Selbsttauschung und Unwahrheit
sicher. Es ist, wie alle Ideale, aufgerichtet worden, indem
man einen unertraglichen Notstand zu heben bemtiht war,
und es ist bald verweltlicht und verfalscht worden wie
jene. Aber wenn es nicht mehr sein will, als das Ein-
gestandnis, daB an die Vollkommenheit des Lebens, welche
in dem Evangelium vorgestellt ist, Memand hinanreicht,
und wenn es der Ausdruck dafur ist, dafi der Christ in
jeder Lage der gottlichen Hilfe und Grnade vertrauen darf,
so wird es die Kraft des Schwachen sein und kann auch
zum Friedenszeichen werden im Streite der Konfessionen.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG
REDEN: V
MARTIN LUTHER
IN SEINER BEDEUTUNG FUR DIE GESCHICHTE
DER WISSENSCHAFT UND DER BILDUNG
Rede
bei der Feier zum vierhundertjahrigen Gedachtnis der Geburt Martin
Luthers, gehalten in der Aula der Grossherzoglich-Hessischen Ludwigs-
Universitat in Giessen am 10. November 1883, erschienen in 3. Aufl. 1901
bei Alfred TOpelmann (vormals J. Kicker'sche Verlagsbuchhandlung) in
Giessen.
Einmiitig haben wir uns in diesen liolien Raumen ver-
sammelt, den vierhundertjahrigen Q-eburtstag des deutschen
Heformators , Dr. Martin Luthers, festlich zu begehen.
In der Greschichte unseres Greschlechtes haben die Er-
eignisse — gemeinsam.es Aufstreben und gemeinsamer Me-
dergang — weit haunger Epoche gemacht als die Personen;
aber dafi mit Luthers Wirken eine neue Stufe der Ent-
wicklung begonnen hat, ist zweifellos.
Wenig zahlreich sind die Greister, welche den Hohen
und den Niederen, den Grebildeten und den Ungebildeten
zugleich neuen Sinn und neues Leben erweckt haben; aber
noch heute zehren wir Deutsche, so verschieden wir sind,
allzumal von den Griitern, die uns Luther gebracht hat.
Unsere Alma mater aber schaut in einem zweifachen
Sinne, als deutsche und als hessische Universitat, dankbar
auf zu dem Manne, dessen Name heute auf aller Lippen
ist. Als deutsche Universitat: denn das herrliche Erbe
einer reichen und edlen Bildung, welches zu schiitzen wir
mitberufen sind, tragt unverwischbar den Stempel seines
G-eistes. Als hessische Universitat: denn diese, von einem
hochherzigen Fiirsten gegriindet, ist die erste protestantische
Hochschule Deutschlands gewesen, die erste Hochschule,
die gestiftet ist ohne papstliche Privilegien in dem freien
Greiste Luthers. Und wenn heute die Schranken langst
gefallen sind, welche die deutschen Universitaten nach der
Reformation getrennt hielten, wenn derselbe Geist mutiger
Forschung auf alien eine Statte gefunden hat, so ist das
auch eine Folge der Wirksamkeit des Mannes, der unsere
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
Nation befreit hat, indem er ilire Entwicklung in neue
Bahnen lenkte.
Unsere Nation — denn fur die gesamte Nation nehmen
wir inn in Anspruch und die gesamte Nation fur ihn. In
jenen herrlichen Tagen, da er die Geister erweokte und
wes eine Lust war zu leben", da war das ganze deutsche
Volk, Adel, Burger und Bauer, von ihm gewonnen. Aber
auch heute noch ist Luthers Bedeutung niclit zu ermessen
an dem Bestande und Umfang der Kirchen, die sich mit
seinem Namen schmiicken; nein — uberall tritt sie uns
entgegen, wo wir die Eigenart und Grofie der idealen Giiter
schatzen wollen, die wir als Christen und als Deutsche be-
sitzen. Wir reden mit seinen Worten, wir urteilen nach
seinen Mafistaben und wir finden die Macht seines Geistes
in unseren Vorziigen und in unseren Fehlern wieder.
Aber weiter: fast jede Partei unter uns hat ihren
Luther und meint den wahren zu haben. Die Verehrung
fur Luther vereinigt mehr als die Halfte unserer Nation,
und die Auffassung Luthers trennt sie. Von Luthers Namen
lafit so leicht kein Deutscher. Ein unvergleichlicher Mann
ist er alien, ob man ihm nun aufpafit, um ihn anzugreifen,
oder ob man ihn ruhmt und hoch preist.
Trotzdem — wer kennt ihn selbst und wen verlangt
es, ihn wirklich zu kennen? Man will ihn verehren, wie
man ihn sich wiinscht, als den Trager der eigenen Ideale;
aber im geheimen argwohnt man, daB er doch ganz anders
gewesen sei. Sein Charakter imponiert alien, seine Uber-
zeugungen laCt man dahingestellt sein oder verarbeitet sie zu
kursfahiger Miinze. Ist er so grofi, dafi er uns unbequem
ist? oder sind wir innerlich doch so weit von ihm entfernt,
dafi ein Bedurfnis nach naherer Bekanntschaft nicht mehr
aufkommt? Ist er zu schneidig fur unsere Milde, zu be-
wegt fur unsern Grleichmut, zu iiberzeugt fur unsere Zuriick-
haltung, zu altertiimlich fur uns Moderne? Wie war er
wirklich, der wundersame Mann, der gewaltig wie ein Heros
Martin Luther. 145
und einfaltig wie ein Kind gewesen ist? ohne Klugheit ein
Weiser, ohne Politik ein Staatsmann, ohne Kunst ein Kiinst-
ler, inmitten der "Welt ein weltfreier Mann, in kraftiger
Sinnlichkeit und doch rein, rechthaberisch ungerecht und
doch stets von der Sache getragen, der Autoritaten spottend
und an die Autoritat gebunden, die Vernunft verlasternd
und befreiend!
Nur ein Meister vermag hier Antwort zu geben und
gleichsam die ganze Surame der Existenz Luthers zu ziehen.
Ihr Redner muC sich die Aufgabe beschranken. Welche
Bedeutung Luther in der Greschichte unserer Bildung und
Wissenschaffc gehabt hat, und welcher Wert den reforma-
torischen Ideen hier zukommt, das mochte er Ihnen, so gut
er es vermag, in Kiirze vortragen.
Aber gerade diese Aufgabe hat ihre besondere Schwierig-
keit. Luther hat nichts entdeckt, was der Entdeckung des
Kreislaufs des Blutes oder des Gravitationsgesetzes oder
eines neuen Weltsystems ahnlich ware. Auch seine histo-
rische und philosophische Grelehrsamkeit erhob sich nicht
iiber das Durchschnittliche. Ferner: wir besitzen kein lite-
rarisches Werk von ihm, von dem man sagen konnte: das
ist's — das ist der ganze Luther. Die gottliche Komodie
ist uns Dante, der Faust ist uns in gewissem Sinne der
ganze Groethe: nichts dergleichen besitzen wir von Luther.
Das Werk, welches noch am meisten die ganze Tiefe und
den Reichtum seines Greistes abstrahlt, ist eine Ubersetzung:
die Ubersetzung der Bibel.
Dennoch ware es moglich, eine ansehnliche Summe
von einzelnen wichtigen Erkenntnissen Luthers auf ver-
schiedenen Grebieten der "Wissenschaft zusammenzustellen,
und verbramt mit einer Reihe von Zitaten, in welchen
Luther der freien Forschung das Wort redet und einen
griindlichen Unterricht veiiangt, liefie sich vielleicht ein
eindrucksvolles Bild erzielen. Aber ich muflte fiirchten,
dafi der Reformator selbst es nicht als das seinige aner-
Harnack, Reden und Anfsatze. 2. Aufl. I.
146 Erster Band, erste Abteilung. Reden: V.
kennen wiirde. Ein solclier Luther ware ilnn, urn mit ihm
selber zu reden, nur ein j,gemalter". Nein — von welcher
Seite man auch immer seine gewaltige Personlichkeit in
ihren Wirkungen ins Auge fassen will, man wird ihr nie-
mals gerecht werden, wenn man nicht von Luther, dem
kirchlichen Reformator, ausgeht. Denn er war im vollsten
Sinne eine monarchische Natur. Was er getan und ge-
leistet hat, das ist bei ihm aus dem religiosen Leben heraus-
geboren. Das war das Greheimnis und die Starke seines
Lebens, daC er nahezu niemals aus dem Kreise heraus-
getreten ist, der ihm als kirchlichem Reformator vorgezeich-
net war. Freunde und Gregner haben ihn zum National-
helden, zum Politiker, zum Theologen, zum Stifter einer
neuen Kirche machen wollen. Er ist das alles nicht ge-
wesen, und er hat alien diesen Yersuchen "Widerstand
geleistet. Mit dem Instinkte des Grenius fuhlte er die Be-
schrankung, die ihm jede dieser Tatigkeiten in ihrer Be-
sonderung aufgenotigt hatte. Er hatte Grrofieres zu tun.
Die Frage nach dem Zweck und Ziel des menschlichen
Lebens, nach dem Frieden und der Seligkeit der Grewissen
— sie war das einzig Treibende in seinem Leben. Alles
iibrige, was er geleistet hat, es ist ihm zugefallen. Es war
nicht direkt beabsichtigt; eben darum verkiindete er es,
wenn er darauf gefuhrt wurde, mit derselben Kraft, mit
der er das Evangelium predigte. So blieb er der bahn-
brechende Reformator, weil er sich seiner Grenzen, der
Fortifikationslinie seines Daseins und seines Berufs, bewuflt
geblieben ist.
Damit ist's schon gesagt, in welchem Sinne wir Luthers
Bedeutung fur die Wissenschaft zu wiirdigen haben. Sie
kann in der Hauptsache nur eine indirekte gewesen sein.
Aber dieses Indirekte ist nicht das Greringere, sondern das
Grofiere. Denn nicht der ist der Grrofiere, der einzelnes
IsTeue — sei es auch das Grewaltigste — entdeckt, sondern
der ist es, welcher die Gresimmngen der Menschen zur Er-
Martin Luther.
147
kenntnis der "Wahrheit reinigt und die Hemmnisse wegraumt,
welche die Vergangenheit von Jahrhunderten als elementare
Last auf die Bahnen der Zukunft lagert.
Werfen wir einen Blick anf die geistigen Zustande
beim Ausgang des 15. Jahrhunderts. Vielleicht hat das
Abendland niemals starker unter der Last der Vergangen
heit getragen als in der Epoche, welche dem Auftreten
Luthers nnmittelbar vorherging. Die Kirche war noch
immer die alles beherrschende G-rnndlage der allgemeinen
Ordnung. In ihrem grofien Grefiige allein waren die idealen
Griiter, die Gfesetze, Erkenntnisse und G-ewohnheiten der
Menschen festgestellt. Die groJJte und humanste Idee,
welche das Mittelalter hervorgebracht, die Idee des Papst-
tums, beherrschte noch immer die Gremuter. Sie war durch
eigene Schuld der Papste kompromittiert und tief er-
schiittert worden; aber sie war eigentlich nirgendwo ent-
wurzelt. An der Greschichtsbetraehtung der Zeit lafit sich
das am besten studieren. Noch immer gait die Erde als
das Jammertal, dessen Hegierung dem Papste und dem
Kaiser anvertraut sei, bis die Stunde des Grerichtes schliige.
Die literarischen Widersacher der Papste im 14. Jahrhundert
hatten versucht, den Bann dieser Auffassung zu sprengen.
Aber was sie ihr entgegenzusetzen wufiten, war teils von
ihr selbst erborgt, teils vage und wirkungslos. Im 15. Jahr
hundert, nachdem das Papsttum siegreich aus dem Kampfe
mit den konziliaren Ideen hervorgegangen, beherrscht die
papstliche Legende, wie sie durch den siebenten Grregor
begriindet, durch den dritten Innocenz ausgebaut worden
ist, wiederum die Publizistik. Wohl fuhlte man ihren Druck;
die Politik der Fiirsten hatte sich auch lange schon ihrem
Banne entwunden; aber die Erkenntnis fand keinen Aus-
weg. Sie begann, um die Greschichte zu verstehen, regel-
mafiig bei dem Siindenfall; sie war den kirchlichen Fabeln
gegeniiber fast vollig wehrlos und sie endete konsequent
mit dem Rechte des Papstes uber die Welt — andernfalls
10*
148 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
mit leeren Ausniichten und luftigen Sophismen. Helle Kopfe
deckten zwar dies und jenes Einzelne auf; aber das anderte
nichts an dem Granzen.
Und nun das dogmatische System. Seit mehr als
tausend Jahren hatte sich an demselben wenig geandert.
Wie die Vater der alten Kirche, vor allem Augustin, das
groJ}e Grefuge konzipiert und gezimmert hatten, so war es
geblieben: das neue Testament mit dem Testament der Antike
seltsam und, wie es schien, untrennbar verbunden. Wohl
hatte auf diesem Grunde eine stete Bewegung im Mittel-
alter stattgefunden. Die von den Papsten geleitete Ent-
wicklung der Kirche hatte sich den Bediirfnissen und
Stimmungen der Menschen jahrhundertelang anzuschmiegen
verstanden. Aber seit anderthalb Jahrhunderten schien das
System seine Elastizitat erschopft zu haben: es konnte sich
weder erweiten noch entlasten. In dem Momente begannen
auch der Zweifel und das Mifitrauen zu erstarken. Von
sehr verschiedenen Seiten kamen die Einwiirfe. Aber, ge-
nau betrachtet, bezogen sie sich imnier nur auf Einzelnes,
und wo sie an den Fundamenten riittelten, da stellten sie
sofort nicht nur die Kirche, sondern die Gresellschaft, das
ganze sozial-politische System, in Frage. Wirkliche Revo-
lutionen stiegen drauend auf aus den verschiedenen Schichten
der Gresellschaft. Aber das Programm derselben war in den
positiven Zielen so unklar und undurchfuhrbar, wie in den
negativen radikal. Schwarmerische Frommigkeit hatte es
diktiert. Sie wollte auf den Triimmern der alten Ordnungen
ein Paradies, ein Traumreich, griinden und rechnete auf
himmlische Hilfe. Eine neu gestimmte Heligiositat kiindigte
sich in wilden Bewegungen und in den stillen Kreisen unter
den Laien an. Sie fiihlte sich von der alten Kirche ab-
gestofien und doch wiederum angezogen. Grlaubenssehn-
siichtiger als die Generation, welche seit der Rekonstruktion
des Papsttums im 15. Jahrhundert in Deutschland aufwuchs,
ist kaum je eine andere gewesen. Die ruhelose Frommig-
Martin Luther.
149
keit, das unbefriedigte Suchen, die neuen Formen — Heilige,
Wunder, Bruderschaften und genossenschaftliche Kulte,
kiihne Kritik und rasches Erschlaffen — sie erinnern leb-
haffc an jene grofie Epoche des Altertums, als die Volker
an den Kiisten des Mittelmeeres iinter der Regierung der
Antonine und ihrer Nachfolger sich anschickten, die alteii
Grdtter mit dem Grott der Erlosung zu vertauschen. Hier
wie dort hochste Steigerung und Umformung des Uber-
lieferten, aber noch kein Durchbruch und kein Umsehlag.
Die Wissenschaft. Sie stand augenscheinlich unter dem
Prinzipate der Theologie, die Theologie aber auf der Au-
toritat der Kirche. Die Menschheit war seit einem Jahr-
tausend in der Erkenntnis nicht vorwarts gekommen. Sie
hatte sich geiibt zu distinguieren und zu deduzieren. Sie
lebte in kiinstlerischen Idealen und Illusionen. Aber kaum
irgendwo hatte sie sich weiter bewegt. Was sie in den
letzten Jahrhunderten gelernt hatte, das hatte sie alles ein-
gebaut und eingesponnen in eine kunstvolle Mythologie
von Begriffen. Keine Betrachtung ist kurzsichtiger und
unrichtiger als die, fur diesen Zustand priesterliche Herrsch-
sucht oder die besondere Borniertheit der Theologen ver-
antwortlich zu machen. Man mufi sich nur erinnern, welche
Aufgabe die untergehende Antike der Wissenschaft gesetzt
hatte. Die Theologie sollte der AbschluB und die Krone
des gesamten Welterkennens sein; die Philosophic aber
sollte einerseits die Einleitung zur Theologie bilden, anderer-
seits ihr die Beweise liefern. Beide sollten iiber diese Welt
des Sinnlichen hinausstreben, hinter ihrem Schein das wahre
Sein aufsuchen. Erkenntnis und Andacht zugleich sollten
diesem wahren Sein gelten, dem die Objekte der religiosen
Dogmen einzugliedern seien. Daneben gab es nur eine for-
male Schulung. So war es im Ausgang des Altertums von
den Neuplatonikern verstanden worden, und diese Erbschaft
hat die mittelalterliche Wissenschaft angetreten. Die Theo
logie entbehrte auf diese Weise eines ihr eigentiimlichen
150 Erster Band, erste Abteilung. Reden: V.
G-ebietes. Sie sollte Fundament nnd Spitze des G-anzen
sein. Aber diese Erhebung war faktisch eine schwere Be-
eintrachtigung, nicht nur fur die Weltwissenschaft, sondern
nicht weniger fur die Theologie. Jener Prinzipat beschwerte
sie mit einem immensen Stoff, verwickelte sie in alle denk-
baren Fragen und tauschte sie iiber ihre wirklichen Auf-
gaben. Und in Wahrheit war der Prinzipat der Theologie
doch nur scheinbar. Sie selbst wurde, wie alles andere im
Mittelalter, regiert durch die weltbeherrschende Kirche und
die weltfliichtige Metaphysik. Jede Welterkenntnis , die
sich Her nicht einfiigen liefi, brachte Theologie und Philo-
sophie zugleich zu Fall. Jeder Versuch mufite Verdacht
erregen, in welchem man es wagte, die Welt als etwas
Selbstandiges zu nehmen. Man hatte kein gutes G-ewissen
mehr, sobald man das sinnlich Erkennbare der theologischen
Beleuchtung entriickte. Ohne diese war ja die Welt des
Teufels, waren alle ihre Stimmen Sirenenstimmen, war ihre
Schonheit ein Fallstrick, war die Wissenschaft von ihr
Schwarzkunst und Magie. Selbst noch ein Petrarca hat
sich schwere Vorwurfe gemacht und sich schleunigst in die
Confessiones des hi. Augustinus vertieft, als er einmal ent-
ziickt der heriiichen Natur der Riviera ins Angesicht ge-
sehen. Die Weltfliichtigkeit als die G-rundstimmung des
mittelalterlichen Menschen hemmte alle Wissenschaft. Wo
keine Naturfreudigkeit ist, da ist auch keine Naturerkennt-
nis. So war ein Fortschritt nach keiner Seite moglich.
Aber die Kritik des Verstandes wurde doch immer
raachtiger. Im Unvermogen, die herrschenden Vorstellungen
zu sprengen, geriet man auf die Theorie von der doppelten
Wahrheit, Sie ist das Schlufiwort des Mittelalters. Man
behauptete, eine andere Wahrheit gelte fur die Theologie,
eine andere fur die Philosophie. Es war der Protest eines
formal geschulten Denkens wider die Irrationalitaten des
kirchlichen Dogmas. Aber man tastete dasselbe doch nicht
an; man stellte es urn so entschlossener unter den Schutz
Martin Luther.
151
der heiligen Autoritat der Kirehe. In dieser unertraglichen
Losung des 14. Jahrhunderts zeigt sich der Bann der Uber-
liefemng am starksten. Die Kritik arbeitete mit hundert
Machten im Bunde; in den Augen Unzahliger war die
ganze Scholastik bereits diskreditiert: uberall Empfindung
der Enge nnd des Drucks. Indessen schien das grofie G-e-
bilde der Vergangenheit for ewige Dauer bestimmt zu sein
und allem Widerspruch zu trotzen.
Aber schien es wirklich so? Haben wir nicht iiber-
sehen, dafi bereits seit mehr als einem Jahrhundert, vor-
nehmlich in Italien, sich eine neue Bildung, die Bildung
der Renaissance, entfaltet hatte? Noch jiingst hat ein geist-
voller Schriftsteller genrteilt: ^Bie italienische Renaissance
barg in sich alle die positiven Grewalten, welchen man die
moderne Kultur verdankt." GewiG — man wird zugestehen
miissen, daB ohne die Renaissance das Mittelalter schwer-
lich gesprengt worden ware. Unser moderner Staat, die
Entwicklung von freien nnd eigenartigen Individuen, die
Entzrffernng der Yergangenheit, die Entdeckung der Welt
nnd des Menschen, die Ausgleichung der Stande, die Aus-
bildung einer hoheren Form der G-eselligkeit, die aufiere
nnd innere Verfeinerang des Lebens, vor allem aber die
Fahigkeit, das Konkrete iiberhaupt wieder sehen und in
kiinstlerischer Form zur Darstellung bringen zn konnen,
das alles verdanken wir hanptsachlich der Renaissance.
Aber war das alles und war dies alles sichergestellt? Schon
die G-eschichte der Renaissance vermag uns eines Besseren
zu belehren. Bereits vor der brutalen Hispanisierung Italiens
und vor der Epoche der Kontrareformation war die Re
naissance im Medergang. Woher dieser Niedergang? isfun
— die Wiedererweckung der Antike, der Riickgang auf das
Altertum ist der Kernpunkt im geistigen Leben der Re
naissance. Hier lag ihre Schonheit und Starke, hier lag
aber auch ihre Schwache und Schranke. Die Antike fuhrte
die Humanisten aus der Welt des Mittelalters heraus; aber
152 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
festen Halt und neue Ordnungen vermochte sie ihnen nicht
zu geben. Sie befreite das Leben und Denken von der
kirchlichen Bevormundung ; aber Freiheit von der philoso-
phischen und theologischen hat sie nur in einigen Greistern
erzeugt, die weder die achtungswertesten noch die einnufi-
reichsten waren. Die geistige Luft, in der die Humanisten
atmeten, der Boden, auf den sie den neuen Betrieb der
Wissenschaft stellten, war der Platonismus mit seiner
Mystik, seiner Naturspekulation und Theologie. Die neue
Bildung hat im einzelnen tausend Bande gesprengt und
dauernde Grundlagen gelegt; aber als Weltanschauung hat
sie ihren Jiingern keine andere Wahl gelassen als die
zwischen Frivolitat und Mystik. Die Philosophic, fur welche
man sich in den Grarten der Mediceer begeisterte, war die
platonische. Die Formeln der alten Wissenschaft waren in
ihrer Hohlheit erkannt: das entziickte Auge sah gleichsam
zum ersten Male die Welt und blickte den Dingen freudig
und kiihn entgegen. Aber sobald man die Summe zog,
blieben die Erkenntnisse von demselben lichten Nebel um-
flossen, in welchem das lebensmiide Altertum dieselben ge-
schaut hatte.
Die Renaissance hat weder den Weg zu einer neuen
kraftigen Sittlichkeit gefunden, noch die Grenzlinien ent-
deckt, welche Grlauben und Wissen, Greist und N"atur,
Schonheit und Wahrheit scheiden. Ihr Lebensideal war ein
kiinstlerisches ; eben darum blieb sie unsicher, wo sie sich
iiber das Einzelne zu erheben strebte. Aber eben darum
ist die Kirche des Mittelalters imstande gewesen, sie zu
ertragen. Diese Kirche iiberwindet jede Bedrohung, die
aus der Indifferenz oder Frivolitat, aus dem Asthetischen
oder Mystischen entspringt. So streng abstoCend sich die
alte Bildung der Kirche und die neue der Renaissance ent-
gegenstanden — ein geheimer Zug der Wahlverwandtschaffc
war in einer Hinsicht doch vorhanden, eine Wahlverwandt-
schaft auf wirklicher Verwandtschaft beruhend; denn das
Martin Luther.
153
Grebaude der Kirche war selbst mit den Mitteln der Antike
gebaut worden, und die geheimsten und zartesten Regungen
dort verleugneten ihren Ursprung niclit. Die Renaissance
und der Humanismus sind des Mittelalters nicht machtig
geworden, weil sie es lediglich mit dem Altertum bekampf-
ten. Mochte auch eine feme Zukunft den Uberwundenen
gehoren: zunachst blieb die Kirche mit den kummerlichen
und verzerrten Resten des Altertums Siegerin. Ja sie
wurde der Zufluchtsort fur viele, als die neue Zeit ein un-
erbittliches Dilemma aufnotigte und die Barbarei neben die
Freiheit zu stellen schien.
Da wurde in der Zelle eines deutschen Klosters ein
Seelenkampf siegreich ausgekampft, dessen Folgen unermefi-
liche werden sollten. Innere Unruhe, die Sorge um sein Heil,
trieben Martin Luther in das Kloster. Fromm werden
und genug tun wollte er, damit er einen gnadigen Grott
kriege. ,,Ist je ein Monch gen Himmel kommen durch
Moncnerei", durfte er spater sagen, ,3so wollte ich auch
hineingekonimen sein." Aber indem er alle die Mittel be-
nutzte, welche die mittelalterliche Kirche ihm bot, wuchsen
seine Anfechtungen und Qualen. Er hatte das BewuBtsein
mit alien Machten der Finsternis zu ringen. Wenn ihn
nachmals auf der Hohe seines Wirkens Kleinmut iiberfiel,
so bedurfte es nur der Erinnerung an jene klosterlichen
Schrecknisse, um ihn wieder zu festigen. In dem Systeme
von Sakramenten und Verpflichtungen, dem er sich unter-
warf, fand er die GewiBheit des Friedens nicht, die er
suchte. Er wollte sein Leben fur Zeit und Ewigkeit auf
einen Fels griinden; aber alle Stiitzen, die man ihm anpries,
zerbrachen unter seinen Handen und der Boden wankte
unter seinen FuBen. Nun — er glaubte mit sich und seiner
Siinde allein zu kampfen; aber in Wahrheit rang er zu-
gleich mit der Macht einer tausendjahrigen Uberlieferung,
mit ihren Idealen des Heiligen, mit ihrer Schatzung der
Guter, mit ihren Qualen und Trostungen.
154 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
MEr trug den Kampf in breiter Brust verhiillt,
wDer jetzt der Erde halben Kreis erfiillt;
HSein Geist war zweier Zeiten Schlachtgebiet,
,,Mich wundert's nicht, daJ3 er Damonen sieht."
In solcher Not ging es ihni am Feuen Testamente auf,
was das "Wesen und die Kraft der christlichen Religion sei.
Aus einem weitschichtigen Systeme von Biiflungen nnd
Trostungen, von strengen Satzungen und unsicheren G-naden
fiihrte er sie heraus zu energischer Konzentrierung. Der
lebendige Gott — nicht die philosophische oder mystische
Abstraktion — , der offenbare, der gewisse, der jedem
Christen erreichbare, gnadige Grott. Unwandelbares Ver-
trauen des Herzens auf ihn, der sich in Christus zu un-
serem Vater gegeben hat, personliche Grlaubenszuversicht:
das wnrde ihm die ganze Summe der Religion. Uber alles
Sorgen und Grramen, liber alle Kiinste der Askese, liber alle
Vorschriften der Theologie hinweg wagte er es Grott selbst
zu ergreifen, und in dieser Tat seines G-laubens gewann
sein ganzes Wesen selbstandige Testigkeit. ,,Mit unsrer
Macht ist nichts getan." Er kannte jetzt die Macht, die
unserem Leben Halt und Frieden verleiht, und wufite sich
fur immer in ihr geborgen. Grlauben — das hiefi ihm nun
nicht mehr das gehorsame Fiirwahrhalten kirchlicher Dogmen,
kein Meinen und kein Tun, sondern die personliche und
stetige Hingabe des Herzens an Grott, welche den ganzen
Menschen umschafffc. Das war sein Bekenntnis vom Glauben:
ein lebendig, geschaftig, tatig Ding sei derselbe, eine gewisse
Zuversicht, die da frohlich und lustig macht gegen Gott und
alle Kreaturen, und die da immer bereit ist, Jedermann zu
dienen und allerlei zu leiden. Unser Leben ist trotz aller
TJbel, trotz aller Siinde geborgen in Gott, wenn wir ihm
nur herzlich vertrauen wollen: das wurde der Grundge-
danke seines Lebens. In diesem hat er den anderen mit
gleicher Gewifiheit erkannt und erlebt, den Gedanken von
der Freiheit eines Christenmenschen. Diese Freiheit war
Martin Luther.
155
ih.ni nicht erne leere Emancipation oder der Freibrief fur
jegliche Subjektivitat, sondern Freiheit war ihm die Herr-
schaft iiber die Welt in der Gewifiheit, daB, wenn Gott fur
nns ist, niemand wider uns sein kann; frei von alien mensch-
lichen Gesetzen war ihm die Seele, die in der Liebe Gottes
ihr hochstes Gesetz und das Motiv ihres Lebens erkannt
hatte.
Wohl hat er von den alten Mystikern gelernt; aber er
hat gefunden, was sie suchten. Sie blieben stecken in er-
habenen Gefuhlen und brachten es nicht zur dauernden
Empfindung des Friedens. Er drang durch zu einer aktiven
Frommigkeit und zu seliger GewiGheit. Er hat das Recht
des Individuums zunachst fur sich selber erkampft; die
Freiheit des Gewissens hat er erlebt. Aber das freie Ge-
wissen war ihm das innerlich gebundene, und das Recht
des Individuums verstand er als die heilige Pflicht, es
mutig auf Gott zu wagen und dem Nachsten selbstandig
und selbstlos in Liebe zu dienen.
So wurde er der Anfechtungen ledig. Aber was er
gefunden, das stellte sich ihm nicht als neue Lehre dar;
im Gegenteil: er glaubte jetzt nur die alte Wahrheit er
kannt zu haben, die eine uble Praxis und eine falsche Ge-
lehrsamkeit verdeckt gehalten hatten. Seine Pietat gegen
die alte Kirche behauptete sich zunachst unerschiittert: so
blieb er denn auch weiterhin noch ein Monch, und nur an
der steigenden Freudigkeit, mit welcher er den neuen Lehr-
beruf in Wittenberg versah und sich in mancherlei Ge-
schaften seines Ordens bewegte, zeigte es sich, dafi er ein
Anderer geworden. Wahrlich! dieser Reformator ist das
Gegenbild zu alien leichtfertigen und vermessenen Reformern.
Durch schwere Erfahrungen ist er erst in der Position fest
geworden und hat an einen Angriff auf das Bestehende
durchaus nicht gedacht. Aber eben die Position macht den
wahren Reformator. Er bedarf einer personlichen Idee, die
zunachst ihn selbst vollig erfafit und bemeistert. Aber er
156 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
bedarf noch mehr. Er bedarf vor allem der unmittelbaren
Einsicht in das, was den Bau der Gresellschaft zusammen-
halt. Er mufl die neue Stiitze immer schon in Bereitschaft
haben, wenn er die morsche, alte wegnimmt. Sonst ist der
erste Angriff entweder der Beginn eines allgemeinen Zu-
sammenbmch.es, oder der kiihne Neuerer wird selbst bei
seite geschleudert. Nun — das ist das Grofiartige an
Luther, in welcher Umsicht und Stetigkeit er vorgeschritten
ist aus der Peripherie bis ins Zentrum. In einer bewun-
derungswiirdigen Folgerichtigkeit entwickelte sich sein An-
griff auf das herrschende System in den sechs Jahren von
1517 — 23. Das war keine kluge Berechnung; es war die
segensreiche Folge der Pietat, mit welcher er selbst an dem
tiberlieferten hing. Ihm waren die alten Hiillen teuer; er
hat sie sich selbst Stuck fur Stuck vom Leibe reifien miissen,
er hat mit schweren, inneren Kampfen, mit seinem Herz-
blute, jeden Protest und Angriff bezahlt. Man hat ihm
nicht mit Unrecht Unsicherheiten und Schwankungen in
seinem Auftreten bis 1521 vorgeworfen, namentlich in seinem
Verhaltnis zum Papst. Aber man hat dabei nicht bedacht,
wie ehrenvoll fur ihn dieses Schwanken gewesen ist, und
wie der Erfolg der Reformation davon abhing, dafi er sich
nicht uberstiirzte.
Erst als er die ganze Verwirrung der G-ewissen em-
pfunden hatte, erst als er die babylonische Grefangenschaft
erkannt hatte, in welche das Evangelium und das deutsche
Volk durch das Papsttum gefiihrt worden war, erst dann
brach in ihm mit dem heiligen Zorn der Furor teutonicus
los und entlud sich in furchtbaren Schlagen. Wie bescheiden,
aus dem nachsten Kreise seines Berufes heraus, hatte er
angefangen. Die Aufnahme des Thesenstreites mit Tetzel
war seine Pflicht als "Wittenberger Seelsorger und Professor
gewesen. Zur BuBe hat er sein Yolk da gerufen und die
Kraft des Evangeliums der Kraft der Ablasse entgegen-
gestellt. Dann aber hatten ihn, wie er selbst angibt, die
Martin Luther.
157
Gegner beriihmt gemacht und zugleich immer welter ge-
trieben. Sie schlugen in die Kohlen: diese sprangen umher
und ziindeten. Sie sucliten zu loschen, und sie zeigten
Luther damit den Umfang des Brandes. Er hat sich nicht
zum Reformator aufgeworfen — wer darf das? — , sondern
dieser Beruf ist ihm aufgezwungen worden. Aber an jenem
weltgeschichtlichen Tage zu "Worms, da er vor Kaiser und
Reich gestanden, da hat er das Szepter des Reformators
erhalten und genommen. Jenes beriihmte ^Ich kann nicht
anders" war das innerste Grestandnis seiner Seele. Das Gre-
waltige und Grute tut nur, wer nicht anders kann. Den
Schrecknissen, die jeder Umsturz zur Folge hat, vermag
nur der ins Auge zu sehen, dem wider das Grewissen zu
handeln der hochste Schrecken ist.
Die ernsten Folgen des Protestes zeigten sich nicht
gleich anfangs. Ein Greistesfriihling zog uber die deutschen
Lande. Was sich nach Freiheit und Aufklarung sehnte,
das begruflte begeistert den Reformator. Zu Niirnberg
protestierten die Stande des deutschen Volkes einmiitig
wider das alte System. Die verschiedenen unkraftigen
Versuche zur Reform der Kirche, der Gesellschaft, der
"Wissenschaft, sie schossen gleichsam zusammen und schie-
nen nun einen Krystallisationspunkt gefunden zu haben.
Aber bald wurden auch alle selbstsiichtigen Begehrungen
und "Wunsche der Menschen entbunden. Jeder Stand —
Fiirsten, Magistrate, Adel, Burger und Bauer — hoffte bei
der ungeheuren Bewegung zu gewinnen. Das ,,Evangelium"
drohte das Schlagwort zu werden fur alle denkbaren Frei-
heiten, von der Freiheit eines Christenmenschen bis herab
zur wilden Freibeuterei. Ernste Manner, die zuerst ge-
wonnen gewesen, wandten jetzt der neuen Sache emport
wieder den Rucken. Denn mit der Entwurzelung der alten
Vorstellung von der Kirche war alles ins Schwanken ge-
raten. Hat Kopernikus das alte ptolemaische Weltsystem
gestiirzt: der Umsturz des Kirchensystems war zun'achst
158 Erster Band, erste Abteilung. Reden: V.
von ungleich bedeutenderen Folgen. Er griff in alle Ver-
haltnisse der G-esellsehaft, des Staates, der praktischen
Weltanschauung, des Kultus und der Sitte ein. Die Kirche
nicht mehr unfehlbar, ein Grebaude, an dem auch Irrtum
und Siinde gezimmert — welche Autoritat sollte noch gelten,
wenn die Saule der "Wahrheit zusammenbrach? Alle Ord-
nungen des Grlaubens und Lebens gerieten in Verwirrung.
Die Fundamente der Gesellschaft schienen zu wanken.
Aber Luther kannte einen festen Boden, auf den er
sich und sein Volk stellen wollte, das Wort Q-ottes, und er
wuBte von einer Kraft, machtiger im Bauen als im Nieder-
reiGen, der lebendige Grlaube. ?,Staunenswert", hat ein
grofier Historiker gesagt, ,,ist der Ernst, die Tiefe, die
Wahrhaftigkeit des Greistes, der in sich gerungen, bis er
jene Erkenntnis fand und begriff und sich mit ihr erfdllte;
staunenswiirdiger, daB er angesichts der ungeheuren Be-
wegung, die sich auf ihn berief , auch nicht einen Augen-
blick irre geworden ist.u Luther ist kein eitler Volksmann
geworden, als die Wogen einer allgemeinen Begeisterung
ihn erhoben, und er hat nicht verzagt, als er sein Schiff
durch wilde Wellen steuern mufite. Er fuhrte nicht seine
Sache; das Seelenheil der ganzen Nation trug er auf dem
Grewissen. Diese Verantwortung — wer von uns kann sie
nachempnnden? — erhob ihn iiber alle Bedenken; sie stahlte
seinen Mut und sie legte ihm die neue Sprache des Zorns
und der Liebe, trotziger Mannlichkeit und kraftvoller Sim-
plizitat auf die Lippen. An seiner Person lag ihm nichts.
Wohl wufite er sich als ein auserwahltes Riistzeug: ?)Mar-
tinus Luther im Himmel, auf Erden und in der Holle wohl-
bekannt" — aber von jedem selbstischen Interesse war er
frei. ?)Gott kann zehn Doktor Martinus' schaffen, wo der
einige alte ersoffe": in diesem Vertrauen auf seine Sache
war er taglich bereit zu sterben.
Diese Sache war ihm ganz und gar das Wort Qottes,
das Evangelium. Mochten Andere hunderte von Nebenab-
Martin Luther. 159
sichten haben, reine und unreine, er kannte nur diesen
einzigen Leitstem. Keine Menschensatzungen sollten mehr
gelten, sondern nur das Wort Grottes. Grewifi, es war die
segensreichste Entlastung, es war ein ungeheurer Fortschritt.
Er bedeutete niclit nur den Bruch mit der Kirche des
Mittelalters, sondern in Wahrheit auch die Auseinander-
setzung mit der Kirche des Altertums, mit dem Katholizis-
mus, der sich in die Trummer der Antike eingebaut hatte.
Wie die Humanisten den Ruckgang auf das klassische Al-
tertum lehrten, auf die Quellen aller Bildung, so verkiindete
Luther den Ruckgang auf das Evangelium, auf die Quelle
der Religion. Was christlich 1st, das sollte nun nicht mehr
zweifelhaft sein. Keine priesterliche Greheimwissenschaft,
kein wiistes Gremenge von Satzungen unter dem Schutze
des Heiligen — nein jeder Laie, jeder schlichte Christ sollte
in den Stand gesetzt sein, zu prufen und zu erkennen,
was christlicher Grlaube ist. Das Wort Grottes nach dem
reinen Verstande. In dieser These war die unbefangene
Ermittelung des wirklichen Wortsinnes der heil. Schrift
gefordert. Jede willkiirliche Auslegung nach MaBgabe von
Autoritaten war abgeschnitten. Luther hat, soweit er zu
sehen vermochte, mit dieser Forderung Ernst gemacht.
Er konnte freilich nicht ahnen, wie weit sie fuhren wurde.
Aber seine methodischen Grrundsatze vom j,Dollmetschen",
sein Respekt vor den Sprachen haben die Schriftwissen-
schaffc begriindet.
Doch das ist nur die eine Seite der Sache. Sie barg
in sich ein schweres Problem; denn — was ist die Bibel?
ist sie nicht selbst ein Stuck der kirchlichen IJberlieferung?
deckt sie sich so einfach mit dem Evangelium Christi? war
es iiberhaupt moglich, dies komplizierte Buch, so wie es
ist, zur unmittelbaren Bichtschnur des Grlaubens und Lebens
zu erheben? Was liefi sich nicht aus der Bibel erweisen?
berief sich nicht auch die herrschende Kirche fur Grlauben
und Leben auf die Bibel?
100 Erster Band, erste Abteilung. Reden: V.
GewiB! Aber liier traten fur Luther zwei mafigebende
Gredanken ein. Er hat sie nicht in systematischer Klarheit
durchgedacht, aber in lebendiger TJberzeugung gehandhabt.
Er hat den einen in entscheidenden Momenten seines Le-
bens aus den Augen verloren, aber er hat sich doch immer
wieder auf ihn besonnen.
Der eine war die Erkenntnis, dafi der christliche Grlaube
ausschlieBlich an Grott und an die Person Christi gebunden
sei, und daB daher nicht der Buchstabe der Schriffc ver-
pflichte, sondern allein das Evangelium, welches sie enthalt.
Der andere war die Grewifiheit, dafi alle selbsterwahlten
Formen der Frommigkeit vom Ubel seien, dafl die Bewah-
rung der Religion daher in den groflen Ordnungen des
menschlichen Lebens, in Ehe, Familie, Staat und Beruf,
erfolgen musse. Eben weil er davon durchdrungen war,
dafi kein Mensch urn Grottes willen etwas tun konne und
diirfe, eben weil er das ganze Verhaltnis des Menschen zu
Grott nicht auf ein Tun und nicht auf ein Wissen, sondern
lediglich auf die glaubige Gresinnung griindete, so erkannte
er keine Ubungen als wertvolle mehr an, die angeblich in
besonderem Sinne ,,G-ottesdienst" sein sollten. Es gibt nur
einen direkten Grottesdienst: das ist die kraftige Zuversicht
auf Grott; sonst gilt die ausnahmslose Regel, dafi man Grott
in der Nachstenliebe zu dienen habe. Weder mystische
Kontemplation noch asketische Lebensfiihrung liegen in
dem Evangelium beschlossen.
Es ist ausdriicklich zu konstatieren , dafi diese beiden
Grrundgedanken sich fur Luther aus dem Religionsbegriff
ergaben, wie er ihn erfafit hatte. Die Freiheit vom Gesetz
des Buchstabens und das Recht der natiirlichen Lebens-
ordnungen — sie waren fur ihn keine selbstandigen Ideale.
Aber sie fielen ihm zu, indem er das Evangelium durch-
dachte, verkiindete und anwandte. Die Wirkungen waren
unermefiliche; denn es war nun mit einem Schlage die
Religion aus der Verkuppelung mit allem ihr Fremden
Martin Luther. 161
befreit und zugleich das selbstandige Recht der natiirlichen
Lebensgebiete — darum auch der Wissenschaft von ihnen
— anerkannt.
Die Religionslehre soil nun nichts anderes mehr sein
als die Darlegung des Evangeliums , wie es die christliche
Gremeinde erzeugt hat und zusammenhalt. Ihre Grewifiheit
soil nicht mehr beruhen auf einer aufieren Autoritat, aber
auch nicht auf philosophischen Erwagungen. Die Philoso-
phie ist nicht mehr die gefurchtete Dienerin der Theologie,
sondern ihre Bemiihungen sind unabhangig von jeder theo-
logischen Bevormundung. Tiber dem grofien Grebilde, wel
ches wir Mittelalter nennen, iiber diesem Chaos unselb-
standiger und in sich verschlungener Grestaltungen, schwebte
der Greist des Grlaubens, der seine eigene Natur und darum
seine Schranken erkannt hatte. Unter seinem Wehen rang
sich alles, was ein Recht auf freie Greltung hatte, zu selb-
standiger Entfaltung empor. Vor Luther hat kein Anderer
so klar und entschieden die grofien Grebiete des Lebens ge-
trennt. "Wunderbar! dieser Mann wollte die "Welt nichts
Anderes lehren als was das Wesen der Religion sei; aber
indem er ein Grebiet in seiner Eigentiimlichkeit erkannte,
kamen alle anderen zu ihrem Rechte.
Der Staat — nicht mehr ein fatales Grebilde aus Zwang
und Not, bestimmt sich an die Kirche anzulehnen, sondern
die souverane Ordnung des offentlichen gemeinschaftlichen
Lebens; das Recht — nicht mehr ein undefinierbares Mittel-
ding zwischen der Macht des Starkeren und der Tugend
des Christen, sondern die selbstandige, von der Obrigkeit
gehiitete Norm des Verkehrs; die Ehe — nicht mehr eine
Art von kirchlicher Konzession an die Schwachen, sondern
die gottgewollte, aber von jeder kirchlichen Bevormundung
freie Verbindung der Greschlechter, die Schule der hochsten
Sittlichkeit; die Armenpflege und Liebestatigkeit — nicht
mehr ein tendenzioses Gretriebe zur Versicherung der eigenen
Seligkeit, sondern der freie Dienst am Nachsten, der in der
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. I. 11
Erster Band, erste Abteilung. Reden: V.
wirklichen Hilfleistung seinen letzten Zweck und seinen
einzigen Lohn sieht. Aber iiber das Alles: der biirgerliche
Beruf, die schlichte Tatigkeit in Haus und Hof, in Greschaft
und Amt — nicht mehr die mifltrauisch beurteilte, weil
vom Himmel abziehende Beschaftigung, sondern der rechte
geistliche Stand, die Sphare, in welcher sich die Gresinnung
und der Charakter zu bewahren liat.
Nun — alle diese TJberzeugungen sind heute Q-emein-
gut bei uns geworden; aber nur zu haufig wird es ver-
gessen, durch wen sie zu kraftigem Leben geweckt worden
sind. Wir behaupten sie heute unabhangig von jedem
religiosen Grlauben, und es scheint vielleicht den Meisten
unter uns, dafi sie desselben vollig entbehren konnten. Ja
in Hinblick auf die irrationalen Formen des Klrchenglaubens,
welche Luther nicht aufgegeben hat, stellt sich wohl, bald
mehr bald minder deutlich formuliert, das Urteil bei Vielen
ein, die Reformation an und fiir sich sei eine Reaktion ge-
wesen, die mehr geschadet als geniitzt habe; der Fortschritt
sei neben ihr und unabhangig von ihr durch eine Reihe
giinstiger Konjunkturen entstanden. Ein Moderner hat
das jiingst also ausgedriickt: ,,Eine Vergleichung zwischen
dem alten und dem neuen Kirchenglauben zeigt keinen
Kulturgewinn. In der romischen Kirche war der Begriff
der Wahrheit verloren gegangen und im Protestantismus
nicht wieder entdeckt worden. Die Grundlage der alten
Kirche blieb in ihrem Kerne unberiihrt. Das luftige Gre-
baude des Aberglaubens ward nicht zerstort, vielmehr durch
den Bibelglauben noch mehr befestigt. Die Vernunft hat
an dem Werke der Reformation ebensowenig Anteil als
die Freiheit."
Dies Urteil ist von jedem Standpunkt aus irrig; denn
dafi durch die Reformation das Grebiet des Aberglaubens
mindestens eingeschrankt worden ist, ist unfraglich. Doch
dies nur nebenbei. Vor allem sind hier die eigentiimlichen
Bedingungen verkannt, an welche jeder entscheidende Fort-
Martin Luther. 163
schritt der Menschheit gebunden 1st. Zerstorung des Aber-
glaubens fiir sich allein — so notwendig dieselbe ist —
vermag weder in die Tiefe nock in die Breite zu wirken.
Es bedarf eines durchschlagenden neuen Ideals praktischer
Lebensgestaltung, welches an das Vorhandene ankniipffc urn
es umzubilden, es bedarf einer Erhohung der sittliehen
Kraft und des Grefiihls der Verantwortlichkeit, um die Er-
schiitterungen , die jeder Fortschritt mit sich. bringt, zu
iiberwinden; und es bedarf endlich einer Personlichkeit, die
in der Sache aufgeht und sie auf diese Weise in die Welt
wirksam einfuhrt. Man kann unbedenklich zugeben, dafi
Luther in mehr als einer Hinsicht eine mittelalterliche Er-
scheinung gewesen ist, man mufi sogar behaupten, dafi sein
Auftreten das Absterben gewisser mittelalterlicher Ideen
verzogert hat — aber was will das sagen? Wenn alles
verderblich ist, was unsern Greist befreit, ohne uns die
Herrschaft iiber uns selbst zu geben, so ist nichts segens-
reicher und f order samer — auch fur die Befreiung des
Geistes — als die Kraftigung seiner sittlichen Natur und
die Versicherung seines Adels. Das aber hat die Reforma
tion geleistet. Sie hat vor allein die Greister erst fahig ge-
macht, die Erkenntnisse, welche die Zukunft bringen sollte,
zu ertragen, ohne die Herrschaft iiber sich selbst zu ver-
lieren; denn sie hat ihnen eine unerschiitterliche Stellung
iiber der "Welt angewiesen. Nun nehme man auch alles
zusammen, was man zum Nachteile der Reformation an-
fuhren mufi, die harten Ungerechtigkeiten , die neuen Irr-
tiimer, die teilweisen Riickschritte, die unsaglichen Erbarm-
lichkeiten in der Durchfiihrung — das alles verschwindet
gegeniiber dem, was wir ihr schuldig sind, und zwar wir
alle, nicht nur die evangelischen Deutschen. Darf ich es
mit den Worten Groethes sagen: ,,Wir wissen gar nicht,
was wir Luthern und der Reformation im allgemeinen alles
zu danken haben. Wir sind frei geworden von den Fesseln
geistiger Borniertheit, wir sind infolge unserer fortwachsen-
11*
1(54 Erster Band, erste Abteilung. Reden : V.
den Kultur fahig geworden, zur Quelle zuriickzukehren und
das Christentum in seiner Reinheit zu fassen. "Wir haben
wieder den Mut, mit festen Fiifien anf Gottes Erde zu
stehen nnd nns in unserer gottbegabten Menschennatur zu
fiinlen."
GewiB, hier liegt es, und hier liegt zugleich die epoche-
machende Bedeutung Luthers fiir die Wissenschaft. Luther
hat nicht nur angefangen, die Erkenntnis der Wahrheit
vom Machtspruch der Uberlieferung zu befreien und damit
eine reine Betrachtung der Geschichte zu ermoglichen, son-
dern er hat die Freiheit und Verantwortlichkeit des Ar-
beitenden verkiindet. Er hat die Arbeitsgebiete getrennt
und sie eben dadurch einzeln in ein helles Licht treten
lassen. Er hat ferner das selbstandige Recht jeder Berufs-
arbeit, und so auch der wissensehaftlichen, geltend gemacht.
Aber iiber das alles: er hat dem wissensehaftlichen Arbeiter
eine GewiGheit seines Gott geschenkten, personlichen Wertes
und damit einen unverwiistlichen Idealismus eingehaucht,
der ihn wappnet gegen die Erschiitterungen des Selbst-
bewufitseins, die eine Folge aller empirischen Erkenntnis
und aller Mystik sind.
Demgegeniiber kann man wohl dreist behaupten, dafi
dies alles auch oh YIP, Luther von unserem Greschlecht, oder
gar von uns selbst, errungen worden ware; aber eine solche
Behauptung ware zum mindesten eine vollig undiskutierbare
These, eine geschichtliche KannegieBerei. Nur das G-e-
wordene, nicht ^was geworden ware", vermogen wir zu
erkennen. Geworden aber ist infolge der Reformation,
nicht infolge der Renaissance oder der wiedertauferischen
Mystik, jene unbefangene, niichterne und gottvertrauende
Gesinnung und Stimmung, die uns den klaren Blick fur
die Dinge dieser Welt erst ermoglicht und uns erlaubt hat,
dieselben mutig und freudig zu erfassen. Luther hat die
Wissensehaft befreit, indem er den Christen wieder gezeigt
hat, der an dem Evangelium erwachsene Glaube trage
Martin Luther. 165
seine Zuversicht in sich selber; er bediirfe weder noch
dulde er auflere Autoritaten und philosophische Umdeu-
tnngen. Die Renaissance hatte — zum Teil wider ihren
Willen — fur das alte System gearbeitet. Was man
wLuthers Lehre" nennt, sieht ihm auflerlich recht ahnlich.
Achtet man aber auf die Absichten und schliefllich auch
auf den Erfolg — die Absichten kommen in Betracht, und
ungebrochene Erfolge gibt es in der G-eschichte nicht — ,
so ist das Walten eines neuen G-eistes unverkennbar.
Aber die Enge und Unvernunffc des th.eologisch.en Sy
stems, welches die lutherische Orthodoxie aufgerichtet hat!
Nun zunachst bei Luther selbst herrscht die Kraft und Form
einer unmittelbaren TJberzeugung. Das Systematische tritt
zuriick, und wo er systematisiert, ist's nicht zum Vorteil
seiner Sache. Erst hinter den hellen und lebendigen TJber-
zeugungen ruht bei ihm wie bei alien energischen, grofl-
tatigen und fortschreitenden Naturen ein geheimnisvoller
G-laube, der den kleingesinnten und auf sich selbst be-
schrankten Menschen ein Argernis, den riickschreitenden
und schwachen eine Grefahr und den verstandigen ein Hatsel
ist. Sie selbst haben freilich allzurnal keine Ratsel, noch
weniger sind sie solche.
Das Grlaubenssystem, welches sich auf Luthers Predigt
auferbaute, muCte unter den Zeitumstanden schnell ge-
zimmert werden. Noch war der Horizont der Menschen
ein eng begrenzter, ihre Vorstellungen vielfach mittelalter-
liche. Man hatte ein Volk in Kirche, Schule und Haus zu
erziehen. Man hatte ein neues Kirchenwesen zu griinden.
Man hatte die Stiirmer und Dranger abzuwehren. Welche
Aufgaben! Dafi die neue Idee, welche in die Erscheinung
trat, wirklich im Laufe von kaum zwei Menschenaltern
einen Leib erhielt, dafi uberhaupt Formen auf alien G-e-
bieten des Lebens gefunden wurden, dafi in diesen Formen
wirklich auch die Sache, der evangelische Grlaube, zum Aus-
druck gekommen ist — wahrlich nur im YerdruB iiber die
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
seltsame Zumutung, das altprotestantische Grlaubenssystem
fur das reine Evangelium zu nehmen, kann man dieses
System selbst anklagen und fur unwert halten. Auf seinem
Boden hat doch im 17. Jalirhundert nicht nur ein Paul
Q-erhardt mit seiner lebendigen Frommigkeit, sondern
auch ein Keppler gestanden. Sie fiihlten sich durch das-
selbe nicht beengt, sondern erweitet und bestimmt. Was
wir heute als Last empfinden, das war es damals noch nicht.
Aber die heftigen theologischen Streitigkeiten und die
traurigen Spaltungen, welche sich so schnell bei den Pro-
testanten einstellten! Auch sie lassen ein giinstigeres Ur-
teil zu. Sie waren eine Folge des Zusammenbruchs der
aufleren Autoritaten; sie waren aber zugleich eine Folge
der neuen protestantischen Grewissenhaftigkeit in Grlaubens-
sachen. Man mufl sie zusammenhalten mit der Bereit-
schaft der Gregner, um Dogmen zu markten und zu han-
deln. Luther und seine Schiller zeigten keine Toleranz.
wUnsere Liebe ist bereit, fur jedermann in den Tod zu
gehen; aber unser Grlaube ist uns unantastbar wie unser
Augapfel." Nun in der Tat, es gibt nichts Intoleranteres
als die Wahrheit; sie kennt keine Konzessionen. So lag
auch damals der Fehler nicht in dem Mangel der Toleranz,
sondern in der Beschranktheit der Erkenntnis. Daher, als
Luther zu Marburg Zwingli die Bruderhand verweigerte,
da handelte er in Kraft der hochsten Gewissenhaftigkeit.
Wir konnen seine Auffassung als eine irrtumliche beklagen,
aber wir miissen die Festigkeit seines Charakters bewundern.
Seitdern sind Spaltungen auf Spaltungen erfolgt. Aber
trotz alles Jammers, den sie angerichtet, trotz aller Ver-
kummerungen, die sie verursacht, trotz aller "Ubel, die sie
iiber unser Yaterland gebracht haben — die Protestanten
tauschen nicht mit der scheinbaren Einheit und Greschlossen-
heit der Gregner; denn sie achten die Voraussetzung dieser
Einheit nicht fiir ein G-ut, sondern fur ein Ubel. Wohl
wissen wir, was die Reformation uns Deutschen gekostet
Martin Luther. 167
hat und nocli immer kostet. Sie hat unsere politische
Einigung um Jahrhunderte verzogert; sie hat Tins den
dreifiigjahrigen Krieg gebracht; sie hat es tins erschwert,
der Kirche des Mittelalters , ja auch der alten Kirche, ge-
recht zu werden — man bricht nicht mit der Greschichte
ohne sie zu verdunkeln — ; sie hat nns in eine konfessio-
nelle Spaltung gefiihrt, die noch eben far unsere Weiter-
entwicklung verhangnisvoll ist. Aber sie hat zugleich alles
das begriindet, was wir heute als unsere Eigenart und
GrroBe schatzen diirfen. Wir sind nicht dazu verurteilt,
die Reformation lediglich so zu ruhmen und zu verteidigen,
dafi wir an ihre Anfange erinnern. Durch Martin Luther
ist die Bildung des 18. und 19. Jahrhunderts vorbereitet
worden. Neue Faktoren sind eingetreten; aber der Grund
ist im 16. Jahrhundert gelegt worden. Und die Segnungen
der Reformation haben sich iiber alle Deutschen erstreckt,
auch iiber die romischen; ja der Katholizismus selbst hat
sich bei uns ihren Einwirkungen nicht entziehen konnen.
Er hat nicht nur ehrwiirdigere Priester und einen reineren
Kultus, sondern geradezu eine andere (restart, eine andere
Tiefe und einen hoheren Ernst erhalten als in den roma-
nischen Landern. Man kann es jenseits der Alpen von
kompetenter Seite nicht selten horen: ?,die Deutschen sind
alle Haretiker". Was anclers soil damit gesagt sein, als
dafi sich bei uns in Sachen der Religion das Bewufitsein
einer personlichen Yerantwortlichkeit ausgebildet hat, wie
es die romanischen Yolker in diesem Grrade nicht zu keiinen
scheinen?
Aber wir wollen uns nicht selbst bespiegeln. Auch
bei uns im Lande der Reformation, sind Passivitat und
Stumpfheit die eigentlichen Feinde. Wir haben die theo-
logischen Formeln der Yergangenheit beiseite legen nmssen;
aber was haben so viele unter uns - - die Frage ist heute
wohl erlaubt — an ihre Stelle gesetzt? Eine durchweg
relative Weltanschauung und eine historische Stimmung.
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: V.
Reichen sie wirklich aus, damit wir das Hochste leisten?
1st der Standpunkt wohlwollender Indifferenz, auf welclieni
der religiose Glaube harmlos wird, der erhabenste, der uns
alles Grofie und Edle verbiirgt und nur die alten Schatten
verscheucht? Anders hat sick dariiber jiingst ein nicht be-
fangener Sckriftsteller, Ren an, in offentlicher E/ede ge-
aufiert: ,,Es 1st", sagt er, 7,vielfach den heute widerlegten
Glaubensformeln zn verdanken, wenn noch ein Rest von
Tugend in uns iibrig ist. Wir leben von einem Schatten,
von dem Duft einer leeren Flasche; nach uns wird man
leben vom Schatten des Schattens, und oft bin ich bange,
dafi man doch zu wenig daran haben werde."
Ein mutiges, aber ein trauriges Bekenntnis! Sind auch
wir schon so weit? Ist mit der Widerlegung der theo-
logischen Glaubensformeln der Vergangenheit das Evan-
gelium selbst wideiiegt und abdekretiert? Haben wir es
nicht mehr notig? oder brauchen wir es nicht mehr wie
je in Hinblick auf unsere fortschreitende Naturerkenntnis,
in Hinblick auf die geistige Beschrankung, welche uns
unsere Arbeitsteilung auferlegt, in Hinblick auf unsere ver-
odete G-eselligkeit und auf die stets zunehmende und leider
notwendige Mechanisierung unseres offentlichen Lebens?
Wir brauchen es und dankbar wollen wir es halten.
Zu iiberwundenen Stufen geistiger Entwicklung konnen
wir allerdings nicht mehr zuriickkehren. Aber Luther hat
uns kein Religionssystem fertig gezimmert — Systeme ent-
stehen und vergehen — , sondern er hat uns auf einem
festen Boden eine bleibende Aufgabe vorgezeichnet: wir
sollen uns auf dem Grrunde des Evangeliums stets aufs
neue reformieren und wider Gresinnungslosigkeit und Macht-
spriiche mutig albeit protestieren. Auf dem Grrunde des
Evangeliums, denn — j5mag die geistige Kultur nur immer
fortschreiten und der menschliche Geist sich erweitern wie
er will, iiber die Hoheit und sittliche Kultur des Christen-
tums, wie es in den Evangelien schimmert und leuchtet,
Martin Luther. 169
wird er nicht hinauskommen. " Wohl miissen wir die alten
Baume niederschlagen, wenn sie iiberstaminig und morsch
geworden sind; aber wir rotten nicht den alten Wald aus,
sondern wir suchen ihn eben dadurch frisch und kraftig
zn erhalten.
Die Zukunft unserer Nation und schliefllich auch aller
unserer Arbeit hangt davon ab, dafi wir die Antriebe zur
Indifferenz und Stumpfheit, aber auch zu Riickschritt
und Obskurantismus iiberwinden und uns zu einem freien
Christentum der Gresinnung und der Tat emporringen. Den
Weg zu diesem Ziele aber hat uns nach einer langen Nacht
der Mann gewiesen, von dem wir das Wort wagen diirfen:
Er war die Reformation. Was in ihr Grofies, Grewaltiges,
fur alle Zeiten Dauerndes und Vorbildliches enthalten war,
das ist einzig gegeben und verkorpert gewesen in seiner
Person, in der Person des Wittenberger Professors Dr.
Martin Luther.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
^ ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG ^
REDEN: VI
PHILIPP MELANCHTHON
Eede
bei der Feier zum vierfmndertjahrigen Gedachtnis der Geburt Philipp
Melanchthons gehalten in der Aula der Koniglichen Friedrich Wilhelms-
Universitat in Berlin am 16. Februar 1897.
Unsere Hochschule entschlieBt sich selten dazu, die
stille Arbeit in den Horsalen zu unterbrechen und die
Kommilitonen in diesen festlichen Haum zu laden. Der
Q-eschichte der Wissenschaft und unserer Gresehichte ist er
geweiht, und nur das, was fur sie bedeutungsvoll ist, kann
hier eine Feier beanspruchen. So beweist Thnen bereits
unsere Einladung, dafl auch die Universitat den Mann,
dessen Andenken heute alle Protestanten einigt, dankbar
verehrt und sich seiner universalen Bedeutung fur die
"Wissenschaft und Bildung wonl bewuGt ist. Hier bei uns
ist jiingst seine Stellung sowohl in der Greschichte der
G-eisteswissenschaften als des gelehrten Unterrichts be-
stimmt worden, und unserer Hochschule gehort der G-e-
lehrte an, der unermiidlich tatig ist, verborgene Schriffcen
und Briefe des grofien Mannes ans Licht zu zienen. Nicht
mit leeren Handen kommen wir zum Feste.
Philipp Melanchthon, der Professor zu Wittenberg,
war kein Prophet und Heros wie Luther, kein kiihner
Denker wie Servetus oder Sebastian Franck, kein Ent-
decker und kein Erfinder. Aber alle die Krafte und Tugen-
den, die in diesen Haumen am hochsten geschatzt werden,
haben ihn ausgezeichnet — das unernmdliche wissenschaft-
liche Streben, die ausgebreitetsten Kenntnisse, die Ehrfurcht
vor der "Wahrheit, der zuversichtliche Q-laube an die sitti-
gende Macht der Bildung und, nicht zum letzten, eine un-
vergleichliche Lehrgabe. Indem er dies alles mit der
hochsten Pflichttreue ausbildete, mit unsaglichem FleiCe
befestigte und in den Dienst eines fortschreitenden Zeit-
174 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
alters stellte, wurde er der Lehrer des Protestantismus und
der Lehrer Deutschlands. Auch Martin Luther 1st ein
deutscher Professor gewesen; aber er stand zugleich in
einem hoheren Beruf, und so tollkiilin wird niemand unter
uns sein, ihn als vorbildlichen Kollegen in Anspruch zu
nehmen. Philipp Melanclithon aber hat zeitlebens nichts
anderes sein wollen als der unsrige, ist der unsrige geblieben
— aufierhalb der Universitat gab es fiir ihn kein Leben —
und hat in diesem Beruf alle seine Krafte entwickelt. Er
hat den Typus des deutschen Professors geschaffen; er hat
dem Vaterland einen neuen fuhrenden Stand erweckt, den
ehrenfesten und erleuchteten, nicht priesterlichen Stand des
akademisch gebildeten Beamten und des hoheren Lehrers.
Er hat dadurch den Grund zur GrroBe protestantischer Gre-
meinwesen gelegt. Dieser bescheidene Professor, der sich
nie als Prometheus empfand, auBer wenn er seine Fesseln
in einer barbarischen Umgebung beklagte, formte doch
Menschen nach seinem Bilde; aber wahrend wir heute
staunend und dankbar die Friichte seiner Arbeit iiber-
schauen, beschloU er sein groBes Tagewerk, ohne zu ahnen,
was er der Welt geleistet hatte. ,,Wir haben beide ausge-
halten in der Medrigkeit des Schullebens", ruft er kurz
vor seinem Tode seinem Herzenfreunde Gamer arius zu,
wund an unserem Ort getan, was wir konnten. Einigen
hat doch wohl unsere Arbeit geniitzt, Schaden hat sie ge-
wiG — das darf ich hoffen — niemandem gebracht. "
So spricht der Mann, dessen Lebensarbeit sich an Um-
fang nur mit der von Leibniz und Kant vergleichen
lafit, dessen Einnufi aber, dank der geschichtlichen Stelle,
an der er gestanden, die Wirksamkeit jener beiden Manner
doch noch weit iibertroffen hat. Er hat die deutsche Bildung
von der priesterlichen Bevormundung befreit und von der
klerikalen Stufe zunachst auf die philosophisch-theologische
gehoben — das war der notwendige Durchgangspunkt, urn
eine gediegene Laienbildung vorzubereiten , die doch den
Philipp Melanchthon. 175
Zusammenhang mit der Religion und der Geschichte nicht
verlieren sollte. Sein christlicher Humanisnms ist Klammer
und Briicke zugleich gewesen. Wenn wir heute fragen,
wem es unsere Nation hauptsachlich zu verdanken hat, dafi
aus der Reformation nicht ein Bruch in ihrer Religions-
und Kulturgeschichte entstanden ist, so miissen wir ant-
worten: nachst dem Reformator selbst, unserem Melanch
thon. Ja, wir diirfen noch mehr sagen — Luther ware
wahrscheinlich ohne diesen Mitarbeiter nicht imstande ge
wesen, jene Vermittelung des Neuen mit dem Alten durch-
zufuhren, die allein das Wachstum und die Zukunft einer
iiber den ganzen Umfang des geistigen Lebens sich er-
streckenden Bewegung sicher stellte.
Neben dem Propheten mufi der Padagog stehen. Ge-
wiB, Luther war selbst Padagog - - ein BHck auf seinen
Katechismus beweist das. Aber auch seine Padagogie hat
etwas Heroisches. Ein Grundgedanke erfiillte seine Seele;
das Ziel hatte er im. Auge, nicht den Weg. Die Klein-
arbeit, die langsame, geduldige Erziehung zum Sittlichen
auf alien den unzahligen Linien, auf denen sich das mensch-
liche Leben bewegt, war nicht seine Sache. Hier tritt der
Freund ein; er erzieht das gegenwartige G-eschlecht. Oft-
mals scheint er herabzustimmen , zu hemmen, Altes und
Neues zu mischen — Kraft, E/eiz und Schmelz des frischen
Geistes scheinen verschwunden , sind wirklich oftmals ver-
schwunden. Aber wer darf klagen! Vielleicht gibt es im
Leben des Einzelnen sturmische Erweckungen, die nach-
haltig sind; im Leben der Volker sind die Ekstasen, auch
wenn sie ein wahrhafter Prophet erweckt hat, nur fiiichtige,
ja bedenkliche Erscheinungen. Das Bessere wachst nur
langsam, und weder der Lehrende noch die Lernenden
bieten der Welt ein entziickendes oder aufregendes Schau-
spiel. Aber die Greschichte urteilt schlieClich gerecht: ein
jedes Eand weifi heute zu erzahlen, dafi unser Vaterland
zwei Reformatoren besessen hat, nicht mehr und nicht
176 Erster Band, erste Abteilung. Reden: VI.
weniger — Luther und Melanchthon. Trotz des ungeheuren
Abstandes 1st der Padagog dem Propheten unter dem
Namen ,,Reformator" beigesellt worden. Die Geschichte
hat keinen rahmvolleren Kranz zu verleihen! —
Der stille Grelehrte, dem alles Stiirmen und Drangen
zuwider war, hat doch einst selbst zwei Sturm- und Drang-
perioden erlebt, bis er die Eigenart und die Grenzen seiner
Anlage und Bildung erkannte. Aber er ist den Idealen,
die ihm jede dieser Perioden geschenkt hat, nicht untreu
geworden — ihrer Bewahrung und Vermittelung hat er
sein Leben geweiht.
Greboren zu Bretten in Baden, dort wo der frankische
und der allemannische Stamm sich verschmelzen, ist er,
der Grofineffe Heuchlins, aufgewachsen unter einem
milden Himmelsstrich und edlen hochstrebenden Menschen.
Zeitlebens hat er dort seine Heimat gesehen und sich an
der Elbe im Exil gefuhlt. Fruhreif , mit vierzehn Jahren
Heidelberger Baccalaureus, mit siebzehn Tubinger Magister,
unter dem Prinzipate der neuen Philologie in alle Wissen-
schaffcen zugleich eindringend, erwarb er sich durch seinen
eisernen Fleifl und sein ungemeines Formtalent das be-
wundernde Lob des Erasmus. ,,At deum immortalem",
ruft dieser aus, ,,quam non spem de se praebet paene puer
Philippus Melanchthon, utraque litteratura paene ex aequo
suscipiendus ! quod inventionis acumen ! quae sermonis puritas
et elegantia! quanta reconditarum rerum memorial quam
varia lectio, quam verecundae regiaeque prorsus indolis
festi vitas!" Die Bekampfung der Scholastik und die Her-
stellung der wahren Philosophie, d. h. des echten Aristo-
teles, waren sein Ziel, und voll jugendlichen Frohmutes
stellte er sich in die Reihe der kecken Greister, die der alten
Welt den Krieg erklart hatten. Es waren die Friihlings-
tage jener klassischen, in Wahrheit romantischen Bewegung,
denen doch kein Sommer gefolgt ist. Der herrliche, aber
in seiner Isolierung undurchfuhrbare Gedanke des Erasmus,
Philipp Melanclithon. 177
die Kirclie und die G-esellschaft durch die Wissenschaft zu
reformieren, und die schimmernde Hoffnung, durch die Form
jede Schwierigkeit des Denkens und Lebens zu iiberwinden,
begeisterten die G-emiiter. Zuversichtlicher und riicksichts-
loser hat kaum einer diesen Gredanken geltend gemacht als
der jugendliche Melanchthon in seiner Rede: ,,De corrigen-
dis adolescentiae studiis", mit der er im August 1518 sein
Lehramt an der Universitat Wittenberg antrat: Alles was
bisher auf den Universitaten nach der alten Methode ge-
trieben worden ist, ist nur Dunkelwerk und Possen gewesen;
eine radikale E/eform ist notwendig. Wie sie mit den
Mitteln der griechischen Sprache, des wain-en Aristo teles
und mit Hilfe reiner Ausdrucksformen durchzufuhren ist,
werde er zeigen. So dozierte mit dem Eifer des Stunners
und Drangers, aber auch auf dem Grunde anerkannter
Leistungen der junge Professor, und weil man auch in
Wittenberg der Scholastik den Krieg erklart hatte, ziindete
sein Wort.
Aber Melanchthon hatte sich noch nicht selbst ge-
funden, als er so sprach. Beriickt von dem neuen G-eist
und noch wehrlos gegen den Zauber blendender Rhetorik
hat er die gediegenen und maflvollen Krafte seiner Eigen-
art noch nicht erkannt. Durchschlagender Beweis hierfur
ist, dafi der kiihne Humanist im Laufe weniger Monate in
Wittenberg eine vollkommene Umstimmung erlebte. Dafi
das originale, biblische Christentum etwas anderes sei als
die scholastische Kirchenlehre, wuBte er bereits, als er nach
Wittenberg kam. In dieser Uberzeugung lag das Band,
das ihn und die Humanisten mit Luther verband, der im
Jahr zuvor mit seinen Thesen Deutschland erweckt hatte.
Aber was nun folgte, war doch ganz unerwartet: Luther s
Personlichkeit und Kraft bemachtigte sich nicht nur voll-
kommen des neuen Kollegen, sondern sie bestimmten ihn
auch dazu, alle seine fruheren Ideale, den ganzen bisherigen
Inhalt seines Lebens zunachst preiszugeben. Wie der Mann
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. I. 12
Erster Band, erste Abteilung. Reden: VI.
im Grleichnis, der alle seine Habe verkaufte, urn die eine
kostliche Perle zu kaufen, so gab Melanchthon zunachst
alles dahin, und wie er bisher in Erasmus gelebt hatte,
so stellte er sich nun mit Leib und Seele in den Dienst
Lnthers. Doch man darf das personliche Element nicht
iibertreiben. Wer kann leugnen, dafi es der christliche
Grlaube, wie Luther inn verkiindete, gewesen ist, der seine
Seele wirklich erfafite! Um hat er ergriffen und bis zu
seinem Tode als die Kraft seines inneren Lebens festge-
halten. Die schlichten "Worte in seinem Testament: j,Ago
gratias reverendo domino Doctori Luthero, quia ab eo evan-
gelium didici", lehren hier mehr als hundert Beweise. ,,Ich
habe von ihm das Evangelium gelernt" — das ist das
groUe unerschiitterliche Erlebnis, das ihn fortan trotz aller
Spannungen und Tauschungen an die Sache der Reforma
tion und Wittenbergs gekettet hat.
Dennoch aber sind wir uberrascht, in welchem Mafie
er in den ersten Jahren seiner Wittenberger Wirksamkeit
Luther gleichsam aufgesogen hat. Die Stelle, wo sein
FuO bleiben wird, hat er zwar gefunden, aber noch immer
ist er nicht er selbst. Denn nun ist er drei Jahre lang
Sturmer und Dranger in der reformatorischen Bewegung:
Die Schulphilosophie ist Abgotterei, die philosophische Ethik
Widerchristentum ; Grriechenland lehrt nur heidnische Werke
und verdirbt die Jiinglinge; Paulus, niemand anders als
Paulus, soil in der Kirche und in der "Wissenschaft gelten.
Der Humanist wandelt sich in den Theologen, aber der
Rhetor droht zu bleiben. In diesem Sinne hat der jugend-
liche Lutheraner geschrieben. Im heiOen Kampfe wider
ein absterbendes Zeitalter vermag das aufstrebende nur Kon-
traste zu erkennen und verkennt die Nuance; die ernuch-
ternde Erfahrung bleibt aber nicht aus, dafi man nicht
ungestraft die Kraffce der Yergangenheit preisgibt.
Doch aus jener lutherischen Sturm- und Drangperiode
Melanchthons besitzen wir ein Werk von unvergang-
Philipp Melanchtlion. 179
Kcher Bedeutung. An diesem Werke hat die Rhetorik
keinen Anteil, die loci communes, die erste evangelische
Dogmatik (1521). In diesem Buehe haben die reformato-
rischen Gedanken Luthers ihre zusammenhangende Dar-
stellung gefanden. Znm ersten Male in der abendlandischen
Kirche wird die christliclie Religion nicht beschrieben im
Schema eines Gott- Welt-Dramas und einer heiligen Physik,
sondern als die Erweckung nnd der Prozefi eines neuen
inneren Lebens. Die Form der loci hemmt zwar die auBere
Ausbildung eines straffen Zusammenhangs, aber im Grunde
ist alles einheitlich gedacht. Luther selbst hat dieses Werk
als ein kanonisches bezeichnet; es ermoglichte erst den vollen
Uberblick iiber sein Gedankengefiige. Uber seine Gedanken
— denn es ist vielleicht beispiellos in der Geschichte, dafi
ein Mann von den Fahigkeiten Melanchthons sich ganz
nnd gar zum Organon eines anderen gemacht hat. Indem
ihn Luthers Personlichkeit iiberwaltigt hatte, scheint alles
Eigene zerschmolzen. Nur die Form, diese klare, natiirlich
fliefiende Darstellung, gehort dem grofien Schuler an; sonst
ist alles ubernommen, das Evangelium Luthers mit seinen
Konsequenzen nach riickwarts und vorwarts, mit seinem
Tiefsinn und seinem dunklen Hintergrund, in welchen die
Antike, der Humanismus und die Freiheit zu versinken
drohten.
Aber die Riistung des Gewaltigen, der seiner eigenen
Logik folgte, konnte nicht die Riistung des Professors
bleiben. Als die Schwarmgeister in Wittenberg erschienen,
da zeigte es sich, dafi der Professor dies Schwert nicht zu
fuhren ver stand, dafi vielmehr der ungestiime Held die Bil-
dung und den Zusarnmenhang mit der Geschichte schiitzte.
Seitdem, d. h. seit den Jahren 1522 und 1523, bemerkt
man, wie Melanchthon unsicher wird, ob man mit Paulus
und der Theologie allein die Christenheit bauen konne. Zu
seinem Schauder erblickt er unter den Kraften, die die
Reformation in den Gemiitern entfesselt hat, auch die Kraft
12*
180 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VL
der Barbarei, die sich rait dera Grlauben zu decken sucht,
und sieht eine ,,dummere und gottlosere Sophistik" und
eine Zuchtlosigkeit der entfesselten Massen heraufsteigen.
Diese Erfahrung — und sie wiederholte sicli taglich — hat
einen Druck auf sein Wesen ausgeiibt, der niemals ge-
schwunden 1st. Auch Luther hat ziirnend die kontraren
Folgen der Reformation empfunden, aber er wuflte, dafi
er mit seinem Grott im Bunde war; der Lauf der Welt
kiimmerte ihn wenig. Griff er einmal in denselben ein, so
traf er den Nagel auf den Kopf nnd zeigte, dafi er auch
der Bildung und der Wissenschaft ihr Recht gab. Melanch-
thon aber war es nicht gegeben, auf dieser Hohe zu atmen
und das Sorgen zu lassen. Allein eben aus dieser uner-
mudlichen Sorge gestaltete sich der ihm eigentumliche Be-
ruf des Eeforniators ; in ihr fand er sich selber; denn die
Sorge spornte seine Grewissenhaftigkeit, zunachst fur seine
Studenten, dann fur die reformatorische Wissenschaft, dann
fur den ganzen Umfang der Reformation im deutschen
Vaterland. Seit dem Jahre 1524/25 etwa ist die Entwick-
lung des Mannes vollendet. Mit dem Entwurf der Visi-
tationsartikel betritt er dann die Linie, die er nicht mehr
verlassen sollte. Dreiunddreifiig Jahre hat er nun gearbeitet
als der grofie, universale Lehrer des Protestantismus. Welche
Ziele ihm dabei vorschwebten und welche Mittel er in Wirk-
samkeit setzte — sowohl in seiner kirchlichen wie in seiner
wissenschaftlichen Tatigkeit; denn beides geht immer Hand
in Hand — , das lassen Sie mich mit wenigen Strichen an-
geben.
Im Vordergrund steht auch ihm das reine Evangelium,
das erneuerte Christentum mit seiner GrlaubensgewiCheit
und Innerlichkeit, deshalb auch R/echt und Pflicht des Ein-
zelnen, dasselbe ohne priesterliche Bevormundung sich an-
zueignen. "Wie Luther ist er davon durchdrungen, dafi dies
die eigentliche Aufgabe des Zeitalters ist, und in Luther
verehrt er den Fiihrer und Propheten. Aber daneben ist
Philipp Melanchthon. 181
er zuriickgekelirt zu seiner ersten Liebe, zum Ideale seiner
Jugend, und ist iiberzeugt, da.fi das klassische Altertum
unersetzliche Griiter erarbeitet hat, namlich eine wohlge-
fiigte, natiirliche und wissenschaffcliche Erkenntnis Grottes
nnd des Menschen, feste sittliche Bichtlinien und eine
sichere Methode, die Wahrheit zu ergriinden und darzu-
stellen. Darf dieser herrliche Ertrag nicht preisgegeben
werden, weil er allein vor der Barbarei und Sittenlosigkeit
schutzt, so gilt es, die Sache des erneuerten Christentums
mit ihm zu verbinden. Das neu gewonnene innere Ver-
haltnis zu dem- TJnsichtbaren soil seine Ausgestaltung in
der Welt des Denkens und Handelns mit Hilfe der Krafte
empfangen, die die Menschheit in ihrer klassischen Zeit
erarbeitet hat. „ Sapiens et eloquens pietas" — in dieser
Losung schliefien sich. alle Ideale zusamnien. Aus der
Frommigkeit im Bunde mit den Sprachen und Wissen-
schaften soil sich. ein Strom von sittigenden Wirkungen
iiber das ganze Leben und uber alle Gremeinschaftsformen
ergiefien. Der Bund aber zwischen dem christlichen Qlauben
und der Klassizitat ist so gedacht, dafi diese einerseits die
Grrundlage abgibt, sofern sie die Freiheit und die natiirliche
Anlage des Menschen zum Sittlichen nachweist, andererseits
die Ausgestaltung der Glaubenserfahrung in alien em-
pirischen Beziehungen des Lebens ubernimmt.
Die Aufgabe, die Melanchthon aus dieser Erkenntnis
erwuchs, war eine theoretische und praktische zugleich.
Als theoretische erganzte sie die Aufgabe Luthers, mufite
aber auch in Konflikt mit ihr geraten. Melanchthon wollte
das Leben verbessern, Luther es neu begriinden. Luther
schien den Grlauben allein zuzulassen und alle iibrigen
Krafte abschatzig zu beseitigen. Wer ihn predigen und
schreiben horte, konnte wohl meinen, er wolle ein ent-
scheidendes inneres Ergebnis — einen Gott haben — allein
gelten lassen und aus diesem Kapitale alles, auch alle Sitt-
lichkeit, alle Bildung und alle Erziehung bestreiten. Dafi
182 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
gerade er den frischeren und tieferen Blick auch for die
Selbstandigkeit des natiiiiichen Lebens besafl, dafl er viel
sicherer als irgend ein Anderer das Heilige und das Profane
unterschied, daB seine harte Lekre vom gebundenen Willen
endlich einmal den reizenden Schleier zerrifl, der aus
Religion und fragwiirdiger Philosophie gewoben war, das
ahnte niemand. Was Melanchthon hier als G-efahr empfand,
was jeder gebildete Zeitgenosse so empfinden raufite, war
die Bedrohung des sittlichen Lebens und einer fortschreiten-
den Entwicklung. Die dogmengeschichtlichen , augustini-
schen Hiillen, von denen Luther seine tieferen Ansch.au-
ungen nicht zu befreien vermochte, liefien diese Wirkung
in der Tat befurchten, und wenn kleinere Greister anfingen,
auf ihren Instrumenten die Tone Luthers nachzuspielen,
welch eine barbarische Musik mufite da entstehen!
Memand hat das tiefer gefiihlt, als der zartsinnige,
sittlich rein empfindende Melanchthon, und so bemuhte er
sich, vorsichtig, priifend, riicksichtsvoll die Gredanken
Luthers zu bearbeiten, zu beschneiden und zu erganzen.
Ein saures, muhsames Tagewerk, das ihm Niemand recht
dankte und das doch ganz unerlaMch war, wenn das
gegenwartige Greschlecht erzogen werden sollte. Welch
eine Summe von FleiB, welch eine Umsicht bezeugen die
immer wieder aufs neue durchgefeilten dogmatischen Ar-
beiten Melanchthons! Neben der angstlichen Sorge, durch
keine Paradoxie zu blenden, durch keinen padagogischen
Mifi griff zu verwirren, jede Uberstiirzung zu vermeiden,
neben mancher schulmeisterlichen Trivialitat — wieviel
originale und treffliche Grriffe! Wie gliicklich ist der Gre-
danke, den gefahrdeten Zusammenhang der Religion mit
der Sittlichkeit unter dem Titel ^der neue Grehorsam" sicher
zu stellen, und wie ist Melanchthon seinem Ziele, eine
kraftige evangelische Moral theoretisch zu begrunden, ge-
recht geworden durch seine herrlichen Ausfuhrungen iiber
die evangelische Yollkommenheit, die er der monchischen
Philipp Melanchthon. 183
Yollkommenheit entgegensetzte! Grewifi — er hat die Schul-
gestalt der evangelischen Dogmatik begriindet und damit
manclie frische Erkenntnis beseitigt und der Sache selbst
sehwere Fesseln angelegt. Aber er hatte doch niclit die
Wahl zwischen freieren und gebnndeneren Auffassungen
und wahlte die gebundeneren , sondern er hat eine Schul-
gestalt uberhaupt erst schaffen miissen. Wer wirken will,
mufi formulieren und gestalten konnen; Grestaltungen aber
improvisiert man nicht, sondern mufi ihre Grundlinien dem
Schatze des Erarbeiteten entnehmen. Und wer die EinbuBe
beklagt, die der Gredanke in der Fessel des Schulbuchs er-
leidet, der soil sich fragen, wie lange sich ein Gredanke rein
erhalten wird, der gestaltlos wie ein Grlockenton durch die
Liifte dringt.
Die grofie Aufgabe, das erneuerte Christentum zu
lehren, und im Zusammenhang mit der Bildung des Zeit-
alters zu halten, hat Melanchthon seit dem Jahre 1525 unter
den Augen Luthers getrieben und dann noch 14 Jahre
fortgesetzt.
Die theologische Arbeit war ihm im Grrunde kein
inneres Bedurfnis; er trieb sie unter dem kategorischen
Imperativ der Pflicht; nur systematisch-padagogische Form-
gebung reizte ihn hier; sonst entsprachen seiner ISTeigung
immer mehr die gewohnten philologischen Studien. Hat
je einer unter der theologischen Aufgabe geseufzt, so war
er es; aber er wuGte, dafi ihm niemand die Arbeit abnehmen
konnte, darum blieb er bis zuletzt auf dem Posten. Gre-
spannt fragt man, wie sich nun das personliche Verhaltnis
zu Luther gestaltete. Eine herzliche Yertraulichkeit, wenn
sie je bestanden hat, verschwand bald; aber ein gegenseitiges
Vertrauen behauptete sich trotz aller Verschiedenheiten der
Charaktere, der Stimmungen und der Arbeit. ,5Ich bin
dazu geboren", erklart Luther, ,,dafi ich mit Rotten und
Teufeln muB kriegen, darum meine Biicher viel kriegerisch
sind. Ich bin der grobe "Waldrechter, der Bahn brechen
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
nrnJB. Aber Magister Philipp fahrt sauberlich stille daher,
saet und begieBt mit Lust, nachdem ihm Grott gegeben
seine G-aben reichlich". Nicht mit Unreclit sagt man, dafl
Melanchthon an Luther zu tragen hatte — imperatorische
Grewalt in offc schroffen, riicksichtslosen Formen — , aber
die Gegenrechnung zeigt, daft in Wahrheit Luther der ge-
duldigere sein muBte. Mit welcher heroischen Langmut hat
er dem Freunde das Kleinliche, Angstliche und Empfind-
liche nachgesehen! Wie hat er ihn immer wieder aus der
Sorge und Furcht auf jene Hohe erhoben, von der allein
eine solche Bewegung geleitet werden konnte! "Wie hat
er an dem Glenossen jene ihm so antipathische erasmische
Weise ertragen im Yertrauen auf die Ubereinstimmung in
dem Kerne. der Uberzeugungen! Mit welcher Einsicht und
GroBmut hat er endlich Melanchthon auf seinem Gebiete
schalten lassen, dem der Padagogie und Kirchenpolitik,
und ist selbst dann nicht an ihm irre geworden, wo er
alien Grrund hatte , ihm in die Wiirfel zu greifen. In
jenen Jahren — auch der Augsburger Reichstag fallt in
diese Zeit — , in denen Melanchthon es fast um jeden Preis
versuchte, die Einheit der Erchenlehre und Verfassung
festzuhalten und die Eeformation auf die Stufe eines bloUen
Kampfes gegen Mifibrauche herabzudriicken — in jenen
Jahren hat Luther das voile Zutrauen zu Melanchthon be-
wahrt, dafi er die Sache selbst trotz aller Politik und Pada-
gogik doch nicht preisgeben werde. Mcht immer hat
Melanchthon diesem Zutrauen entsprochen. Es kamen
Momente — sowohl bei Luthers Lebzeiten als zur Zeit des
Schmalkaldischen Krieges und des Interims — , in denen
Melanchthon die Probe nicht bestanden hat. Nicht sich
selbst ist er dabei untreu geworden, wohl aber der Aufgabe,
die ihm, wollend und nicht wollend, zugef alien war, der
Hiiter des lutherischen Erbes und die Saule der Kirche
Luthers zu sein. Dort in Augsburg, wo er in der Formulie-
rung der evangelischen G-laubensartikel bereits bis an die
Philipp Melanchthon. 185
aufierste Grenze der Konzessionen gegangen war, drolite er
in den Verhandlungen , die ihnen folgten, jeden Halt zn
verlieren. Doch hat er sich in der ausgezeichneten Apologie
des Augsburger Bekenntnisses wieder gefunden. Aber mit
voller Kraft drangte sich in und nach dem nngliicklichen
Verlauf des Schmalkaldischen Krieges alles in ihm hervor,
was er seit Jahren zuriickgedrangt hatte, seine Antipathie
gegen die Gewaltsamkeiten eines Bruch.es der G-eschichte,
seine Hochschatzung iiberlieferter Formen, die tranten
Kindererinnerungen an die alte Kirche, dazu personliche
Bitterkeit und Kleinmut. Mcht Melanchthon, sondern die
engen Kopfe, wie Flacius, und neben ihnen — Moritz von
Sachsen haben damals den Protestantismus gerettet. Aber
mit der Rettung war es nicht getan. Wieder gait es zu
bauen und zu pflegen, ein evangelisches Kirchentum und
eine evangelische "Wissenschaft auszugestalten, weit genug,
um den Strom der G-eschichte in dieses Bett zu leiten.
Auf Melanchthon allein nel wiederum diese Aufgabe, und
in schwerem Konflikt mit seinen Neigungen, fast mochte
ich sagen, mit seinen tiberzeugungen , kampfend fur sein
Ideal, aber zugleich blutend fur manche Lehren, die nicht
die seinigen waren, ist er auch nach der Wiederherstellung
des Protestantismus rastlos tatig gewesen, die Kirche mit
der "Wissenschaft zu bauen, Luthers Autoritat und Luthers
Lehre als die gegebene Grundlage anzuerkennen und sie
doch nach seiner wissenschaffclichen Einsicht und nach den
Bediirfnissen der gelauterten Frommigkeit zu erweitern
und zu erweichen. Die Seelenqualen des Vermittlers haben
ihn nie verlassen, und die Angriffe nicht nur des theolo-
gischen Fanatismus, sondern auch ehrlicher sproder tiber-
zeugungen drangen immer drohender auf ihn ein. Aber
er liefi das Steuer nicht aus der Hand, das er gefafit hatte,
und er warf nichts iiber Bord, um sein Schiff zu erleichtern;
denn er meinte, dafi die Zukunft kein Stuck entbehren
konne. So ist er in seiner Weise fest geblieben in dem
1QQ Erster Band, erste Abteilung. Keden: VI.
Streit der Epigonen. Mit den Worten: ,,Du wirst der
Siinde abscheiden, du wirst von allem Kummer frei werden
und von der fanatischen Wut der Theologen", sah er dem
Tode als einer Erlosung entgegen. Im Gredachtnis seiner
Kirche war sein Andenken zunachst gefahrdet, und fast
jahrhundertelang ist sein Name im lutherischen Protestan-
tismus nicht ohne MiBtrauen genannt worden, aber sein
"Werk blieb bestehen. Bereits die Konkordienformel bedeutet
bei allem Argwohn gegen Melanchthon dock eine Absage
an das strengste und engste Luthertum im Sinne Melanch-
thons. Bald aber entstanden in Deutschland viele Kirchen,
die sich reformiert nannten, in Wahrheit jedoch melanch-
thonisch waren, und in ihnen entwickelte sich. der Greist
der Unionsgesinnung, aus welchem der groBe Fortschritt
im inneren Leben des Protestantismus hervorgehen sollte.
Luthers G-laubenskraft ist Kleinod und Ziel des Protestan
tismus geblieben, er selbst der Heros eponymos, aber seine
Theologie ist in seiner Kirche nicht kanonisch geworden,
und das war gut. Melanchthon ist als Person in der Kirche
zuriickgetreten, aber entscheidende Bichtlinien, die er der
neuen Theologie gegeben hat, sind geblieben, und das war
auch gut. Er hat den Protestantismus fur die Wissen-
schaft und die "Wissenschaft fur den Protestantismus ge-
rettet — in Verkettungen, die heute nicht mehr in voller
G-eltung stehen, die aber in ihrer Zeit Kirche und Bildung
zusammengehalten haben. —
Das kirchlich-theologische Lebenswerk Melanchthons
habe ich sMzziert, auch mit seinen peinlichen Eindriicken
und doch — ein grofies segensreiches "Werk! Vergessen wir
dabei nicht, unter welchen Verhaltnissen er gearbeitet hat!
Die Schwierigkeiten der inneren Lage sind schon beruhrt
worden, die aufieren waren schrecklich. Auch heute erfahrt
jeder schweres Leid, der von Innen an der religiosen Erage
ruhrt, aber damals erfuhr man noch buchstablich, daB die
Welt voll Teufel war, wenn man kirchliche Verhaltnisse
Philipp Melanchthon. 187
antastete; denn vom Mittelalter her umstanden noch furcht-
bare Wachter die Religion, Gefangnis, Schlage, Folter —
der Tod. Unter dem Schirm seiner Landesherrn, der
erlauchten Fursten, und unter dem Schild des Helden, der
alle schiitzte, der die ganze Bewegung trug — aiich als er
nicht mehr unter den Lebenden weilte — , hat Melanchthon
sein "Werk vollendet, er hat die Lehre begriindet und die
Kirche gebaut. —
Aber blicken wir nun von seiner dograatischen und
kirchlichen Tatigkeit auf die allgemein wissenschaftliche.
Mit reiner Bewunderung konnen wir zu ihm aufschauen.
Hier war er ganz in seinem Elemente und hat dem christ-
lichen Humanismus einen weiten und festen Bau aufge-
richtet, in welchem die Wissenschaft und ihre Jiinger mehr
als anderthalb Jahrhunderte gewohnt haben. Hier hat er
sich auch des allgemeinen Yertrauens erfreut durch die
Lauterkeit seiner Gesinnung, die Selbstlosigkeit und Un-
bestechlichkeit seiner Ratschlage und eine von niemandem
erreichte didaktische Sachkenntnis. Jener Bau war kein
Neubau im vollen Sinne des Worts. Vergleichen wir ihn
mit dem des 13. und des 18. Jahrhunderts , so steht er
jenem viel naher als diesem. Noch immer ist Wissenschaft
nicht Forschung, sondern Lehre, noch immer fuhrt die
Theologie das Szepter iiber alle Wissenschaffcen, noch im
mer gilt die durchsichtige Form fast soviel wie die Sache.
Aber der Bau umfaBte die alten Elemente in gereinigter
G-estalt und enthielt auch wesentliche neue Elemente des
Fortschritts : nicht nur die Kenntnis des Griechischen, die
die unerlaBliche Vorbedingung jeder wissenschaftlichen
Vertiefung war, sondern iiberhaupt die Aufforderung, die
IFberlieferung so kennen zu lernen, dafi man iiberall auf
die Originale zuriickging.
In erster Linie hat Melanchthon fur den ganzen Kreis
der Wissenschaft gearbeitet durch seine Lehrbiicher. Nicht
nur Grrammatiken hat er herausgegeben, sondern Kompen-
138 Erster Band, erste Abteikmg. Eeden: VI.
dien der Khetorik, der Dialektik, der Physik, der Psycho-
logie und der Ethik, dazu auch einen ziemlich ausfuhrlichen
Leitfaden der G-eschichte ; ja er ist einer der ersten gewesen,
der regelmaBig Vorlesungen fiber Greschichte gehalten hat.
Alle diese Lehrbiicher dienten dem akademischen Unterricht.
Als unubertroffene Muster von Klarheit, Ordnung nnd ele-
ganter Angemessenheit des Vortrages werden sie von einem
Meister der G-eschichte der Philosophie geriihmt, und
treffend fdgt derselbe hinzu, Melanchthon habe durch sie
die philosophischen Wissenschaften von der Kasnistik des
scholastischen Denkens befreit, den ins Mafilose getriebenen
Distinktionen der Begriffe, der verkiinstelten Sprache und
dem ganzen Staube des Mittelalters. Dabei Melt er aber
zugleich den Humanisten gegeniiber die logische Grrundlich.-
keit im Vortrag aufrecht. In der Tat — die Befreiung
von der Kasuistik, wie in der theoretischen Philosophie,
so vor allem in der Ethik, war der groBte Fortschritt in
diesem akademischen Unterricht. Er war die Vorbereitung
und Uberleitung zu einer einheitlichen Erkenntnis der
Natur und des Greistes, wie sie einem spateren Zeitalter
aufgehen sollte. Aber aueh die Zuriickdrangung der Bild-
lichkeit des Vorstellens einerseits und der Kampf gegen
die Begriffsmythologien andererseits erhoben die enzyklo-
padischen Arbeiten Melanchthons iiber die Stufe einer in
den Formen steckengebliebenen Philosophie. Was er in
seine Lehrbiicher schrieb, das trug er in lebendiger Rede
vom Katheder herab vor, immer unverdrossen, mochten es
viele hunderte Zuhorer sein oder kaum ein Dutzend. Noch
in dem Jahre seines Todes las er gleichzeitig sechs Vor-
lesungen, iiber die griechische Grrammatik, iiber Euripides,
uber den Eomerbrief, iiber Dialektik, iiber Ethik und iiber
Q-eschichte. Alle Studenten sollten diese Vorlesungen horen,
vor allem aber die Theologen; denn — davon war Melanch-
thon durchdrungen — eine ungelehrte, unwissenschaftliche
Theologie ist eine ,,Ilias malorum".
Philipp Melanchthon. 189
Aber der groBe Lehrer, nnter dessen Handen alles
didaktisch wurde, die Religion nicht weniger als die Poesie,
lehrte nicht nur, sondern er bildete. Me ist der Beruf des
G-elehrten, des Professors, idealer und groBer gefaBt, nie
wiirdiger verwirklicht worden, und darum sammelte er nicht
nur Zuhorer, sondern erzog sich Schiller. DaB der Lehr-
beruf eine sittliche Gremeinschaft der Strebenden hervor-
rufen miisse, daB der G-elehrte dem Grelehrten wie ein
Freund gegeniiberstehe, daB eine Gremeinschaft aller Lehren-
den im Dienste der Wissenschaft kein bloBer Traum sei,
sondern ein erreichbares Ideal, das war ihm gewiB. In
diesem Sinn hat er gewirkt und seine Schiller sowohl wie
jeden Gelehrten als Freund an sich gezogen, im personlichen
Verkehr — nichts ging ihrn fiber eine docta et arnica con-
fabulatio — und in einem unermeBlich reichen Briefwechsel.
Viele tausende von Brief en sind heute bekannt, und noch
immer steigt die Zahl. Soweit es an ihrn lag, blieb Me
lanchthon mit jedem Schiller in Zusammenhang, beantwor-
tete jede Frage, nahm an den Lebensschicksalen der jungen
Freunde teil und leitete aus der Feme von seinem Schreib-
tisch um Mitternacht ihre Schritte. Die Folge war, daB
er die Universitaten und gelehrten Schulen besetzte, nicht
nur im evangelischen Deutschland, sondern auch in Schott-
land und England, in Polen und Ungarn. Thn fragten
die Fiirsten, ihn die Magistrate, wenn es gait, tiichtige
Lehrer zu gewinnen; sie wuBten, daB er niemals etwas fur
sich begehrte und nur der Sache diente. So empfing der
Protestantismus einen einheitlichen Lehrerstand neben einer
einheitlichen Bildung. Jenes hohe Q-ut des Mittelalters,
welches durch die Reformation in Frage gestellt war, die
Einheit der Kultur — es blieb dem Abendland erhalten,
soweit die Spaltung der Religion und die immer kompli-
zierter werdenden Bedingungen der auBeren und inneren
Lage es zulieBen. Der eine Melanchthon hat im 16. Jahr-
hundert das geleistet, was im 12. und 13. die stolze Reihe
Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
grofier Lehrer vom Lombarden bis zu Duns Scotus geleistet
hat. Aber dort war schlieBlich alles monchich orientiert;
auf allem weltlichen Handeln lag der Bann der Kirche;
bier dagegen waren Gottesdienst und weltlicher Beruf in
dem Element des Ethischen versohnt; neue Aufgaben
waren der sittlichen Lebensbewegung gestellt.
Doch noch habe ich das letzte Verdienst Melanchthons
nm die hohere Bildung nicht genannt. Zwar war er zum
Herrscher niclit veranlagt, aber er war ein vorziiglicher
Organisator. Mcht nur die Universitat Wittenberg hat
erst er nach unvollkommenen Anfangen wirklich eingerich-
tet und blieb zeitlebens ihr Haupt und ihre Seele, auch
die kursachsische Schulordnung hat er entworfen. Beide
Lehrplane wurden vorbildlich fur einen stets wachsenden
Kreis von protestantischen Universitaten und gelehrten
Schulen. Solche in alien G-ebieten unseres Vaterlandes
einzurichten, den Verhaltnissen anzupassen und sie zu be-
raten, ist er rastlos tatig gewesen. Bis zur Stiftung der
Universitat Halle, d. h. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
ist seine Organisation des gelehrten Unterrichts in Deutsch-
land mafigebend geblieben. Hier sind die G-enerationen
gebildet worden, die sich durch den dreiCigjahrigen Krieg
nicht niederwerfen lieJJen. Vor allem aber die evangelischen
theologischen Fakultaten sind sein "Werk. Dankbar blicken
sie an dem heutigen Tage zu ihm auf und geloben, das
ihnen anvertraute Gut zu bewahren und ihre Arbeit unter
das schone Bekenntnis zu stellen, das er abgelegt hat:
wlch bin mir bewufit, mit meiner ganzen theologischen
Arbeit nie einen anderen Zweck verfolgt zu haben, als
das Leben zu berichtigen und zu veredlen." —
So lehrend und bauend, sittigend und erziehend, hat
er ein groJJes, emheitliches Lebenswerk geleistet. Anders
als es sich der fruhreife Jiingling gedacht, hatte sich die
Aufgabe gestaltet, und in Stunden des Verdrusses und des
theologischen Haders hatte er den Eindruck, aus seinen
Philipp Melanchthon. 191
eigentlichen Bahnen geworfen zu sein. In Wahrheit hat
er sie nicht verlassen nnd alles das entwickelt, was in seiner
Natur angelegt war, nnd was das grofie Erlebnis des Zeit-
alters, die Reformation, in einer solchen Natur zn entziinden
vermochte. —
Der hentige Tag regt aufs nene in nns die Frage an,
welche innere "Wahrlieit nnd welches Recht dem Ideale des
christlichen Humanismus zukommt. Heriiber nnd hiniiber
wogt der Streit der Meinnngen. Soviel aber ist gewifi, dafi
Christentum nnd Antike nicht wie znfallig von Epigonen
zusammengeschweiJBt sind, sondern dafi bei allem G-egen-
satz anch ein wirklicher, nralter Zusammenhang besteht.
GewiC ist anch, daJJ nnsere Kultnr nnd Gresittnng trotz
der Umwalzung nnserer Weltanschannng solcher Manner
bedarf, die im Greiste Melanchthons zn wirken vermogen.
Fiir einen bloBen EUassizismus ist ebensowenig Raum nnd
Yerstandnis mehr in nnserem Zeitalter vorhanden, wie fiir
eine Theologie, die sich gegen die fortschreitenden Er-
kenntnisse absperren zn konnen meint. Aber der christ-
liche Humanismns Melanchthons, bereichert nnd vertieft,
ist auch hente noch die Kraft unseres hoheren Lebens,
und sein Schwert wird noch immer anfblitzen, wo es gilt,
das Erbe der G-eschichte zu verteidigen, den Adel des
G-eistes zn schiitzen nnd die Reinheit der Seele.
ADOLF HARNACK - REDEN UND AUFSATZE
<&2 ERSTER BAND • ERSTE ABTEILUNG ^
REDEN: VII
AUGUST NEANDER
Rede
bei der Feier zum hnndertjahrigen G-edachtnis der Geburt August
Neanders gehalten in der Aula der Keniglichen Friedricli Wilhelms-
Universitat in Berlin am 17. Januar 1889.
Die theologische Fakultat hat Sie eingeladen, mit ihr
das Andenken August Neanders festlich zu begehen.
Sie feiert in ihm den Kirchenhistoriker , mit welchem,
wie sein grofier Rivale, Ferdinand Christian Baur, be-
zeugt, eine neue Epoche der kirchlichen Gresehichtsschreibung
begonnen hat. Sie verehrt in ihm den beriihmtesten und
geliebtesten Lehrer, den sie neb en Schleiermacher in
ihrer Mitte besessen hat. Die Aufgabe, sein Lebensbild
und seine Bedeutung zu schildern, hatte ich gerne Be-
rufeneren iiberlassen. Weilen doch in unserer Mitte solche,
die zu seinen Fiifien gesessen haben und denen das Herz
aufgeht, wenn sein Name genannt wird; erfreuen wir uns
doch noch der Gregenwart des greisen Kirchenhistorikers,
der eine unubertreffliche Charakteristik seines Zeitgenossen
Neanders geschrieben hat, Karl Hase. Aber auf den Lehr-
stuhl berufen, den Neander einst schmiickte und den er zu
einem Katheder des protestantischen Deutschlands , ja der
protestantischen Welt erhoben hat, durfte ich mich der
Aufgabe nicht entziehen, am heutigen Tage einen beschei-
denen Kranz zu den FiiBen des groBen Vorgangers nieder-
zulegen. Mag der Abstand der Zeiten, mag das Fehlen
personlicher Erinnerungen dem Bilde den sonnenhaften
Glanz versagen, in welchem nur personliche Schiller es zu
schauen vermogen, so gelingt es vielleicht dem spater G-e-
borenen besser, das Bleibende von dem Verganglichen zu
scheiden.
Ware Neander freilich nur ein Virtuose gewesen, wie
sie am Anfange unseres Jahrhunderts auf alien Gebieten
13*
196 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
der Wissenschaft neben den wahrhaft grofien nnd fuhren-
den Geistern zahlreich waren und in anregender aber un-
geziigelter Eigenart den Charakter jener merkwiirdigen
Epoche mitbestimmt haben, so wiirden wir heute seiner
nicht feierlich und dankbar gedenken; denn die Nachwelt
flicht dem Virtuosen keine Kranze. Aber inmitten jener
Gruppe von enthusiastischen Geistern nnd beweglichen Ta-
lenten ragt er hervor durch die Lauterkeit seiner Gesinnung,
durch die eindringende und sanfte Gewalt, mit der er eine
neue Betrachtung der Kirchengeschichte durchgesetzt hat,
und — nicht zuletzt — durch einen wahrhaft bewunderungs-
wiirdigen Fleifi. Und doch ist damit fur alle, die ihn ge-
kannt haben, noch nicht das Hochste gesagt. Was sie an
ihm verehrten, wodurch er sie innerlich bezwang und sich
zu eigen machte, das war seine christliche Personlichkeit,
seine Demut und Einfalt, seine Selbstverleugnung und
Liebe, der christliche Glaube, in welchem der Gelehrte eben-
so aufging wie der Mensch. Man kann von Neander dem
Kirchenhistoriker nicht sprechen, ohne von Neander dem
Christen zu reden. Und man darf auch an dieser Stelle
sein Andenken nicht beleben, ohne das Herz dieses Mannes
zu ruhmen, das unbegrenzte Wohlwollen, das nicht nur
iiberflofi in Gaben der Barmherzigkeit, sondern das sich vor
allem in edelster Freundschaft offenbarte. 75Der Drang
geistiger und gemiitlicher Mitteilung war die Seele seines
Lebens."
Als Sohn eines jiidischen Kramers gewohnlichen Schlags
ist David Mendel — denn das war sein urspriinglicher
Name — , das jungste von sechs Geschwistern, in Gottingen
geboren. Fur seine Erziehung war es entscheidend, dafi
die Mutter bald das Haus des unwiirdigen Gatten verliefi
und mit den Kindern nach Hamburg zog. Sie war eine
fromme, achtungswerte Frau, hatte verwandtschaftliche Be-
ziehungen zu guten jiidischen Familien, so zu Mendelssohn
und Stieglitz, und lebte fur ihre Kinder. In Hamburg ist
August Neander. 197
der Knabe aufgewachsen. Die Mutter machte es unter
Opfern moglich, ihn in das Johanneum zu schicken, dessen
Direktor G-urlitt sick bald fiir den ungewohnlichen Zog-
ling interessierte. Denn ungewohnlich war er. Korper,
Haltung nnd Kleidung waren vernachlassigt und wiesen
ihn in die Klasse jener armen Judenjungen, deren Anblick
ein mit Verdrufl gepaartes Mitleid erregt. Aber der G-eist,
der in dieser wenig angemessenen Behausung lebte, ent-
ging dem scharfen Auge des Direktors nicht und schlieJJ-
lich triumphierte er auch liber die Spottlust der Mitschuler.
Schon hier beginnt die Parallele zu den Vatern und Asketen
der alten Kirche, die sich jedem aufdrangt, der Neanders
Eigenart und Entwickelungsgang iiberscliaut. Zeitlebens
ist er in kummerlicher Hiille geblieben. Seine Unbeholfen-
heit und Unmiindigkeit im weltlichen Lebensverkehr sind
in dieser Stadt sprichwortlich geworden. Er blieb in den
aufieren Dingen wie ein Kind, durch und durch abhangig
und der Bevormundung bediirftig. Aber auch dort, wo er
es vermocht hatte, sich iiber diese Unbeholfenheit zu er-
heben, scheint er mit BewuBtsein die G-leichgiiltigkeit gegen
alles AuBere festgehalten zu haben. Sie bildete gleichsam
einen Schutzwall seines Daseins, um sich ungestorter und
volliger seinem Berufe hinzugeben. So hat er sich auch
niemals entschliefien konnen, in die Ehe zu treten. Er
blieb ein Monch, alien weltlichen Greschaften abgewandt,
aber rastlos arbeitend und Seelen werbend.
Ostern 1805 ging er, im Qriechischen und Lateinischen
der Erste, vom Johanneum zum akademischen Gymnasium
iiber. Die Rede, die er nach Anordnung des Direktors
iiber das Thema: ?,De Judaeis optima conditione in civi-
tatem recipiendis", also iiber die Judenemanzipation, hielt,
atmet den G-eist Moses Mendelssohns und des 18. Jahr-
hunderts. Vielleicht aber darf man annehmen, dafi sie mehr
den Gresinnungen des Direktors entsprach, der sie auch mit
Anmerkungen zum Druck befordert hat, als seinen eigenen.
198 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
Sie machte iibrigens einen gewaltigen Eindruck. Niemand
hatte das von dem sonst so schiichternen und in seinem
Auffcreten ungeschickten Jiingling erwartet.
Aber mochte er auch voriibergehend von den philoso-
phischen und biirgerlichen Idealen der Aufklarungszeit be-
riihrt gewesen sein — sclion war ihm ein anderer Stern
aufgegangen, Plato, und wahrend er sich ihm mit Be-
geisterung hingab, fiihrte ihm das akademische Gymnasium
zwei Freunde zu, Varnhagen von Ense und Wilhelm
Neumann, altere Studenten, die bereits mit Chamisso
einen Musenalmanach herausgegeben hatten. Sie gehorten
der selbstbewufit und kiihn aufstrebenden romantischen
Schule an und waren durch die innigste Freundschaft mit-
einander vereinigt. In diesen Bund, der sich das Zeichen
des JSTordsterns als Symbol erwahlt hatte, trat David Mendel,
und er entschied fur sein Leben. Die Freunde fiihrten ihn
in die Schriften Schlegels, Tiecks und Fichtes, in
den Zaubergarten der Romantik, ein, und er lehrte sie den
Plato. Aus der engen Schulstube und der Welt niichterner
und spiefibiirgerlicher Ideale, aus einem gedriickten und
kiimmerlichen Dasein, sah sich der Jiingling plotzlich in
die Sphare iiberschwenglicher Herrlichkeiten und edelster
Gefiihle versetzt. Das Wunderland, welches Plato und die
Neuplatoniker entdeckt, welches die Mystiker geschaut, Jakob
Bohme geheimnisvoll beschrieben, tat sich ihm auf. Hand
in Hand mit den gleichgestimmten Freunden bestieg er
jenen Nachen, dem der Fahrmann fehlt, aber dessen Segel
beseelt sein sollen, um hinauszufahren ins Weite, um das
Universum zu gewinnen, um — ich rede in seinen Worten
— aus der Vielheit und Entzweiung die Einheit wieder-
zufinden, die feste klare Kindlichkeit , den absoluten Cha-
rakter der Vergottlichung. In diesem Sturm und Drang,
in dem seine Seele schwelgte, war ihm die Freundschaft
der Freunde nicht nur Mittel und Hilfe. Ihm offenbarte
sich vielmehr in der Freundschaft die hochste Metaphysik
August Neander. 199
selbst. Liebe, Universum, G-ottheit, Einheit, Bruderschaft,
das G-ute, — er lebte in einer Sphare, wo jede Vertauschung
dieser Begriffe erlaubt, ja geboten war. Eine Reihe von
Briefen an Chamisso aus jener Epoche, wenn auch etwas
spater beginnend, sind uns aufbewahrt. Sie sprechen die
Sprache des Schwarmers. Ein brausender Wein schaumt
in diesen Bechern. Doch ist die Kraft der Phantasie ge-
ringer als der Schwung und die Spekulation. Manches ist
auch nur nachgeahmt. Platonische, Bohmesche, Schelling-
sche und vor allem auch. Schleiermachersche Gedanken
klingen in den Briefen des siebzehnjahrigen Jiinglings an,
die der hochbegliickte Ereund ,,gottliche" nennt. Aber bei
allem Uberstiirzten , Unklaren und Rhetorischen fehlt der
tiefe und ernste sittliche Ton nicht, den die Produktionen
gleichgestimmter Ereunde damals nicht selten vermissen
liefien. So kiindigte sich die zukiinftige Eigenart ISTeanders
schon hier an. ,,Beten und arbeiten: ja das mag der Grrund-
ton der Musik unseres Bundes sein", schreibt er Chamisso im
April 1806. Von Plato spricht er in den Briefen und nennt
ihn ,,den vorchristlichen Christen". Und wir lesen ferner
dort die Worte: ,,Heiliger Heiland, du allein kannst uns ja
mit diesem profanen Geschlecht versohnen, fur das Du . . .
ohne dafi es dies verdient, lebtest, littest, starbst. Du
liebtest die Profanen, und wir konnen sie nur hassen, ver-
achten ! u
?,Heiliger Heiland" — Sie werden erstaunen, diesen
Ausruf in den Worten eines Juden zu finden. Aber er war
es bereits nicht mehr. Schon im Februar 1806 hatte er
sich taufen lassen. Man darf wohl sagen, dafi Plato, wie
er ihn verstand, d. h. der Neuplatonismus , Plutarch und
Schleiermachers Reden iiber die Religion, verklart durch
den Bund der Freundschaft, ihn zu diesem Schritte gefiihrt
haben. Wenige Tage vor seiner Taufe schreibt Neumann
an Chamisso: ,,Wir haben unter unseren Mitstudierenden
einen trefflichen Jiingling kennen gelernt .... Plato ist
200 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
sein Idol und sein immerwahrendes Feldgeschrei. Es sitzt
Tag und Nacht iiber ihm, und es mag wenige geben, die
ihn so ganz und so in aller Heiligkeit in sich aufnehmen.
Es ist wunderbar, wie er dies alles so ganz ohne fremden
EinfluB geworden ist, blofl durch Betrachtung seiner selbst
und redliches, reines Studium. Ohne von der romantischen
Poesie viel zu kennen, hat er sie sich selbst konstruiert
und die Keime dazu in Plato aufgefunden. Auf die "Welt
urn sich herum, hat er mit tiefer Verachtung blicken ge-
lernt.«
Wie fur die Kirchenvater Justin und Augustin, so war
auch fur Johann August Wilhelm Neander — denn
diese Namen erwahlte er sich nun — der Platonismus die
Briicke zum Christentum geworden. Es war kein TJbertritt
aus Konvenienz. Aber wie Neander niemals ein Jude im
Sinne des Talmud gewesen ist, sondern vielmehr im Sinne
Philos, so irat er auch nicht zu irgend einem dogmatischen
christlichen Bekenntnis iiber. Wir besitzen noch den Auf-
satz, welchen er dem Pastor einreichte, der ihn taufte.
Hier ist das Christentum dialektisch-romantisch als die ab
solute Wahrheit aus den Entwickelungsstufen der Religion
konstruiert. Neben Schleiermacherschen Elementen tritt
ein Bohme-Schellingsches deutlich hervor. Als das spezi-
fisch Christliche gilt das Verschmelzen mit dem Unendlichen,
die Liebe als die Identitat aller G-egensatze, und der dem
irdischen Staate gegeniibergestellte Verein der Seelen zur
Anschauung des Unendlichen, die Kirche, deren erste Keime
Neander in dem Freundschaftsbunde der Pythagoreer finden
will. Doch fehlte ein kraftiges Pathos fiir die Person
Christi schon damals nicht. Aus der Gruppe der ,,Virtuosen
der Religion" tritt der Erloser deutlich hervor.
Ostern 1806 verliefi Neander Hamburg, um Jurisprudenz
zu studieren. Allein auf der Reise zur Universitat wurde
es ihm klar, dafi er Theologe werden miisse. Er ging nach
Halle, um den Mann zu horen, der die Grebildeten unter
August Neander. 201
den Verachtern wieder zur Versohnung mit der Religion
fiihren wollte, Schleiermacher, urn 7,nicht blofi ein
stummes Mitglied des heiligen Bundes zu bleiben, sondern
in die Reihe derer zu treten, welche das Christentum mit
der Freiheit des klaren BewuBtseins aussprechen und tatig
in dem inneren Leben der Kirche wirken".
Schleiermachers Vortrage iiber Kirchengeschichte mach-
ten auf den jungen Studenten den tiefsten Eindruck. Aber
bald notigten ihn die politischen Verhaltnisse , Halle mit
Gottingen zu vertauschen. Dort wurde er, Tag und Nacht
rastlos arbeitend, Mittelpunkt und Haupt eines Kreises von
Freunden, denen er Plato und Schleiermacher interpretierte.
Ungern weilte er in Grottingen, welches er Philistropolis
nannte. Allein der Aufenthalt daselbst war dock hochst
wichtig. Hier lernte er in Planck den gelehrtesten
Ejurchenhistoriker jener Zeit kennen. Unzweifelhaft hat ihn
dieser ausgezeichnete Mann zu punktlichem und nuchternem
Quellenstudium angeleitet. Der Q-eist der Greschichts-
forschung, das Charisma der Gottinger Hochschule, beriihrte
den strebsamen Jungling und fdhrte ihn zur Kirchenge-
schichte. Obgleich andere Bahnen einschlagend als Planck,
hat Neander zeitlebens fur den ^teuersten und innigst-
verehrten Lehrer" die Gefuhle des Dankes gehegt. Nach-
mals als Planck sein funfzigjahriges Jubilaum feierte, wid-
mete ihm Neander einen Band seiner Kirchengeschichte
und begleitete die Widmung mit folgenden pietatsvollen
Worten:
7,Wenn Sie auch mit vielem in diesem Werke nicht
zufrieden sind, so werden Sie doch in dem Streben nach
wohlwollender Gerechtigkeit den Schiller nicht verkennen,
der von dem grofien Meister selbst, dem er so vieles ver-
dankt, zuerst gelernt hat, dem suum cuique in der Auf-
fassung der Geschichte nachzustreben. Und Sie werden am
besten mit Ihrer, von dem Geiste der Liebe verklarten, nun
durch ein halbes Jahrhundert erprobten Gerechtigkeit auch
202 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VIL
jeden Ihrer Scliiiler, der in ernster Gresinnung arbeitet, auf
seinem Standpunkt anzuerkennen wissen. Daher recline ich
getrost mit einer von dankbarer Liebe und Verehrung dar-
gereichten Grabe auf Ihre JSTachsicht. Grott sei gepriesen,
dafi er Sie uns zum Lehrer gegeben und Sie uns so lange
erhalten hat.u
Wie sticht dieses heniiclie Zeugnis ab von dem hoch-
miitigen Tone, in welchem schon damals das neue Theo-
logengeschlecht von den Mannern sprach, die es Rationa-
listen nannte!
Bereits wuchs aber Neander in der Beurteilung der
Kirchenvater und des alten Dogmas iiber seinen Lehrer
Planck hinaus. Wir haben dafiir ein sehr kostbares Zeug-
nis in einem seiner Grottinger Briefe. Er spricht sich un-
befriedigt iiber Plancks Behandlung der Dogmengeschichte
des 5. Jalirhunderts aus. In dieser sei so vieles, was die
Leute veranlasse, nur auf, ,,die aufieren Grimassen" zu
sehen und dann 7,das heillose Spiel" zu beweinen. Man
miisse vielmehr die Streitenden selbst betrachten, und man
konne speziell Augustin nicht verstehen, wenn man nicht
einsehe, daB seine Theorie auf dem Boden des religiosen
Gefuhls entstanden, dann auf das Gebiet des Verstandes
verpflanzt sei, weshalb sie leicht mifiverstanden werden
konne. Das ist schon der ganze spatere Neander!
In den Ferien des Jahres 1807 traf Neander in Han
nover mit einem Professor Frick, in Hamburg mit Matthias
Claudius zusammen. Durch diese Manner, welche dem
philosophisch-romantischem Greiste nicht huldigten, sondern
auf ein biblisches Christentum drangen, wurde er zum
ISTachdenken dariiber gebracht, ob Schleiermacher, Schelling
und Fichte wirklich die klassischen Interpreten des Evan-
geliums seien. Seitdem trat die romantische Philosophic
fur ihn in den Hintergrund. Er wandte sich ganz dem
Studium des Neuen Testamentes und der Kirchenvater zu.
Das Historische und Buchstabliche wurde ihm von \Vichtigkeit
August Neander. 203
gegeniiber philosophischen Umdeutungen. Die Person Christi
als des gottlichen Erlosers ward ihm zum Mittelpunkt seines
inneren Lebens und seiner geschichtlichen Betrachtung.
Er wufite sich als ein neuer Mensch, ,,mit jener frischen
Innigkeit wie Einzelne in den ersten Jahrhunderten, denen
das Christentum nicht angeboren war, sondern die es gegen
widerstrebende Verhaltnisse ergriffen haben wie einen Raub".
Uber das glanzende Examen, welches er im Herbst 1809
in Hamburg ablegte, berichtet ein Augenzeuge: ,,N"eanders
Erscheinung, den Examinatoren sicherlich eine Raritat
eigener Art, wenn nicht ein geisterartiges Wesen aus
fremden Regionen, setzte die samtlichen Herren sehr bald
in Verwunderung und Erstaunen ... So oft sie ihn nur
eben anriihrten, trat ein Strom tiefer und gelehrter Be-
merkungen und gewissermafien — interessanter Abhand-
lungen hervor, der fast kein Ende nehmen zu konnen
schien." Nach kurzer Kandidatenzeit ging Neander trotz
aller Bedenken der Seinigen nach Heidelberg und jhabiii-
tierte sich dort als Privatdozent. Durch die Berufung De
Wettes und Marheinekes nach Berlin war in Heidelberg
Platz fur einen tiichtigen Dozenten geschaffen. Mit einer
Abhandlung uber Clemens Alexandrinus erwarb er sich im
Jahre 1811 die venia docendi. Die Thesen, liber welche
er disputierte, sind hochst interessant, denn sie zeigen schon
einen neuen Greist der Greschichtsbetrachtung. War bisher
von protestantischen Kirchenhistorikern Bonifatius als ein
berechnender Romling hingestellt worden, so lautete Nean-
ders 1. These: Die sind im Irrtum, welche die Taten des
Apostels der Deutschen, Bonifatius, aus Ehrgeiz ableiten.
Die 2. trat fur die wesentliche Echtheit der Ignatiusbriefe
ein, und ich vermute, auch hierin wird ihm schliefilich die
Kritik Recht geben. In der 10. warf er dem 18. Jahrhundert
den Fehdehandschuh hin, indem er unter Berufung auf
einen Ausspruch des Aristoteles in Abrede stellte, dafi es
nnaturliche Religion" gebe.
204 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
Seines Bleibens in Heidelberg war nicht lange. Im
Jahre 1812 gab er die kirchenhistorische Monographie her-
aus: ,,Uber den Kaiser Julianus und sein Zeitalter. Ein
historisches Gemalde", und bereits im folgenden Jahre,
im Jahre des Freiheitskrieges , wurde er an unsere neu-
gegriindete Universitat berufen. Hier wirkten Schleier-
macher, De Wette und Marheineke. Diese jiingste
Fakultat gab der G-esamtentwickelung der theologischen
Fakultaten eine neue Kichtung. Neander, der unsere Hoch-
schule nicht mehr veiiassen hat, wurde bald neben Schleier-
macher, von dem er sich iibrigens im Laufe der Jahre
immer mehr entfernte, der einfluBreichste Lehrer. Nicht
erst ein spater Ruhm hat sein Grab beschattet; ihm ist
vielmehr die Liebe und Verehrung seiner Schiller und die
Anerkennung seiner Zeitgenossen im hochsten Mafie zu teil
geworden. Weil er nichts anderes war und sein wollte
als ein akademischer Lehrer, diesen Beruf aber im hochsten
Sinne faBte und seinen Studenten sein ganzes Herz ent-
gegenbrachte, so ist er auch von der akademischen Jugend
ergriffen und gleichsam aufgesogen worden. Weil er es
nie vergafl, wie viel sein eigenes Leben der Freundschaft
verdankte, ist er nie miide geworden, sich die Jugend zu
Freunden zu machen — nicht durch kraftlose Floskeln,
sondern indem er Herz und Hand ihnen hingab. Dabei
sprach er iiber die Erfahrungen des inneren Lebens nicht
viel mit ihnen. Unnotigen Bekenntnissen, wie sie von
pietistisch geschulten Studenten schnellfertig ausgesprochen
wurden, setzte er nicht selten ein schonendes Schweigen
entgegen. Aber jedermann fuhlte, was die Seele seines
Lebens war.
Eine Reihe kirchenhistorischer Monographien begriin-
dete neben den Vorlesungen seinen Euhm. Im Jahre 1813
erschien die Monographie iiber den h. Bernhard, 1818 die
iiber die gnostischen Systeme, 1822 die iiber Chrysostomus
und sein Zeitalter, 1825 die iiber Tertullian, 1832 die iiber
August Neander. 205
das apostolische Zeitalter, 1837 die uber das Leben Jesu.
Dazwischen veroffentlichte er Denkwiirdigkeiten aus der
G-eschichte des kirchlichen Lebens, sowie kiirzere Studien
und Portrats aus alien Zeitaltern der Kirchengeschichte,
z. T. vorgetragen in der Akademie der Wissenschaften und
bis in die letzte Lebenszeit fortgesetzt. In diesen Schriften
offnete er viele Tiiren, die bisher verschlossen waren. Im
Jahre 1826 aber erschien der erste Band seines Haupt-
werks, der ^Allgemeinen Greschichte der christlichen Reli
gion und Kirche", die im Laufe von 19 Jahren in 10 Ab-
teilungen bis Bonifatius VIII. gelangte und seit 1842 in
neuer umgearbeiteter Auflage ausgegeben wurde. Den
Schlufl des Mittelalters und die neue Zeit hinzuzufugen,
ist Neander nicht mehr vergonnt gewesen. Schon im Jahre
1847 war zu anderen Leiden, die ihn qualten, ein schweres
Augeniibel hinzugetreten. Er wurde im Lesen und Schrei-
ben behindert. An dem 11. Bande seiner Kirchengeschichte
arbeitend, die Schilderung der Grottesfreunde diktierend, ist
er fast mit der Feder in der Hand am 14. Juli 1850 hin-
ubergescmummert. ,,Icn bin miide, ich will nun schlafen
gehen. Q-ute Nacht", waren die letzten Worte, mit denen
er sein grofies Tagewerk beschlofi. Die Universitat und die
Stadt feierten den Entschlafenen mit den hochsten Ehren.
Die Studenten trauerten um ihn wie um einen Vater, und
iiberall in protestantischen Landen, wohin die Kunde seines
Todes drang, gab sich ungeheuchelter Schmerz kund. Sein
Berufsleben, gesegnet durch den Erfolg, dafi er nicht nur
fiir die Wissenschaft gewirkt, sondern christliches Leben
entziindet hat, war reich durch die Teilnahme an grofien
Entwickelungen , ist aber aufierlich still und gerauschlos
verlaufen. Ich mufi darauf verzichten, es Ihnen zu schil-
dern, zumal da Neanders theologischer und historischer
Standpunkt seit dem Jahre 1813 wesentlich unverandert
geblieben ist. Aber einiges Wichtige seiner weiteren Er-
lebnisse wird zur Sprache kommen, wenn wir uns die Frage
206 Erster Band, erste Aftteilung. Eeden: VII.
beantworten: Worin lag Meanders Bedeutung als Kirchen-
historiker?
Die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Neander
hat lebendiges Interesse und Lust an der Kirchengeschichte
erweekt, well er sie mit dem Auge des dankbaren Freundes
betrachtete. Neander hat das Quellenstudium der Kirchen-
geschichte belebt, well er ein grofies Ziel dieses Studiums
kannte — den geistigen Verkehr mit hohen Ahnen. Mean
der hat die Kirchengeschichte der Theologie zuriickgegeben,
weil er den Pulsschlag christlichen Empfindens und Lebens
auch unter fremden nnd sproden Hiillen zn entdecken ver-
stand.
In diesen Satzen ist der Versnch gemacht, das hohe
Verdienst der Neanderschen Geschichtsschreibung aufzu-
weisen nnd doch ihre Schranke nicht anBer acht zn lassen.
Wenn die Kirchengeschichte eine historische Disziplin im
strengen Sinn sein nnd doch der Theologie gehoren soil,
so gab es vor dem Beginn des 19. Jahrhnnderts eine solche
Kirchengeschichte bei nns noch nicht. Die Disziplin hatte
freilich schon grofie "Wandelnngen durchgemacht. Ihr Be-
trieb war im 16. nnd 17. Jahrhundert neben hochst dankens-
werten Materialsammlnngen iiber eine polemisch-konfessio-
nelle Behandlung nicht hinansgekommen. Soweit sich die
Theologen iiberhanpt um sie kiimmerten — berufsmafiige
Kirchenhistoriker gab es an den theologischen Fakultaten
nicht — , setzten sie dieselbe nach ihrer Dogmatik zurecht.
Wie das Intherische Kirchenrecht nnr eine schwachliche,
notdiirftig retonchierte Kopie des katholischen war, so war
anch die Intherische Betrachtnng der Kirchengeschichte
nnr ein mit den notigsten Korrektnren versehener Ab-
klatsch der katholischen. Selbst der Freimnt der Magde-
bnrger Zenturien wnrde nicht mehr erreicht. Aber wie die
zweite Halffce des 17. Jahrhnnderts anf alien G-ebieten Epoche
gemacht hat, sofern nach der triiben Periode der mittel-
alterlichen Reaktionen die Gedanken der Renaissance und
August Neander. 207
Reformation, freilich zunachst in ungeschickten und ver-
kummerten Formen, wieder wirksam zu werden begannen,
so datiert auch die Kirchengeschichte vom Ausgang des
17. Jahrhunderts eine neue Epoche.
Der GrieCener Professor Gottfried Arnold hat in
seiner 7,Unparteiischen Kirchen- und Ketzerhistorie" 1699
mit der alten konfessionellen G-eschiclitsschreibung ge-
brochen; ja in scharfstem Gegensatz zu ihr hat er in dem
Kirchenwesen, einschliefilich dem lutherischen, die Verwelt-
lichung des Christentums erkannt, das Dogma nicht an-
getastet, aber der Gleichgiiltigkeit preisgegeben nnd dagegen
in den Unterdriickten , in den Monchen und Asketen, in
den frommen Schismatikern und Ketzern die wahren Chri
sten gesehen. Eine ungeheuere Wandelung! nicht die Eolge
geschichtlicher Einsicht, sondern religioser Stimmung, ge-
waltsam durchgefuhrt wie jedes Vorurteil, aber doch be-
herrscht durch die richtige Erkenntnis, dafi der Grlaube des
Herzens und das christliche Leben den Ausschlag zu geben
habe in der Frage der Christlichkeit iiberhaupt. Neander
hat von Arnold in dieser Hinsicht viel gelernt; aber zu
nachst wurde Arnolds "Werk in einer ganz andern Richtung
wirksam; denn es kam dem Greiste des 18. Jahrhunderts
entgegen, und bald eignete man sich nur seinen negativen
Teil an.
Das philosophische Zeitalter ubernahm von Arnold die
Q-leichgiiltigkeit gegen die Greschichte und verwandelte sie
in Abneigung. Gregen nichts ist man strenger als gegen
eben abgelegte Irrtiimer, und wie grofi war damals die
Last der Geschichte, die man abwalzte! Aus dem Mangel
an innerem Interesse an der Greschichte, ja aus dem Ab-
scheu vor derselben ist die Kritik geboren. Es mufi nicht
immer so sein, aber damals war es so. Irre ich nicht, so
hat auch auf die deutsche Kirchengeschichtsschreibung
Gibbons grofies Werk 7,Greschichte des Sinkens und Falls
des romischen Reichs" einen hochst bedeutenden Einflufi
208 Erster Band, erste Abteilung. Reden: VII.
am Ende des 18. Jahiimnderts ausgeiibt. Man bewundert
dieses "Werk nach Form und Inhalt und wird doch sagen
miissen, dafi es sich nicht lohnt, Geschichte zu studieren,
wenn sie nichts anderes bereitet als em buntes Schauspiel
oder einen nur durch Spott und Ubermut zu bewaltigenden
Verdrufi. Im Geiste und mit dem Talente Gibbons ist
die Spittlersche Kirchengeschichte geschrieben. Man ver-
verdankt diesem Buche vieles, was nicht veralten kann.
Man verdankt inm und gleichartigen anderen die Einsicht,
dafi eine unmogliche Geschichte beschreiben wollen, nicht
Geschichtsschreibung ist, dafi die Kirchen- und Dogmen-
geschichte jeglichen Zeitalters den allgemeinen Hegeln der
Historik unterliegt. Das haben wir vom 18. Jahrhundert
gelernt, und das wollen wir nicht vergessen! Aber wie
kummerlich ist andererseits eine Geschichtsschreibung, die
sich in den Greist der Zeit, die sie beschreibt, schlechter-
dings nicht zu finden vermag, die in Athanasius nur einen
Pfaffen, in Augustin nur einen Betbruder zweifelhafter Ver-
gangenheit, in dem h. Bernhard nur einen herrschsiichtigen
Schwarmer erkennt, die in Altertum und Mittelalter eigent-
lich nur unbegreifliche Torheiten oder noch schlimmere
Bosheiten erblickt! Allein es ware doch hochst ungerecht,
wollten wir es bei dieser Charakteristik belassen. Die
Ki r chenhis toriker des 18. Jahrhunderts haben sich, nachdem
sie sich sozusagen von den ersten Folgen des grofien Um-
schwungs erholt hatten, doch sofort an die Arbeit gemacht,
die Greschichte wirklich zu verstehen. Es ist auch nicht
richtig, dafi sie sich lediglich mit einem aufierlichen Prag-
matismus begniigt haben. Sie haben vielmehr riistig damit
begonnen, die inneren Faden aufzudecken, die Abhangig-
keit der Kirchengeschichte von der Weltgeschichte, deren
Teil sie ist, nachzuweisen und die Entwickelung und Ver-
anderungen der Institutionen zu beschreiben. Neben anderen
ist hier vor allem der schon erwahnte Gottinger Planck
zu nennen. Allein unleugbar bleibt doch, dafi das wahre Ver-
August Neander. 209
standnis ferner Zeiten und ferner Menschen jenen Mannern
verschlossen blieb, dafl sie die Elastizitat der Nachempfin-
dung vermissen lassen, daft Lhnen, mit wenigen Ausnahmen,
als Historikern die Liebe fehlte, und dafl sie das Granze auf
einen kiiminerlichen Ausdruck brachten, weil ihr eigener
Horizont beschrankt, ihr Anschauungsvermogen fur das
Einzelne diirftig gewesen ist, und weil sie dem geschicht-
lichen Christentum entfremdet waren.
Das war die Lage der Kirchengeschichtsschreibung,
die Neander vorfand. Den frischen und neuen Zug, den
er bereits in seiner ersten Monographic iiber Julian be-
kundete — dort nach Verstandnis zu suchen, wo die
anderen bereits aburteilten — , hat er nicht als der Erste
aufgebracht. Auf dem Gebiete der Literaturgeschichte, der
Volker- und E/echtsgeschichte war dieser Zug vielmehr
schon lebendig. Herder, den Romantikern und ihren ge-
lehrten Schiilern verdanken wir ihn. Aber Neander hat
ihn, von Schleiermacher anger egt, zuerst auf die Kirchen-
geschichte iibertragen und mit ihm das freudigste und ernst-
hafteste Quellenstudium ; denn beides ist Hand in Hand
gegangen. So hat er als ein Jiinger Christi und der
Romantiker das kirchenhistorische Studium belebt, indem
ihm in alien Zeiten wertvolle Erscheinungen entgegen-
traten, deren Bekanntschaft sich lohnte, indem er das
Evangelium als einen Sauerteig erkannte, der die Welt
durchdrungen habe, und indem er demgemaB den christ-
lichen Geist in alien Jahrhunderten zu entdecken verstand;
z. T. dort, wo ihn bisher niemand gesucht hatte. Die
zarteste romantische und christliche Empfindung verband
er dabei mit einem eisernen, keineswegs romantischen FleiB.
In jedes Jahrhundert trat er ein, aber in keines schloJJ er
sich ein, und durch kein einziges wollte er sich reichere
Anschauungen verengen lassen. Mit welcher Umsicht hat
er geforscht, wie Vieles hat er erzahlt, was niemand vor
ihm erwahnt hatte! wie wufite er die religiosen und sitt-
Harnack, Reden und Aufsatze. 2.Aufl. 1. 14
210 Erster Band, erste Abteilung. Beden: VII.
lichen Elemente in ihrer Verknupfung zu wiirdigen! wie ver-
stand er es, ans dem Vielerlei die Hauptsache herauszufinden!
So arbeitete er mit an einer neuen Betrachtung der Dinge.
Grestatten sie mir hier eine Parallele. Sie schlagt frei-
licli sehr zu gunsten des deutschen und des protestan-
tischen Greistes ans; aber sie ist gegen den Vorwurf des
Chauvinismus, hoffe ich, gedeckt:
Auch die Kirchengeschichtsschreibung in Frankreich
ist nach dem Zeitalter Voltaires am Anfang des 19. Jahr-
hunderts in eine neue Epoche getreten. Anch hier ist das
Neue aus der Eomantik geboren, nnd Kraft der Anschau-
ung, Freude nnd Anempfindnng an die Vergangenheit losten
das Zeitalter des Ubermuts nnd des Spotts, wie in Deutsch-
land, ab. Aber wer ist der Mann gewesen, der seine Lands-
lente dort znr Kirchengeschichte zuruckgefiihrt hat? Ein
Grelehrter, so ernst nnd so tren wie JSTeander? Kernes wegs,
sondern ein zweifelhafter Charakter, ein Mann, der niemals
mit voller Hingabe an die Sache gearbeitet nnd es im
Grrnnde mit keiner Wahrheit ganz ernst genommen hat, der
von seiner Bekehrnng spricht, weil ihm der asthetische
Heiz dieser Empfindung anziehend war, nnd der das katho-
lische Christentnm fur wahr und jede Legende fur wirklich
erklarte, weil er sie schon und erhaben fand — Chateau
briand. Es ist unerfreulich, die Namen Chateaubriands
und Meanders nebeneinander zu nennen — Zacharias
Werner oder Brentano ware die richtige Parallele, wenn
man von der unvergleichlichen Bedeutung absieht, die
Chateaubriand fur die Entwicklung der franzosischen
Literatur gehabt hat — ; aber in ihren Wirkungen sind sie
in hohem Mafie vergleichbar. Die vollig romanhaften,
selbst die Verklarung des Absurden nicht scheuenden kirchen-
historischen Darstellungen Chateaubriands haben fur Frank
reich dieselbe Bedeutung gehabt, wie die ernsten Mono-
graphien Neanders fur Deutschland. Aus ihnen hat sich
die franzosische Kirchengeschichtsschreibung im 19. Jahr-
August Neander. 211
hundert entwickelt, und es 1st niclit scliwer, selbst bei
Re nan die Einwirkungen Chateaubriands nachzuweisen.
Aber wie im Katholizismus nnd in Frankreich De
Maistre neben Chateaubriand gestanden hat, so bezeich.net
auch bei tins Neander nur die eine Linie, die aus dem
18. Jahrhnndert hinausfuhrte. Man darf von Neanders
Bedeutung nicht sprechen, ohne He gels und des grofien
Kirchenhistorikers Baurs zu gedenken. Man darf das um
so weniger, als Neander selbst ihrer nur allzuviel gedacnt
hat. Das Zeitalter der Aufklarung ist auf dem Gfebiete
der Gesehichtssehreibung bekanntlich nicht nur durch die
Romantiker im Sinne Schleiermachers und Neanders iiber-
wunden worden, sondern vor allem durch Hegel. Er und
seine Schiller haben gelekrt, die G-eschichte als die Ent-
wicklung des Greistes zu verstehen, jede einzelne Phase in
ihr als notwendig zu begreifen und hinter dem Indivi-
duellen das Allgemeine zu ermitteln. Urspriinglich war
Neander selbst von dieser spekulativen Betrachtung nicht
unberuhrt; ja die Aufgabe der genetischen Entwicklung,
die er sich geschichtlichen Problemen gegenuber stets ge-
stellt hat, und die Freigebigkeit, mit welcher er noch in seinen
spatesten Schriffcen den Begriff des geschichtlichen G-esetzes
ausgespielt hat, beweisen, dafi er sich dem EinfluB He gels
nicht hat entzienen konnen. Allein, so Trefflicnes er in
ungesuchter geschich.tlich.er Dialektik geleistet, seine Starke
lag nicht in dieser Betrachtung. Sie lag in dem Streben,
das Individuelle geschichtlicher Erscheinungen griindlich
zu fassen und es erbaulich wirken zu lassen. So trat er
in einen von Jahr zu Jahr scharfer werdenden Gegensatz
zu Hegel, Strauss und Baur, deren wissenschafbliche
Methode allerdings Bedenken genug bot. Wenn Neanders
G-eschichtsschreibung die Zusammenhange in der Entwick
lung nicht uberall zu fassen und den Wert des Politischen,
Nationalen und der Institutionen nicht geniigend zu wiir-
digen verstand, so nahm sich bei den Hegelianern die
14*
212 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
absohit gewordene Theorie die grofiten Freiheiten. Nean-
der verwischte den Grang der Entwicklung -- man braucht
nur die unzweckmaflige Anlage seiner Kirchen- nnd Dog-
mengeschichte einzusehen — , aber die absoluten G-eister
losten die gesch.iclitlich.en Individuen von jeder Realitat
ab, die nicht zur Idee ihres Tragers passte. Indessen lafit
sich nicht leugnen, daft Baur in seiner Art, die Dinge zu
betrachten, vollkommener war als Neander in der ihm
eigentumlichen. Denn Baur brachte es zur Darstellung
eines groBartigen geschichtlichen Prozesses; Neander aber
gab seinen Individuen nicht die feste, umrissene Charak-
teristik, die man vom Biographen erwarten darf. Sie
gleicheii Sternen, die, von demselben lichten Nebel um-
flossen, schwer zu unterscheiden sind. Er wiirdigte sie
eigentlich nur in einer Eichtung: wie weit die Frommig-
keit, die ihn selbst belebte, in ihnen ausgepragt war, und
weit, innig und liebevoll angelegt, zeigte er ein erstaun-
liches und wohltuendes Vermogen, frommen Sinn unter
fremden Hiillen aufzuspiiren. Er sagt nichts Unrichtiges
iiber die Personen; aber er sagt nicht alles. Die Ecken
und Kanten hat er haufig abgeschliffen, die Verbindung
mit der Zeitgeschichte verkannt, den Lokalton nicht ge-
troffen. Daher ermangeln seine geschichtlichen Darstel-
lungen, besonders die spateren, der Frische ; sie haben etwas
lyrisch Monotones. Doch wie konnte das anders sein bei
einem Manne, der das offentliche Leben nur aus Buchern
kannte und der vor der Natur die Augen schlofi? Neander
selbst gestand offen, dafl er fiir ihre Schonheit und Mannig-
faltigkeit keinen Sinn besitze.
Aber eine noch empfindlichere Schranke darf hier nicht
unberiihrt bleiben. Baur und Hase, Neanders Mitstreiter
gegen den Rationalismus auf dem Gebiete der Kirchenge-
schichte, haben ihre neue Betrachtung der Dinge eingefuhrt,
ohne die kritischen Errungenschaften des 18. Jahrhunderts
preiszugeben. Von Neander lafit sich nicht das Grleiche
August Neander. 213
sagen. Er blieb zeitlebens, wie manche andere Romantiker,
in Bezug auf die wichtigsten kritischen Fragen in einer
unbestimmten Mitte stehen. Mit Recht wollte er die Ge-
schichte nicht durcli die Brille einer philosophischen oder
dogmatischen Schule sehen. Mit Freinmt erklarte er un-
zweidentig immer wieder, der protestantische Theologe
diirfe sich seine Forschung durch irgendwelche Bekenntnis-
formeln so wenig einschranken lassen wie durch Macht-
spriiclie der Philosophic. Allein es gibt fur den Kirchen-
historiker Fragen — und sie sind die entscheidenden — ,
in denen nur ein Entweder — Oder gilt, wo jede Vermit-
telung Unklarheit ist und Unheil schafft. In diesen Fragen
hat Neander niemals eine feste Stellung gewinnen konnen,
Er wollte nicht mit der Kritik gehen, ja nicht einmal so
weit wie Schleiermacher, und er wollte doch andererseits
den Entschiedenen , Hengstenberg und seiner Partei,
keineswegs recht geben. Wo er daher auf die evangelische
Geschichte, auf die Frage des Wunders und des Suprana-
turalen zu sprechen kommt, da ist es peinlich ihm zu fol*
gen. Er mochte der entschiedenen Fragestellung entrinnen
und kann sie doch nicht vermeiden. Er mochte das Herz
sprechen lassen und fiihlt doch sehr wohl, dafl hier der
kritische Verstand das Wort hat. Er kapituliert mit Beiden
und macht es Keinem recht. Am starksten tritt dieses
Schwanken in seinem Werke uber das Leben Jesu hervor,
Man erfahrt hier vielfach nur, wie Neander sich die Dinge-
zurecht gelegt hat. Und was die Folge jeder Schwache ist,-
die gereizte Stimmung, das stellte sich auch bei ihrn ein.
,,Die Vermittler sind nicht immer die Qerechten", hat er
selbst einmal gesagt. Er wurde in steigendem Mafie er-
bittert und ungerecht gegen Hegel und seine Schule. Hierj
verliefi den sonst so liebevollen Mann die Liebe und den
sonst so geiibten Historiker die Fahigkeit, das Berechtigte
und Gute auch in fremder Erscheinung herauszunnden.
Sein Blick in die durch die Hegelsche Philosophie be-
214 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
herrschte G-egenwart wurde triibe, und da er auch im 18.
Jahrlmndert mehr Schatten als Licht erblickte, so erschie-
nen ihm die wenigen Jahre um 1813 wie ein fliichtiger
Sonnenblick zwisclien Nebelziigen. Er schaute dann wohl
aus auf ein Wunder, auf eine neue Gottestat, die erne
bessere, hohere Entwicklung der Kirclie schaffen werde.
Allein man darf hier nicht vergessen, dafl Neander in der
Hegelschen Auffassung des Christentums die vollige Ver-
kehrung desselben erkannte. Und er hatte nicht so Unrecht.
Indem das Christentum hier lediglich als Glied des ge-
schichtlichen Prozesses betrachtet wurde, ging, nm von
anderem zu schweigen, 'die Eigenart und spezifisehe Be-
deutung der Person Christi verloren. Unzweifelhaft ver-
teidigte also Neander als Christ nnd als Historiker gegen
Hegel, StrauB und Baur ein hochst wertvolles Grut. Selbst
Vatke hat von der ,,heiligen Harte" Neanders gesprochen,
und in der Tat erinnert seine erbitterte Polemik gegen die
Hegelianer an die Polemik des h. Bernhard gegen Abalard.
Aber Neander fand fur das, was er wollte, keinen klaren
und iiberzeugungskrafbigen Ausdruck. Er stand zwischen
zwei Feuern, und er hatte dabei selbst das Grefuhl, nicht
geniigend gedeckt zu sein. Die Hegelianer wiesen die
Schwachen seiner Geschichtsschreibung nach, und Heng-
stenbergs Evangelische Kirchenzeitung begann ihn als
Halbglaubigen zu denunzieren. Aber was uns mit dem
Manne hier versohnt, ist die Beobachtung, daft er sich
durch seinen Gregensatz gegen die Linke nie dazu bestim-
men liefi, ein Eingreifen von auBen in den Gang der theo-
logischen Entwicklung gutzuheiJJen. Er kiindigte im
Jahre 1830 seinem Kollegen Hengstenberg die Mitarbei-
terschaft an der Evangelischen Kirchenzeitung, als diese
die Halleschen Professoren G-esenius und Wegscheider
bei dem Ministerium auf Grund von nachgeschriebenen
Kollegienheften angeklagt hatte. ^Geht Gesenius, so gehe
ich auchu, rief er aus. Er warnte, vom Ministerium zu
August Neander. 215
einem Gutachten aufgefordert, davor, StrauB' Leben Jesu
zu verbieten. wHier kann alles nur als willkurlicher Macht-
spruch erscheinen", schreibt er dem Minister, nwenn nicht
die Grande durch Griinde widerlegt werden." Er blieb
zeitlebens unerschutterlich bei dem schonen Bekenntnis:
TjDer Kampf zwischen Irrtum und "Wahrheit in der Theo-
logie liegt fern von dem Bereiche jeder aufierlichen
Macht" . . . ,,Denken wir uns", sagt er, nes ware einem
einseitigen blinden Eifer gelungen, die Scnule eines Origenes
ganz zu unterdriicken , so ware der ganze naturgemafle
Entwicklungsprozefl der christlichen Lehre mit einem
Male gehemmt worden." ,,Leicht", fahrt er fort, ,,ergibt
sich die Anwendung dieses Beispiels auf die geistigen Er-
scheinungen unserer Zeit*)."
Aber noch ein Anderes ist hier zu nennen, was uns
*) Nock seien hier zwei bemerkenswerte Urteile Neanders ange-
fiihrt. Im Jahre 1830 schrieb er: ,,Existiert die theologische Fakultat
als Teil einer Universitat, so folgt auch daraus schon von selbst, daB
die Theologie als Wissenschaft hier derselben Freiheit ihrer Entwick-
lung wie alle anderen Wissenschaften genieCen muC; denn die wissen-
schaftliche Entwicklung laBt sich ja nicht so abgrenzen, dafi sie in
einem Gebiet beschrankt, in alien iibrigen frei sei, da die verschiedenen
Gebiete des Wissens miteinander in Bertihrung kommen, und bei jener
partiellen Beschrankung ein Widerstreit im Innern der so beschrankten
Wissenschaft entstehen muBte, der, wenn er nicht durch die Wissen-
schaft selbst geschlichtet wird, fiir die Aufrichtigkeit der Uberzeugung
nicht anders als die gefahrlichsten Folgen haben kOnnte. So wiirde
der Gegensatz einer theologischen und philosophischen Wahrheit sich
bilden, welcher im Mittelalter und in den Zeiten nachst vor der Refor
mation die Larve eines im Yerborgenen schleichenden Unglaubens wurde
. . . . Es bliebe also in diesem Falle nichts anderes iibrig, als daB die
theologische Fakultat aufhorte, ein integrierender Teil der Universitaten
zu sein, und daB geistliche Seminarien gestiftet wiirden, um die Theo
logie nach einer unabanderlichen , auBerlich gegebenen Lehrnorm vor-
zutragen, und auch alle anderen von der Theologie unzertrennlichen
wissenschaftlichen Elemente in so bestimmter Zusammensetzung mitzu-
teilen, dafi sie nichts mit jener Lehrnorm Streitendes enthalten oder
anregen konnten. Aber gesetzt, auch dies liefie sich auf einmal reali-
21(5 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
den Mann bewunderungswiirdig macht. Das ist die Klar-
heit, mit der er die Schranke seiner Natur und Bildung
erkannt, und die Offenheit, mit der er sie bezeichnet hat.
Er schreibt in der Vorrede zum ^Leben Jesuu, er werde es
keiner Partei recht machen, auch den Mannern der Evan-
gelischen Kirchenzeitnng nicht; denn er erkenne das Recht
der Kritik an, nnd er habe keinen starken Grlauben gegen-
iiber den "Wundererzahlungen. wlch bin von Anfang an
in meiner religiosen Entwicklung zu sehr durch den Bil-
dnngsgang dieser Zeit affiziert worden." Eine Eigenart,
die so klar iiber sich selbst sieht, ist in sich auch berech-
sieren, wiirden niclit die aus solchen Seminarien hervorgehenden Theo-
logen doch nachher von den vorhandenen Elementen der wissenschaft-
lichen Geistesbildung feindlich beriihrt werden, und miifite ihnen niclit
der unerwartete Kampf, zu dem sie niclit gertistet waren, desto gefahr-
licher werden? Und wie kttnnten sie durch die Macht des Evangeliums
auf ihre Zeit recht einwirken, wenn sie nicht das geistige Leben der-
selben nach seinen mannigfachen Elementen aus eigener Anschauung
und Erfahrung kennen gelernt hatten?" Und gegen Hengstenberg im
Februar 1836: ,,Da ich soeben das Vorwort zur Evang. Kirchenzeitung
vom Monat Januar gelesen habe und daraus ersehe, wie hier von dem
Standpunkt einer alleinseligmachenden Dogmatik alien verschiedenen
eigentiimlichen theologischen Eichtungen Mafi und Ziel gesetzt werden
soil, so fiihle ich mich gedrungen, festhaltend an dem einen Grunde,
der Christus ist, vor dem sich beugen muB jedes Knie, aufs neue in
dem Geiste der Liebe und der Freiheit, der von Ihrn kommt, zu pro-
testieren gegen jedes Papsttum, welcher Art es sein moge, das die
Geister, die Gott geschaffen hat in unendlicher Mannigfaltigkeit zu
seiner Verherrlichung und deren Leitung Er sich vorbehalt, am Gangel-
bande fiihren zu kcmnen meint, und gegen jedes von solchem Papsttum
zurecht gemachte Prokrustesbett. Leicht ist es, konsequent zu sein,
wenn man schnell abschlieCt und fertig ist, schwer, wenn man das Ge-
wissen der Wahrheit immer offen halt nach alien Seiten und im sauren
Kampf e mit sich selbst sich gedrungen fiib.lt, immer mehr inne zu
werden, dafi all unser Wissen Stiickwerk ist und bleibt. Wir ko°nnen
nicht umhin, zu warnen vor jener Konsequenz in der Beschranktheit,
welche so leicht mit anmaCendem Absprechen oder Geistestragheit
sich paart." [Neander meint im letzten Satze nicht Hengstenberg selbst,
sondern einen groBen Teil der Anhanger desselben.]
August Neander. 217
tigt; ja die Kraft ihrer Wirksamkeit hangt wahrscheinlich
auch von dieser Mischung des Gregensatzlichen ab. Wir
konnen die Parteien von rechts und links verstehen, die,
als der Kampf der Prinzipien sich verscharfte, iiber Nean
der hinwegschritten ; aber wir mussen auch den Mann ver
stehen, der, seiner Anlage und Bildung gemafi, sich zu
entschiedener Stellungnahme nicht drangen lieB. Als Schii-
ler der Romantiker wollte er das Hochste, was er besafi,
gleichsam gestaltlos besitzen: ,.pectus est quod theologum
facit." Als Christ suchte er nach einem Ausdruck fiir
das lebendige Christentum , der von den Erwagungen des
Verstandes unberuhrt bliebe. Er vermochte nicht, ihn zu
gewinnen, weil er in sein Christentum Uberlieferungen
hineinzog, die sich gegen die Kritik nicht absperren lassen.
Aber was ihm vorschwebte, war doch ein Bichtiges.
Sein Einflufi auf die Folgezeit ist ein doppelter ge-
wesen. Einerseits hat er, wie ich es zu schildern versucht
habe, das kirchenhistorische Studium neu belebt, Seelen fiir
das Evangelium gewonnen und in seiner Person ein hohes
Vorbild der Frommigkeit und des FleiJBes gegeben. An-
dererseits ist die Innuenz seiner Eigenart auf seine Schiller
und auf den Grang der Entwicklung der kirchlichen Dinge
nicht durchweg giinstig gewesen. Die Entstehung eines
Virtuosentums , hinter dem sich Dilettantismus und Un-
sicherheit verbargen, hat er nicht kraftig genug abgewehrt*).
*) Neander hat die Notwendigkeit und den Wert kirchlicher Ge-
staltungen verkannt, aber auch niemals darnach getrachtet, direkten
Einflufl auf die Entwicklung der kirchlichen Dinge zu gewinnen. Bei
seinen Schiilern wurde das z. T. anders; sie wollten, resp. sie mufiten
Stellung nehmen zu den neuen Fragen der Gestaltung der Kirche. Aber
durch die Pektoraltheologie ungeniigend fiir dieselben vorbereitet, haben
sie vielfach gefahrliche und unsichere Wege eingeschlagen , sieh ledig-
lich auf ihr eigenes christliches und kirchliches Gefiihl verlassend. Man
sieht leicht, daC Neander hieran keine Schuld tragt — er stellte iiberall
die h<3chsten wissenschaftlichen Anforderungen — ; aber er ist doch
durch seine Eigenart als Kirchenhistoriker mit daran schuld gewesen.
218 Erster Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
Dem Aufkommen einer Bichtung, welclie die Probleme
verschleierte und den Gregensatzen die Spitze abbrach, hat
er wider seinen Willen Yorscliub geleistet. "Was bei ihm
individuell berechtigt war, war es bei vielen seiner Schiller
nicht mehr. Eine grofie Anzahl mag das selbst gefuhlt
haben. Sie zog sich in den sicheren Hafen zuriick, als in
den fiinfziger Jahren das eintrat, was wir alle kennen.
Man kann diesen Ruckzug wohl verstehen; denn der Sub-
jektivismus, dem Neander das Wort redete, ist in der G-e-
staltung des Kirchenwesens nicht unbedenklich. Wenn der
strenge Symbolzwang nicht mehr aufrechtzuerhalten ist,
so ist es vielleicht noch gefahrlicher, ein enges Bekenntnis
schwachlich und unsicher zu handhaben; denn unter solchen
Umstanden ist die Kirche der theologischen Willkiir irgend
eines einflufireichen Mannes von links oder rechts preisge-
geben, der es versteht, zeitweilig die Herrschaft zu ge-
winnen und seine Theologie gleichsam zum Symbol zu er-
heben. Diese Grefahr aber drohte bei der Haltung, die
Neander eingenommen und vielen seiner Schiller iiberliefert
hat. Allein so lange wir kein festes und weites Bekennt
nis besitzen, das streng gehandhabt werden kann — der
Versuch von Nitzsch und anderen, ein solches auf der
Generalsynode 1846 zu schaffen, ist bekanntlich gescheitert,
— so lange miissen wir den Q-efahren mit Greduld und
Weisheit zu begegnen suchen, die mit dem gegenwartigen
Zustande verkniipft sind. Wie aber auch die Dinge sich
weiter gestalten mogen — jede kirchliche Partei und jede
Richtung der protestantischen Theologie wird das Andenken
des Mannes in hohen Ehren halten, den wir heute feiern,
well er keiner Partei dienen wollte, sondern der Kirche
Jesu Christi.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND • ZWEITE ABTEILUNG <&2
AUFSATZE: I
DAS APOSTOLISCHE GLAUBENSBEKENNTNIS
EIN GESCHICHTLICHER BERICHT NEBST EINER
EINLE1TUNG TJND EINEM NACHWORT
Dem Aufsatz iiber das apostolisclie G-laubensbekenntnis
stelle ich den Artikel aus der Zeitschriffc ,,Die Christliche
Welt", 1892, No. 32 v. 18. August voran, der mir heftige
Angriffe zuzog und mich notigte, in einer kurzen Dar-
stellung einen geschichtlichen Bericht iiber die Entstehung
des Grlaubensbekenntnisses zu geben. Dieser erschien
wenige Wochen spater bei A. Haack (Berlin N"W, Doro-
theenstraBe 55). Er ist hier mit unbedeutenden Verande-
rungen nach der 26. Auflage (1892) abgedruckt. Alle
Auflagen trugen den Vermerk, den ich auch jetzt wieder-
hole : Auf Mitteilung zahlreicher Belege zu den nackfolgen-
den Ausfukrungen habe ich verzichten miissen. Die Vor-
fuhrung des gesamten Materials wiirde viele Bogen er-
fordert haben.
Seit dem J. 1892 ist, namentlich durch Kattenbusch,
die Untersuchung des apostolischen Symbols sehr gefordert
worden, vgl. meinen Artikel 7,Apost. Symbol" in der 3. AufL
der Protest. Real-Encyklopadie.
In Saclien des Apostolikums.
Vor einigen Woclien kam zu Professor Harnack in Berlin eine
Abordnung Studierender mit der Frage, ob er ihnen raten konne, mit
andern preuflischen Studenten der Theologie in Anlafi des Falls Schrempf
eine Petition an den Evangelischen Oberkirehenrat zu richten urn Ent-
fenmng des sogenannten Apostolikums aus der Verpflichtungsformel
der Q-eistliclien und aus dem gottesdienstlichen Gebrauch. Professor
Harnack hat hierauf in seinem Kolleg iiber neueste Kirchengeschichte
geantwortet und den Inhalt dieser Antwort in folgenden Satzen den
Fragestellern zugehen lassen. [Anrnerkung des Herausgebers, D. Bade.]
Antwort auf die Frage, ob dem Unterzeichneten
eine Eingabe an den Evangelischen Oberkirchenrat
um Abs chaff ung des Apostolikums seitens der Theo-
logie-Studierenden ratsam erscheint.
1. Ich teile mit den Fragestellern die Ansicht, dafl es
der evangelischen Kirche ziemen wiirde, an die Stelle des
Apostolikums oder neben dasselbe ein kurzes Bekenntnis zu
setzen, das das in der Reformation und in der ihr folgenden
Zeit gewonnene Verstandnis des Evangeliums deutlicher und
sicherer ausdriickte und zugleich die Anstofle beseitigte, die
jenes Symbol in seinem Wortlaut vielen ernsten und auf-
richtigen Christen, Laien und Greistlichen, bietet.
2. Ich halte mit den Fragestellern den Fall Schrempf
fur einen gegebnen, ja gebotnen Anlafi, die Frage nach
der Geltung und dem Grebrauch des Apostolikums in den
evangelischen Kirchen wieder anzuregen und sich durch
die voraussichtliche Erfolglosigkeit in der Gegenwart von
222 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
solcher Anregung nicht abschrecken zu lassen. Ich bin der
Meinung, dafi die Generalsynoden der evangelischen Kirchen
keine ernstere und brennendere Aufgabe haben als die, die
Bekenntnisfrage freimiitig zu erwagen.
3. Bei solchen Bemiihungen ist aber nicht die Parole
auszugeben: ,,Das Apostolikum soil abgeschafft werden";
denn eine solche Parole wiirde zur Waffe in der Hand der
Gregner des Christentums werden, wiirde dem hohen reli-
giosen Werte und dem ehrwiirdigen Alter des Apostoli-
kums gegeniiber eine Ungerechtigkeit sein, wiirde ferner
eine Vergewaltigung der evangelischen Christen bedeuten,
die ihren G-lauben voll nnd ohne Anstofi im Apostoliknm
ansgedrtickt finden, und wiirde endlich der Art nicht ent-
sprechen, in der sich die Kirchen der Reformation zu den
Grlaubenszeugnissen der Vergangenheit gestellt haben und
so lange stellen miissen, bis sie die Kraft zu einer neuen
reformatorischen Tat oder eine neue reformatorische Per-
sonlichkeit erhalten.
4. Daher kann zur Zeit jegliche Bemiihung nur darauf
ausgehen, entweder das Apostolikum aus dem liturgischen
Grebrauch zu entfernen, oder doch den Gremeinden die Mog-
lichkeit zu gewahren, es nicht zu brauchen, oder es durch
eine andre evangelische G-laubensformel zu ersetzen.
5. Diese Bemiihungen werden aber nur dann eine ge-
wisse Aussicht auf Erfolg erlangen, wenn man das kurze
G-laubensbekenntnis, das man an Stelle des oder neben dem
Apostolikum wiinscht, wirklich zu formulieren und zu pro-
duzieren vermag, und wenn es an Grestalt und Ejraft dem
alten iiberlegen ist. In den Kirchen darf man — in noch
hoherm MaBe als im Staatsleben — nur negieren, indem
man baut. Jede andre Tatigkeit ist von Ubel; blofie
Wiinsche aber nach einem neuen Bekenntnis tun es nicht,
so wohl gemeint und so ernst gefafit sie auch sein mogen.
6. Die Anerkennung des Apostolikums in seiner wort-
lichen Fassung ist nicht die Probe christlicher und theolo-
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 223
gischer Reife; im Gegenteil wird ein gereifter, an dem Ver-
standnis des Evangeliums und an der Kirchengeschichte
gebildeter Christ AnstoJJ an mehreren Satzen des Apostoli-
kums nehmen miissen. Allein umgekehrt darf man auch
von dem gereiften und gebildeten Theologen erwarten, dafi
er soviel geschichtlichen Sinn besitzt, um sich von dem
hohen "Wert und dem groflen "Wahrheitsgehalte des Apostoli-
kums zu iiberzeugen und eine positive Stellung zu seinem
Grand gedanken zu gewinnen, die es ihm ermoglicht, ein
altes Zeugnis seines eignen Glaubens in dem Apostolikum
zu erkennen.
7. Auf alle einzelnen Satze des Symbols in ihrer wort-
lichen Fassung lafit sich diese positive Stellung allerdings
nicht ausdehnen. Aber hier darf die dreifache Erwagung
eintreten, dafi a) die evangelische Kirche selbst nicht bei
alien Satzen des Symbols die urspriingliche wortliche Fas-
sung aufrecht erhalt (,,Gemeinschaffc der Heiligen"); b) dafi
ein Satz der Lehre des Paulus widerspricht (,,Auferstehung
des Fleisches") und daher auch nach den Grundsatzen der
evangelischen Kirche in seiner wortlichen Fassung nicht
aufrecht erhalten werden darf; und dafi c) alle Einzeltat-
sachen, zu denen der Christ sich bekennt, nicht als nackte
Tatsachen, sondern um der unsichtbaren Beziehungen und
Werte willen, die der Glaube an ihnen wahrnimmt, Satze
des Glaubensbekenntnisses sind.
8. Diese Erwagungen reichen gegeniiber einem Satze
des Apostolikums allerdings noch nicht aus (,,Empfangen
vom heiligen Geist, geboren aus der Jungfrau Maria"),
denn hier wird als Tatsache etwas behauptet, was vielen
glaubigen Christen unglaublich ist, und was eine in der
Kontinuitat der sonstigen kirchlichen Umdeutungen lie-
gende Umdeutung deshalb nicht zulaflt, weil man es in sein
Gegenteil umdeuten miiJBte. Hier liegt also ein wirklicher
Notstand vor fiir jeden aufrichtigen Christen, der dies Sym
bol als Ausdruck seines Glaubens brauchen soil und sich
224 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
doch nicht von der "Wahrheit jenes Satzes iiberzeugen kann.
Als die einfachste Losung erscheint die, dafi solche, die
jenen Satz nicht anerkennen, nicht Geistliche werden und
bleiben, und dafl auch die Laien, die in derselben Lage
sind, sich von der Kirche, die jenes Symbol aufrecht er-
halt, zuriickziehen sollen. In der Tat kann man denen, die
sich. in ihrem Gewissen gezwungen sehen, so zu handeln,
nur ernstlich zureden, nicht wider ihr Gewissen zn tun, denn
wider das Grewissen zu handeln ist der hochste Schrecken.
Allein es steht nicht so, dafi die Gewissenhaffcigkeit solcher
Manner allgemeines Gesetz werden miifite. Wenn um eines
einzelnen Satzes willen, der mindestens nicht im Zentrum
des Christentums steht, die Fahigkeit, die Gemeinde, in die
man hineingeboren ist, zu erbauen und an ihrem innern
Leben teilzunehmen, aufgehoben sein sollte, so konnte eine
religiose Gemeinde iiberhaupt nicht bestehen. Denn wie
ware es moglich, Institutionen der Lehre und des Kultus
zu schaffen, die in jedem Stuck die Uberzeugung aller
wiedergeben und niemandem zum Anstofi gereichen, und
wie ist es denkbar, dafi diese Institutionen sofort jeder —
sei es auch erprobten — "Wandlung des christlichen Ver-
standnisses folgen? Es ist also nicht Gewissenlosigkeit,
sondern eine haltbare und sittlich zu rechtfertigende Po
sition, die der einnimmt, der in der Kirche, sei es auch
als Lehrer, bleibt, der an jenem Stuck und an ahnlichen
Anstofi nimmt.
Aber dieses Bleiben ist freilich nur dann sittlich ge-
rechtf ertigt , wenn der betreffende Theologe a) mit dem
Grundgedanken seiner Kirche ubereinstimmt; b) dort wo er
auf das Verstandnis — sei es auch das gegnerische — rech-
nenkann, von seiner abweichenden Meinung keinHehl macht;
und c) in den Grenzen, die ihm durch seinen Beruf ge-
geben sind, fur die Abschaffung des Notstandes wirkt. In
einem solchen befindet er sich wirklich; darum — wie er
einerseits nicht verpflichtet ist, seine Kraft seiner Kirche,
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 225
die keine Gesetzeskirche 1st, deshalb zu entziehen, so 1st er
andrerseits verpflichtet, an seinem Teil an der Hebung des
Notstandes zu arbeiten. Nur so bewahrt er sich ein gutes
Gewissen. Die Art der Arbeit wird aber je nach Beruf
und Fahigkeit eine verschiedne sein. Das Recht und die
ungemeine Kraft, die eine offentliche Agitation verlangt,
werden wohl die wenigsten, wenn sie sich priifen, in sich
finden. Auch haben laute Agitationen oft den entgegen-
gesetzten Erfolg.
9. Die Frage, ob zukiinftige Geistliche, die zur Zeit
noch Stndenten der Theologie sind, in Hinblick auf ihre
Zukunft berechtigt sind, in eine Bewegung fur Abschaffung
des Apostolikums einzutreten, vermag ich nur zu verneinen
und zwar aus folgenden Griinden:
a) weil die Parole ,,Abschaffung des Apostolikums"
uberhaupt eine falsche ist (s. oben);
b) weil, auch wenn man die Aufgabe in den Grenzen
halt, die oben gezeichnet sind, m. E. Studierende in solcheii
Fragen, wie die vorliegende ist, uberhaupt nicht offentlieh
ein Urteil abgeben sollen;
c) weil die Behandlung dieser besondern Frage eine
christliche und wissenschaftliche Reife voraussetzt, die die
Studierenden hochstens am Ende ihrer Studienzeit erwerben
konnen, eine Agitation aber unfehlbar auch die jungen und
jiingsten Studierenden miter greif en, so zu einem hochst
bedenklichen und unerfreulichen Schauspiel werden, viele
Gewissen nur verwirren und nicht wenigen sehr bald eine
peinliche Reue eintragen wiirde (siehe auch insbesondere
noch das unter No. 5 bemerkte).
Indem ich die Absicht und den Wunsch, aus denen
die Frage hervorgegangen ist, ehre, vermag ich den Frage-
stellern schliefilich zwei Winke zu geben, durch deren Be-
folgung sie angemessener und sicherer das erreichen wer
den, was sie wiinschen:
Hai-nack, Reden nnd Aufsatze. 2. Aufl. I. 15
226 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Erstlich, fleifiiges Studium der Dogmengeschichte und
Symbolik, damit ein wirkliches Verstandnis, wie fiir den ur-
spriinglichen Sinn der Bekenntnisse, so fiir die Q-eschiclite
der Wandlung ihres Verstandnisses — oft bis zu einem
ganz neuen Sinn - - erworben werde, und damit man sich
aueh in scheinbar oder wirklich fremde Anschanungen zu
finden lerne und ihnen den Wahrheitsgehalt abzugewinnen
verstehe.
Sodann, Festigkeit in den auf der Universitat etwa
gewonnenen, von der sogenannten oder wirklichen Tradi
tion abweichenden religiosen Uberzeugungen, damit bei dem
Eintritt ins Amt nicht in kurzer Zeit das wieder wegge-
spiilt oder rait gebrochenem Grewissen beiseite geschoben
wird, wo von man sich doch einst iiberzeugt hatte. Agita-
tionen tun es nicht, am wenigsten wenn sie von noch niclit
geniigend reifen Personen ausgehen. Wenn aber alle als
Manner im kirchlichen Amt die Ideale treu und fest halten,
die sie als Jiinglinge erworben haben, dann kommt gewifi
eine goldne Zeit fur die Kirche Jesu, und auch die ETot-
stande, die jetzt ertragen werden miissen, werden aufhoren.
Anhang. Der wesentliche Inhalt des Apostolikums
besteht in den Bekenntnissen, dafi in der christlichen Re
ligion die Griiter 7,heilige Kirche", ^Vergebung der Siinden",
,,ewiges Leben" geschenkt sind, dafi der Besitz dieser Griiter
dem Q-lauben an Grott, den allmachtigen Schopfer, an seinen
Sohn Jesus Christus und an den heiligen G-eist zugesagt
1st, und dafi sie durch Jesus Christus unsern Herrn ge-
wonnen sind. Dieser Inhalt ist evangelisch.
I.
Wenn man den Wortlaut des apostolischen Symbols
zuriickverfolgt aus unseren Katechismen und Drucken zu
den altesten Drncken und aus ihnen zu den Handschriften
und zu den Werken der spateren Kirchenvater, so gelangt
man etwa bis um das Jahr 500. Mcht nur lafit sich der
heute bei den Protestanten und Katholiken gebrauchte
Wortlaut nicht welter zuriickverfolgen, sondern es sprechen
auch starke Griinde dafur, daB er vor dem Ende des 5. Jahr-
hunderts so nicht existiert hat. "Wir treffen aber diese
Form des Symbols um diese Zeit in der siidgallischen
Kirche an, und nur in ihr. Daraus folgt: das aposto-
lische Glaubensbekenntnis in seiner heutigen Form ist das
Taufsymbol der siidgallischen Kirche seit der Mitte be-
ziehungsweise seit der zweiten Halfte des 5. Jahrhunderts.
Von Siidgallien zog das Symbol in das Frankenreich ein
und hat sich mit der Ausdehnung dieses Reiches verbreitet.
Durch die Beziehungen der Karolinger zu Rom kam
es in die Welthauptstadt - - wenigstens ist es uns nicht
bekannt, dafi dies fruher geschehen ist, — wurde dort
rezipiert, und nun verbreitete es Rom in alien Land era
des Abendlandes, so dafi man es seit dem 9. oder 10. Jahr-
hundert auch das neuromische Symbol nennen kann: das
nneuromische", weil es, wie sich zeigen wird, auch ein alt-
romisches Symbol gegeben hat.
Das Symbol gibt sich aber mindestens von der an-
gegebenen Zeit ab keineswegs als ein provinzialkirchliches,
vielmehr fordert es die hochste Autoritat, indem es im
strengsten Sinne des Worts ,,apostolischu d. h. von den
Aposteln verfaBt sein will. Diese Vorstellung war damals
15*
228 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
so ausgepragt, dafi jeder der zwolf Apostel einen Satz bei-
gesteuert habe. So oder ahnlich lautete die allgemeine
tfberlieferung: ,,Am zelmten Tage nach der Himmelfahrt,
als die Jiinger aus Furcht vor den Juden yp.rsa.Tn mp.lt
waren, sandte der Herr den versprochenen Troster (den
heiligen Qeist). Sie wurden durch sein Kommen entziindet
wie ein gluhendes Eisen, mit der Kenntnis aller Sprachen
erfullt und verfafiten das Symbol. Petrus sprach: ,,Ich
glaube an G-ott, den allmachtigen Vater, den Schopfer
Himmels und der Erde", Andreas sprach: wUnd an Jesus
Christus, seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn", Jako-
bus sprach: ^Der empfangen 1st vom heiligen Greist, ge-
boren aus Maria der Jungfrau", Johannes sprach: ^Q-elitten
unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben",
Thomas sprach: ^Niedergefahren in die Unterwelt, am
dritten Tage auferstanden von den Toten", Jakobus sprach:
,,Aufgefahren gen Himmel, sitzt zur Rechten Gottes des
allmachtigen Vaters", Philippus sprach: nVon dannen wird
er kommen zu richten die Lebendigen und die Toten",
Bartholomaus sprach: ^Ich glaube an den heiligen Greist",
Matthaus sprach: ^Eine heilige, katholische Kirche, Q-e-
meinschaft der Heiligen", Simon sprach: ,,Siindenver-
gebung", Thaddaus sprach: ,,Auferstehung des Fleisches",
Matthias sprach: ,,Ewiges Leben"."
Diese Auffassung vom Ursprung des Symbols hat
meines Wissens ungebrochen und von niemandem ange-
tastet im ganzen Mittelalter und im gesamten Q-ebiet der
romischen Kirche geherrscht; nur die Griechen erklarten,
dafi sie von einem apostolischen Symbol nichts wuBten.
Man kann sich vorstellen, welche Autoritat ein Bekenntnis
besitzen muCte, das man sich so entstanden dachte! Un-
bedenklich wurde es der heiligen Schriffc gleichgestellt. Es
erschien daher als ein furchtbarer Schlag, der den christ-
lichen Grlauben zu vernichten drohte, als Laurentius
Valla kurz vor der Reformation gegen die IJberlieferung
Das apostolische G-laubensbekenntnis. 229
auftrat und auch Erasmus Zweifel auBerte. In der ganzen
Greschichte des Symbols hat es keinen kritischeren Moment
gegeben. War doch die ganze abendlandische Christenheit,
Q-eistliche und Laien, unteirichtet worden, das Symbol sei
von den Aposteln in der angegebenen Weise verfafit, und
nun sollte sich die Kirche die Jahrhunderte hindurch ge-
irrt haben! "Welche bedenkliche, schwer zu ertragende
Erschiitterung des Q-laubens ! Die Pariser Theologische
Fakultat zensurierte die Zweifel des Erasmus. Sie berief
sich auf die Tradition, die Erasmus nicht zu kennen
scheine: »Haec nescientia impietati deserviens scandalose
proponitur«, rief sie dem Gelehrten zu. Aber auch Pro-
testanten traten zuerst fur die Wahrheit der bedrohten
Uberlieferung ein. Allein bald anderte sich das Urteil in
ihren Reihen, und sie gaben, dem erdruckenden geschicht-
liehen Beweise folgend , mutig die Uberlieferung preis.
Zogernd folgten die Katholiken. Der Catechismus Romanus
halt die Abfassung des Symbols durch die Apostel fest,
jedoch behauptet er nicht mehr sicher, dafi jeder Apostel
einen Satz beigesteuert habe. In den evangelischen Kirchen
gilt das Symbol nicht mehr um seines Ursprungs willen
fur heilig, und doch sind sie nicht zusammengebrochen.
Sie haben diese Erschiitterung uberstanden, wie so manche
andere, aus einer geforderten Erkenntnis der Greschichte
stammende, die sie genotigt hat, sich von der Form auf
die Sache, von der aufieren Autoritat auf den Inhalt, von
dem Buchstaben auf den Q-eist zuriickzuziehen.
II.
Aber wie ist ein provinzialkirchliches, gallisches Symbol
— als ein solches erkannten wir das Apostolikum — zu
der Ehre der Legende gekommen, es sei Satz fur Satz von
den Aposteln verfafit, so dafi es sich, mit dieser Uberliefe
rung ausgestattet, in der ganzen romischen Kirche durch-
gesetzt hat? Diese Tatsache ware schlechthin unerklarlich,
230 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
ware jene Legende nicht frliher schon von einem anderen
bedeutenderen Symbole ausgesagt und spater auf das gal-
lische Bekenntnis iibertragen worden.
In der Zeit zwischen ca. 250 und ca. 460 (und noch
daruber hinaus) hatte die romische Kirche im gottesdienst-
lichen Q-ebrauch ein Symbol, das sie in hochsten Ehren
hielt, zu dem sie keine Zusatze duldete, das sie direkt von
den zwolf Aposteln in der Fassung, in der sie es besafi,
ableitete, von dem sie annahm, Petrus habe es nach Rom
gebracht. Dieses Symbol liegt uns in einer Anzahl von
Texten vor, so dafi wir es mit fast vollkommener Sicherheit
so wiederzugeben vermogen, wie es einst gelautet hat, namlich :
,jlch glaube an Q-ott den Vater, Allmachtigen, und an
Christus Jesus seinen eingeborenen Sohn, unseren Herrn,
der geboren ist aus heiligem G-eist und Maria der Jung-
frau, der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben
ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten, auf-
gefahren in die Himmel, sich setzend zur Recliten des
Vaters, woher er kommt zu richten Lebendige und
Tote, und an heiligen Greist, heilige Kirche, Yergebung
der Siinden, Fleisches Auferstehung. "
Rufinus und Ambrosius (am Ende des 4. Jahrhunderts)
erzahlen uns, dafi dieses Symbol von den Aposteln verfafit
sei, ja man darf daraus, daB es Ambrosius bereits in zwolf
Satze eingeteilt wissen will, vielleicht schliefien, dafi die
Sage, jeder Apostel hatte ein einzelnes GQied als seinen
Beitrag zum Symbol beigesteuert, schon damals bekannt
gewesen ist. Indes Rufinus, der etwas spater geschrieben
hat, kennt sie noch nicht, sondern weiJJ nur von der ge-
meinsamen Abfassung des Symbols durch die Apostel bald
nach Pfingsten, bevor sie sich trennten, um die Weltmission
zu beginnen. Doch kommt auf diesen Punkt, ob jeder
Apostel einen bestimmten Satz beigesteuert habe oder ob
sie in anderer Weise als an der gemeinsamen Abfassung
beteiligt vorgestellt wurden, wenig an. Die gemeinsame Ab-
Das apostolische G-laubensbekenntnis. 231
fassung durch die Apostel stand fest, und zwar wauf Grund
einer alten Tradition", wie Rufinus sagt. Jedenfalls schon
im Anfang des 4. Jahrhunderts , wahrscheinlich bereits im
dritten, war der CHaube an sie in Rom herrschend. Die
Folge war, dafl man mit angstlicher Sorgfalt iiber jedem
Worte des Symbols wachte. „ Wenn schon den Schriften eines
Apostels", schreibt Ambrosius, wnichts entzogen und nichts
hinzugefiigt werden darf , so diirfen wir dem Symbol, das
wir als von den Aposteln iiberliefert und verfafit empfangen
haben, nichts entziehen und nichts hinzufugen. Das aber
ist das Symbol, welches die romische Kirche besitzt, wo der
erste der Apostel, Petrus, gesessen hat und wohin er ,,die
allgemeine Formel" (communem sententiam) gebracht hat.u
Allein diese Vorstellung der romischen Kirche von
ihrem Taufbekenntnis kann nicht so alt sein wie das Tauf-
bekenntnis selbst. Es geht das schlagend aus der Tat-
sache hervor, daB die anderen abendlandischen Kirchen
(vom Ende des 2. Jahrhunderts bis zum 9. u. langer) Tauf-
bekenntnisse besessen haben, die sich zwar samtlich als
Tochter des alten romischen erweisen, aber von demselben
durch mehr oder weniger zahlreiche Zusatze unterscheiden.
Wir kennen jetzt eine sehr grofie Anzahl von alten Tauf-
bekenntnissen des Abendlandes, z. B. karthaginiensisch-
afrikanische , ravennatische , mailandische , aquilejensische,
sardinische, spanische, gallische, irische usw. Sie alle er
weisen sich ohne Ausnahme als aus dem alten romischen
Symbol geflossen; aber kaum ein einziges gibt dieses
Symbol wortlich genau wieder, sondern sie gestatten sich
Modifikationen, Umstellungen und oft sehr belangreiche
Zusatze (Weglassungen sind wenigstens nicht mit voller
Sicherheit zu konstatieren). Diese Freiheiten waren un-
denkbar, wenn jene Kirchen, als sie das Symbol von Rom
empfingen, bereits die Legende mitempfangen hatten, dafi
das Symbol wortlich von den Aposteln verfafit und dafi
deshalb sein Wortlaut heilig sei. Wie hatte z. B. die
232 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
afrikanische Kirclie den 3. Artikel so fassen konnen: » Credo
remissionem peccatorum, resurrectionem carnis et vitam
aeternam per sanctam ecclesiam« (,,Ich glaube Siindenver-
gebung, Fleischesauferstehung und ewiges Leben durch
die heilige Kirclie"), wenn ihr em anderer Wortlaut als
apostolisch zugegangen ware? Wie liefien sich die zahl-
reichen Zusatze erklaren, wenn jene Kirchen das Symbol
so betrachtet hatten wie Ambrosius, d. h. als apostolisch
und daher in seinem Wortgefiige unverletzlich?
Die Vorstellung vom strikt apostolischen Ursprung des
Tanfbekenntnisses ist somit eine Neuerung in Rom ge-
wesen, die nach der Zeit fallt, da von Rom aus das Evan-
gelium und mit ihm auch das Symbol in die Provinzen
getragen worden ist. Das lehren uns die provinzialkirch-
lichen Tanfbekenntnisse. Sie lehren uns aber ferner, dafi
in alien Provinzen der Kirclie des Abendlandes eine ge-
wisse Freiheit der Symbolbildung Jahrhunderte hindurch
generrscht hat. Das romische Bekenntnis war iiberall die
Q-rundlage. Aber auf dieser Grundlage bauten die ein-
zelnen Kirchen ihre Taufbekenntnisse nach ihren Bedurf-
nissen selbstandig und frei aus. So finden wir z. B. in
der Kirche zu Aquileja gleich im ersten Artikel als Zusatz
zu wG-ott den allmachtigen Vater" die Worte ,,den unsicht-
baren und leidensunfahigen" usw. Wir lernen hier die
Bedeutung Roms fur die Kirche des Abendlandes aufs
neue ermessen. Das Symbol der Stadt Rom beherrscht die
gesamte Symbolbildung. Aber noch waltete auOerhalb
Roms kein angstlicher Zwang des Buchstabens. "Wahrend
die romische Kirche in ihren Grenzen den Wortlaut ihres
Taufbekenntnisses skrupulos bewahrte und zur Sicher-
stellung desselben die Legende von dem apostolischen Ur
sprung des Symbols erzeugte, liefi sie es geschehen, daB
in den Provinzialkirchen iiberall geandert wurde. Wie sie
das ertragen hat, wissen wir nicht. Aber das wissen wir,
dafi zuerst Rom aus einem Q-laubenszeugnis der Kirche ein
Das apostolische G-laubensbekenntnis. 233
strenges Qesetz geinacht und die gefalschte Legende vom
apostolischen Ursprung aufgebracht hat.
Aber nocli etwas anderes lernen wir durch eine Ver-
gleichung der provmzialkirchlichen Symbole mit dem alten
romischen. Man kann auf direktem "Wege das Alter dieses
Symbols hochstens bis in die zweite Halfbe des 3. Jahr-
hunderts zurdckfuhren. Aber die Tatsache, dafl sich alle
abendlandischen Provinzialsymbole als Abwandelungen des
romischen erweisen, verlangt, daft wir noch urn ein Jahr-
hundert hinaufsteigen. Hatte die afrikanische Kirche be-
reits zur Zeit Tertullian's (urn d. J. 200) ein festes Tauf-
bekenntnis und war dasselbe, wie nicht zweifelhafb, eine
Tochterrezension des romischen, so mufl dieses selbst be-
reits um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden sein.
Dieses Ergebnis, welches durch die auBeren Zeugnisse ge-
wonnen ist, wird aber bestatigt durch eine genaue Unter-
suchung des Inhalts des altromischen Symbols. Diese
Untersuchung macht es iiberaus wahrscheinlich, dafi das
Symbol um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden ist,
wie sie es andererseits widerrat, betrachtlich hoher mit der
Abfassungszeit hinaufzugehen. Man darf es als ein ge-
sichertes Ergebnis der Forschung bezeichnen: das alte
romische Symbol, dessen Wortlaut wir oben mitgeteilt
haben, ist um die Mitte des 2. Jahrhunderts entstanden.
Es ist in Rom selbst abgefafit worden (wenn es aus der
orient alischen Kirche nach Rom gebracht worden ware.
miiCten sich sicherere Spuren desselben im Orient finden,
als wir kennen; es ist nicht einmal das gewifi, dafi
es ein ahnliches oder iiberhaupt ein ausgefuhrtes und
fixiertes Taufbekenntnis im 2. Jahrhundert im Orient ge-
geben hat; doch waren die orientalischen Grlaubensregeln
besonders die christologischen dem romischen Symbol sehr
verwandt) und hat dort zunachst nicht als 7,apostolischu
im strengen Sinn gegolten. Die Legende des apostolischen
Ursprungs ist vielmehr erst in der Folgezeit, etwa zwischen
234 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
den Jahren 250 und 330, in Rom aufgekommen, nachdem
sich das Symbol schon in die abendlandischen Provinzen
verbreitet hatte. Erwachsen ist sie aus der alteren An-
nahme, dafi die kirchliche Lehrtradition uberhaupt und
die Grrundeinrichtungen der Kirche auf die Apostel zuruck-
gehen. Doch dachte man sich. urspriinglich diese TJber-
lieferung als eine freiere. Ob nicht aber schon Irenaus
ein engeres Verhaltnis zwischen den Aposteln und dem
Taufbekenntnis angenommen hat, ist noch zu untersuchen.
ni.
Die Verbindung dessen, was wir im ersten Abschnitt
dargelegt haben, mit dem im zweiten Ausgefiihrten ist nun
moglich. Das ,,apostolische Grlaubensbekenntnis", welches
wir jetzt brauchen und welches wir als das siidgallische
Symbol der 2. Halfte des 5. Jahrh. erkannt haben, ist eine
der Tochterrezensionen des alten romischen. Es unter-
scheidet sich von ihm — von kleineren stilistischen Diffe-
renzen abgesehen — durch folgende wichtigere Zusatze
bez. Erweiterungen: 1. Schopfer Himmels und der Erde.
2. Empfangen vom heiligen Greist, geboren aus der Jung-
frau Maria (fur: „ geboren aus heiligem Greist und Maria
der Jungfrau"). 3. Qelitten. 4. G-estorben. 5. Niederge-
fahren in die Unterwelt. 6. Katholisch (als Zusatz zu
,,heilige Kirche"). 7. G^emeinschaft der Heiligen. 8. Ewiges
Leben. Von alien diesen Zusatzen, die wir unten naher
betrachten werden, bis auf einen (Communio sanctorum)
gilt, dafi sie sich in anderen Taufsymbolen und in der
kirchlichen Uberlieferung — das eine Stuck hier, das an-
dere dort — bereits lange vor dem Jahre 500 finden, nur
nicht in dieser Zusammenstellung. Aber die Frage ist
noch nicht beantwortet, wie es geschehen konnte, dafi die
romische Kirche ihr altes Symbol, das sie nachweisbar bis
ins 5. Jahrhundert und daruber hinaus uber alles hoch-
schatzte und an dem sie nicht die geringste Veranderung
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 235
zuliefi, im 8. oder 9. (10?) Jakrhundert doch preisgegeben
und mit dem Toclitersymbol , dem gallischen, vertauscht
hat? Das Dunkel, das iiber dieser Vertauschung liegt, ist
noch nicht vollig gelichtet, aber doch wesentlich erhellt.
Seit dem letzten Drittel des 5. Jahrhunderts zogen ariani-
sche Christen in Scharen in B/om ein, und bald wurden
sie die Beherrscher Italiens und seiner Stadt. Im Gegen-
satz zu diesen arianischen Christen, den Ostgoten, wird
sich die romische Kirche entschlossen haben, ihr uraltes
Symbol bei der Taufe aufzugeben und dafur das nicanisclie
(konstantinopolitanische) Symbol zu brauchen, um schon
bei dieser heiligen Handlung ihre abweisende Stellung ge-
geniiber dem Arianismus zum Ausdruck zu bringen. Das
altromische Symbol ist namlich, wie man sich leicht iiber-
zeugen kann, dem Q-egensatz zwischen Orthodoxie und
Arianismus gegeniiber neutral. Auch ein Arianer kann es
bekennen; denn er leugnet nicht, dafi Christus der einge-
borene Sohn G-ottes ist, sondern behauptet es und ebenso
alle Tatsachen, die im Symbol zusammengestellt sind. Um
also die orthodoxe nicanische Lehre bei der Taufe zu be
kennen und sich auf diese Weise bestimmt gegen die aria
nischen Ostgoten (spater gegen die gleichfalls arianischen
Langobarden) abzugrenzen, hat die romische Kirche seit
dem Ausgang des 5. Jahrhunderts ihr altes Symbol im
liturgischen Gebrauch allmahlich fallen gelassen. Indessen
ist es moglich, dafi der Gregensatz gegen den Arianismus
bei dieser Vertauschung keine Holle gespielt hat, sondern
Eom im 6. Jahrhundert zum Symbol von Konstantinopel
iibergegangen ist (resp. erst am Ende des 6. Jahrh.), weil
es in dieser Zeit iiberhaupt in starke Abhangigkeit von
dem byzantinischen Reiche geriet. Ob die Vertauschung
Kampfe gekostet und wie sie sich vollzogen hat, wissen
wir nicht'; nur die Tatsache selbst ist uns bekannt. Aber
nachdem das alte romische Symbol einmal aus dem litur
gischen Q-ebrauch entfernt war, scheint es in Rom selbst
236 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
allmahlich in Vergessenheit geraten zu sein. Etwa zwei
bis drei Jahrhunderte hindurch gebrauchte Rom bei der
Taufe das Symbol von Konstantinopel. Das ist eine lange
Zeit, nnd sie geniigt, um es zu erklaren, dafi das Symbol
mehr und mehr aus dem Gedachtnis entschwand; denn da-
mals behanptete sich im kirchlichen Leben nur, was in
dem Gottesdienste gebraucht wurde. Die liturgischen
Handschriften waren die Trager der gottesdienstlichen
und kirchlichen Tradition. Immerhin aber bleibt es eine
sehr bemerkenswerte Tatsache, dafi selbst eine so exor-
bitante Legende, wie die von dem Ursprung des Symbols,
es auf die Dauer nicht zu schiitzen und vor dem Unter-
gang zu bewahren vermocht hat. Nur in verborgenen
Winkeln der Uberlieferung ist das alte romische Symbol
im 17. Jahrhundert und in unserer Zeit wieder aufge-
funden worden; in der grofien Tradition der Kirche ist es
fast spurlos verschwunden, vor allem in Rom selbst.
Mit der zweiten Halfte des 8. Janrhunderts anderten
sich. in Rom die Verhaltnisse. Das Band mit Konstanti
nopel war gelockert, ja fast zerrissen. Der Arianismus war
im Aussterben. Eine Q-efahr von dieser Seite her war
nicht mehr zu befurchten, der G-ebrauch eines gegen die
Arianer gerichteten Symbols daher nicht mehr gefordert.
Dagegen war Rom und seine Kirche in sehr enge Bezieh-
ungen zu den Franken getreten. Sie waren schon seit
Jahrhunderten katholisch und wurden unter Karl dem Q-ro-
fien die Herren von Rom. Der Papst und seine Kirche
gerieten in voile Abhangigkeit von dem groUen franki-
schen Konige. Damals oder etwas spater mufi die zweite
Vertauschung in der romischen Kirche stattgefunden ha-
ben. Sie liefi das konstantinopolitanische Symbol bei der
Taufe fallen und kehrte zu einem kiirzeren Taufbekennt-
nis zuriick. Aber nicht zu ihrem alten — dieses war ihr
entschwunden — sondern zu dem gallischen, welches nun
das frankische geworden war. Sie rezipierte dieses Sym-
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 237
bol. Nun aber geschah das Paradoxeste: sie iibertrug
jetzt die Legende von dem strikten apostolischen Ursprung
des Taufbekenntnisses , die sich doch auf das altromische
Symbol bezogen hatte und bei Ambrosius, Rufin u. a. zu
lesen stand, ohne "Weiteres auf das Toclitersymbol, von dem
sie nie gegolten hatte und welches auch eine neue Ver-
teilung der Artikel auf je einen der zwolf Apostel erheischte,
weil es mehr Grlieder zahlte als das altromische.
Welch ein wunderbarer Gang der G-eschichte! Die
romische Kirche tragt ihr altes Symbol nach G-allien.
Dort wird es im Lauf der Zeiten vermehrt. Unterdessen
bildet die romische Kirche die Legende von dem strikt
apostolischen Ursprung ihres unveranderten Symbols aus.
Dann lafit sie es unter dem Druck aufierer Verhaltnisse doch
fallen, und es verschwindet. Unterdessen dringt das Toch-
tersymbol von G-allien ins Frankenreich und erobert sich
dort den entscheidenden Platz. Das Frankenreich wird zum
Weltreich, macht sich zum Herrn von Rom. Rom erhalt
von dorther sein eigenes Symbol, aber in erweiterter Ge-
stalt, zuriick, es nimmt das Greschenk an, verleiht der neuen
Form romische Autoritat und kront die Tochter mit der
Krone der Mutter, indem es die Legende von dem strikt
apostolischen Ursprung auf sie iibertragt. Das Interessan-
teste an diesen geschichtlichen Prozessen ist die Bedeutung
des Frankenreichs fiir die romische Kirche der Karolinger-
zeit. So gewaltig, so schlagend tritt sie vielleicht an kei-
nem anderen Punkte hervor. Das Reich Karls des Gro-
fien hat Rom sein Symbol gegeben. Ja es hat damals Rom
und durch Rom der abendlandischen Christenheit noch ein
zweites Symbol geschenkt, das sog. athanasianische. Zwei
von den sog. okumenischen Symbolen sind gallisch, resp.
frankisch. Aber man darf vielleicht annehmen - - direkt
wissen wir freilich dariiber nichts — , dafi die romische
Kirche Umstande gemacht hatte, das frankische Symbol
als Taufsymbol zu rezipieren, wenn sie es nicht als einen
238 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: 1.
alien Bekannten erkannt katte. Es ist dock wakrsckein-
lich, dafi in Rom noch soviel geschichtliche Uberlieferung
vorhanden war, dafi man durch das frankiscke Bekenntnis
an das eigene alte, einst so kockgeekrte erinnert wurde.
Die Drfferenzen iibersak man oder Melt sie nickt fur erkeb-
lick. So wackte an dem neuen Symbol die Legende, die
das alte umstrahlt katte, wieder auf und wurde wiedemm
und fur lange Zeit eine Macht in der Kirche, bis sie im
Zeitalter der Renaissance und Reformation gestiirzt wurde.
IV.
Man sollte erwarten, dafi der Wortlaut des Symbols
nach der neuen Rezeption mit peinlichster Treue im Mittel-
alter behiitet worden ist. Im allgemeinen ist das auck der
Fall gewesen. Dock feklen Sckwankungen nickt ganz zum
Beweise, dafi eine lebendige Kircke nickt am Buckstaben
kleben kann, wenn sie ein besseres Wort weifi oder dem
Buckstaben einen sickeren Sinn nickt abzugewinnen vermag.
So ist in einigen mittelalterlicken Forrneln das ^nieder-
gefakren in die Unterwelt" weggelassen. Ferner kat das
Nebeneinander der beiden Grlieder wkeilige Kircke" und
7,Gremeinsckaft der G-laubigen" dem Verstandnis Sckwierig-
keiten bereitet. Daker niefien beide in einigen Formeln in
eins zusammen oder das zweite Grlied erkalt Zusatze. Statt
„ Kircke" nndet sick das Wort ,,Ckristenkeit"; ja in einigen
Formeln ist das Wort ,,katkoliscku weggelassen oder dafiir
,,ckristlick", bezw. ,,glaubigu gestellt. Diese Anderung ist
deskalb wicktig, weil Lutker und die lutkeriscke Kircke sie
rezipiert kaben. Sie kaben in dem deutscken Symbol ,,Eine
keilige ckristlicke Kircke" fur ^Sanctam ecclesiam catkoli-
camtt gesetzt. Zusatze zu dem Symbol finden sick in
mancken mittelalterlicken Formeln, teils aus dem Constan-
tinopolitanum genommene, teils frei kinzugefugte. ^Beson-
ders mackt sick das Bediirfnis geltend, was in der alten
Kircke nur ganz vereinzelt auffcritt, das Leben Ckristi auf
Das apostolisclie Glaubensbekenntnis. 239
Erden in historischen Ziigen auszufuhren. " Nachdem Bern-
hard von Clairvaux und Franziskus von Assisi die Ziige
des geschichtlichen Christus in seiner Demut und Armut,
Liebe und Leiden vor die Seele gestellt hatten, ist es wohl
verstandlich, dafl die wenigen Tatsachen, die im Symbol
verzeichnet sind, nicht mehr geniigten. Wie weit aber das
Bestreben, den geschichtlichen Christus in jenen Ziigen im
Symbol anzuschauen, auf die Erklarung resp. auch die Ge-
staltung des Symbols selbst im Mittelalter eingewirkt hat,
verlangt noch eine Untersuchung.
Luther, der das Symbol aufs hochste schatzte, hat
doch an zwei Satzen leisen Anstofi genommen. Es ist
charakteristisch, wie er sich daruber im GmGen Katechismus
ausgesprochen hat. Zu „ Sanctorum communionem" bemerkt
er: ^Aber recht deutsch zu reden, sollt es heiCen eine Ge-
meine der Heiligen, das ist, eine Gemeine, darin eitel
Heilige sind, oder noch klarlicher eine heilige Gemeine
[beides heifit es aber nicht]. Das rede ich darum, dafi man
die Worte: Gemeinschafb der Heiligen, verstehe, weil es
so in die Gewohnheit eingerissen ist, dafl schwerlich wieder
heraus zu reifien ist, und muG bald Ketzerei sein, wo man
ein Wort andert" (,,et statim haeresim esse oporteat, ubi
verbulum aliquod immutatum fuerit"). Und zur ,,Auf-
erstehung des Fleisches" sagt er: 7)Dafi aber hie stehet
Auferstehung des Fleisches ist auch nicht wohl deutsch
geredt [aber der Originaltext bietet denselben Anstofi; die
Ubersetzung tragt keine Schuld]. Denn wo wir Deutschen
Fleisch horen, denken wir nicht weiter denn an die Scharren
[Metzgerbank]. Auf recht deutsch aber wiirden wir also
reden: Auferstehung des Leibes oder Leichnams; doch liegt
nicht grofie Macht dran, so man nur die Worte recht versteht."
V.
In dem vorstehenden ist der Versuch gemacht, den
Ursprung und die Grundziige der auCeren Geschichte des
240 Erster Band, zweite Abteiltmg. Aufsatze: I.
Apostolikums bis zur Reformation darzulegen. Sieht man
von den acht Zusatzen, die oben angegeben sind, und von
der lutherischen Vertauschung des ?,Katholischu in wChrist-
lich" ab, so darf man sagen, dafi das Symbol aus der nach-
apostolischen Zeit stammt und zwar ans der Hauptkirche
des Abendlandes, Rom. Wer es dort verfaflt hat, ist un-
bekannt. Der Zweck, um des sen willen es aufgestellt
worden ist, lafit sieh aus seinem G-ebrauehe mit Sicherheit
feststellen: es ist aus der missionierenden und katechetischen
Funktion der Kirche hervorgegangen und war urspriinglich
lediglich Tauf symbol (wTer mergitamur, amplius aliquid
respondentes quam dominus in evangelio determinavit",
d. h. fldreimal werden wir untergetaucht und erwidern
[dem, der die Handlung an uns vollzieht] dabei einige
Worte mehr als der Herr im Evangelium [s. den Tauf befehl]
angeordnet hat"). Die Meinung alterer und neuerer Gre-
lehrter, dafl das Symbol der allmahlich entstandene Nieder-
schlag aus GHaubensregeln ist, die gegen die Grnostiker auf
gestellt wurden, dafi es also aus der Polemik stammt, lafit
sich nicht halten; vielmehr gilt das Umgekehrte: die ver-
schiedenen antignostischen G-laubensregeln setzen ein kurzes,
festes, formuliertes Bekenntnis voraus, und das ist im
2. Jahrhundert eben das romische Symbol gewesen. Es
stammt aus der Zeit vor dem brennenden Kampf mit der
Haresie oder nimmt doch auf diesen Kampf keine Riicksicht.
Ein so altes Symbol, welches nur um etwa zwei
Menschenalter von der apostolischen Zeit entfernt liegt, und
direkt oder indirekt die Wurzel aller Symbole der Christen-
heit geworden ist, verlangt, dafi man seinen ursprunglichen
Sinn im ganzen und in den einzelnen Teilen, sowie sein
Verhaltnis zur altesten Verkiindigung des Evangeliums
sorgfaltig feststellt. Kann ihm auch nach den allgemein
anerkannten Grundsatzen der evangelischen Kirchen keine
selbstandige Autoritat zukommen, geschweige eine unfehlbare,
riihrt es ferner trotz seines hohen Alters aus einer Zeit her,
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 241
aus der sehr vieles stammt, was die Reformationskirchen ab-
gelelint haben, so verdient doch die Frage: Was wollte das
Symbol bekennen und sagen? die genaueste Untersuchung.
Auf den ersten Blick scheint diese Frage uberaus leicht
beantwortet werden zu konnen. Ein grofler Teil seiner
Satze laflt sich wortlich aus der noch alteren christlichen
Verkiindigung belegen, und als Ganzes scheint das Be-
kenntnis so durchsichtig und einfach, dafi es keiner Er-
klarung zu bedurfen scheint. Allein sieht man naher zu
und vergleicht man die christliche Theologie der Zeit, aus
der es stammt, so stellt sich manches in anderem Lichte dar.
Das Symbol ist die erweiterte Taufformel: das mufi
man fur seine Erklarung festhalten. Demgemafi ist es
dreigliederig wie jene. Die Zerteilung in zwolf Abschnitte
ist offenbar eine spatere kiinstliche Operation, gegen die
sich das ganze Gefuge des Bekenntnisses straubt. Die
Erweiterung ist so erfolgt, dafi die drei Grlieder der Tauf
formel 7,Vater, Sohn und heiliger Q-eist" naher bestimmt
wurden. Die christliche Gemeinde hatte das Bediirfnis, sie
deutlich zu beschreiben, um zu bekennen, was sie an ihnen
und durch den Glauben an sie besitzt.
Ein voiles, durch keinen anderen Ausdruck zu er-
setzendes Zeugnis des Glaubens ist der Satz des ersten
Artikels: wlch glaube an Gott, den Vater, Allmachtigen"
(oder vielleicht: »Gott den allmachtigen Vater"). Zwar
wenn man die gleichzeitigen kirchlichen Schriften unter-
sucht, findet man in ihnen das voile evangelische Ver-
standnis des Vaternamens nicht mehr: ihre Verfasser denken
in der Eegel nur an Gott als den Vater der Welt, wenn
sie ihn Vater nennen. Auch ist der Ausdruck selbst in
ihnen nicht eben haufig; gewohnlich wird Gott »der Herr"
(Despot) genannt oder ^der Schopfer". Um so willkom-
mener ist es, daC er sich in dem Symbol findet. Hat ihn
der Verfasser selbst auch wahrscheinlich nicht nach Matth. 1 1 ,
25 ff., Rom. 8, 15 und wie Luther gedeutet, so tritt er doch
Harnack, Reden und Aufsatze. 2.Aufl. I. 16
242 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
einer solchen Deutung nicht in den Weg. In der alten
Kirche verier sie sich freilich bald. Bei den Erklarungen
des Vater-Unsers blitzt sie hier und dort anf (so bei Ter-
tullian und Origenes), aber bei der Erklarung der Grlaubens-
regeln sucht man sie fast iiberall vergebens.
Ebenso einfach und gewaltig, evangelisch und aposto-
lisch 1st die Erweiterung des zweiten Gliedes „ Christus
Jesus, Grottes eingeborener Sohn, unser Herr". Die beiden
entscheidenden Pradikate fur Jesus Christus, die alle evan-
gelischen Aussagen uber ihn einschliefien , sind hier zu-
sammengestellt. Aus alien Bezeichnungen, die sich. in der
christlichen Predigt der alteren Zeit finden, sind die beiden
umfassendsten ausgewahlt (ob die Voranstellung des
„ Christus" vor „ Jesus" noch eine Erinnerung daran ent-
halt, dafi Christus = Messias ist, lafit sich nicht sagen).
Der Zusatz ,,eingeboren" findet sich im Neuen Testament
nur im Johannes-Evangelium ; aber die Sache haben auch
Matthaus und Lukas (s. 11, 27 f. bez. 10, 22 f.), und sie
wird iiberhaupt einhellig von der altesten G-emeinde bezeugt:
Jesus Christus ist nicht nur ein Sohn G-ottes, sondern er
ist ,,der Sohn", also der einige Sohn. Das Wort ,,Herr"
ist in dem pragnanten Sinne zu fassen, den die alte Zeit
mit ihm verband. Luther, der im grofien Katechismus die
ganze Auslegung des 2. Artikels in die Auslegung des
Wortes jjHerr" hineingezogen hat (vgl. iibrigens auch das
nsei mein Herr" im kleinen Katechismus), hat damit nicht
nur katechetisch den richtigen Griff getan, sondern er hat
auch den Sinn des Grlaubensbekenntnisses in seiner Weise
wiederhergestellt: nDas sei nun die Sum ma dieses Artikels,
dafi das Wortlein ,Herr' aufs einfaltigste so viel heifie als
ein Erloser, das ist, der uns vom Teufel zu G-ott, vom Tod
zum Leben, von Siinde zur Gerechtigkeit bracht hat und
dabei erhalt." Aber noch ist eine Erlauterung zu dem
Bekenntnis „ eingeborener Sohn" notig. In der Zeit nach
dem Nicanum wird bei diesen Worten in der Kirche durch-
Das apostolische Giaubensbekenntnis. 243
weg an die vorzeitliche , ewige Solinschaft Christ! gedacht
und jede andere Auslegung gilt als Haresie. So hat auch
Luther die Worte erklart: wwahrhaftiger Grott, vom Vater
in Ewigkeit geboren." Allein diese Fassung verlangt, auf
das Symbol iibertragen, eine Umdeutung desselben. Es
lafit sich nicht nachweisen, dafl tun die Mitte des 2. Jahr-
hunderts der Begrrff weingeborener Sohn" in diesem Sinne
verstanden worden ist; vielmehr lafit es sich geschichtlich
zeigen, dafi er nicht so verstanden worden ist. Wo Jesus
Christus flSohn" heifit, wo ein ,,geboren sein" von ihm
ausgesagt wird, ist in jener Zeit an den geschichtlichen
Christus und an die irdische Erscheinung gedacht: der ge-
schichtliche Jesus Christus ist der Sohn. Erst spekulierende
christliche Apologeten und die gnostischen Theologen haben
das Wort anders verstanden und in ihm das Verhaltnis
des vor geschichtlichen Christus zu Q-ott ausgedriickt ge-
funden. Spater noch wurde die ganze Zweinaturenlehre in
die Worte hineingelegt: ,,der eingeborene Sohn" bedeute
die gottliche Natur und erst in dem, was folgt, werde die
menschliche Natur bekannt. Es dauerte aber langere Zeit,
bis sich diese Auslegung in der Kirche durchsetzte, urn dann
die allgemeine zu werden und die altere zu verdrangen.
Wer also die „ ewige Sohnschaft" in das altromische Sym
bol hineinlegt, der gibt ihm einen anderen Sinn als der ur-
sprungliche lautete. Aber zum Haretiker ist trotzdem nach
dem 3. Jahrhundert jeder gestempelt worden, der damals
noch bei dem urspriinglichen Sinn des Symbols stehen
blieb und sich weigerte, die neue Deutung anzuerkennen.
Das Taufbekenntnis hat sich mit dem Zeugnis von
Christus als des eingeborenen Sohnes und unseres Herrn
nicht begnugt, sondern es hat noch fiinf (sechs) Satze hin-
zugefugt:
nDer geboren ist aus heiligem G-eist und Maria der
Jungfrau,
der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und begraben ist,
16*
244 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
am dritten Tage auferstanden von den Toten,
aufgefahren in die Hi mm el,
sich setzend zur Rechten des Vaters, woher er kommt
zu richten Lebendige und Tote."
Was sollten diese Satze besagen? Man hat gemeint,
sie seien nm der alttestamentlichen Weissagung willen aus-
driicklicli hervorgehoben, um die Erfiillung derselben aus-
zusprechen, so wie der Apostel Paulus im ersten Korinther-
brief schreibt (15, 3f.): nlch habe euch zuvorderst gegeben,
welches ich anch empfangen habe, dafi Christus gestorben
sei fur unsere Siinden, nach der Schrift, und dafi er be-
graben sei und dafl er auferstanden sei am dritten Tage,
nach der Schrift." Allein wenn das die Absicht des Ver-
fassers gewesen ware, so hatte sie klarer hervortreten
mussen; in Wahrheit ist sie durch nichts angedeutet.
Andere haben gemeint, dafi der Verfasser die wichtigsten
einzelnen Heilstatsachen habe hervorheben wollen. Diese
Auffassung kommt dem Richtigen naher; aber sie ist in
dieser Form doch nicht haltbar; denn sie schiebt etwas ein,
was der alten Zeit fern lag. Ihr war Jesus Christus der
Erloser und sein ganzes Tun ein erlosendes; aber die Zu-
sammenstellung einer besonderen Reihe von einzelnen Heils
tatsachen, jede fur sich ein besonderes Grut einschlieCend,
lag ihr fern. Stiinde an dieser Stelle in dem Symbol etwa
nur ,,der gekreuzigt ist um unserer Siinden willen und am
dritten Tage auferwecket ist" und sonst nichts weiteres, so
ware freilich gewLO, dafi das Symbol diese Ereignisse als
Heilstatsachen habe hervorheben wollen (wie Paulus), aber
angesichts der ganzen Reihe lafit sich nichts anderes be-
haupten, als dafi das Symbol einen geschichtlichen Bericht
von dem Herrn, dem Sohne Grottes, hat geben wollen. Die
Haupttatsachen seiner Greschichte, einer Greschichte. die ihn
von alien anderen unterscheidet, sollten bekannt werden.
Was er ist, bezeugt der Ein gang: wder eingeborene Sohn
Grottes und unser Herr"; seine Geschichte - - es ist die
Das apostolische G-laubensbekenntnis. 245
Geschichte des Erlosers — sollte in den Zusatzen aus-
gesagt werden.
Die Auswahl dieser Zusatze deckt sich wesentlich mit
der urspriinglichen Verkiindigung des Evangeliums , aber
doch nicht mehr vollkommen. Stiinden allein die Worte
in dem Symbol: 7,der unter Pontius Pilatus gekreuzigt und
begraben ist, am dritten Tage auferstanden von den Toten,
sitzet zur Rechten des Vaters, woher er kommt zu richten
Lebendige und Tote", so ware kein Unterschied vorhanden.
Aber dafi der Satz: nder geboren ist ans heiligem G-eist und
Maria der Jungfrau", nicht der ursprunglichen Verkiin-
digung des Evangeliums angehort, ist eine der sichersten
geschichtlichen Erkenntnisse; denn 1. er fehlt in alien
Briefen des Apostels Paulus und uberhaupt in alien Briefen
des Neuen Testaments, 2. weder in dem Evangelium des
Markus ist er zu finden, noch sicher in dem des Johannes,
3. er fehlte auch in der Vorlage und gemeinsamen Quelle
des Matthaus- und Lukas-Evangeliums, 4. die Genealogien
Jesu, welche diese beiden Evangelien enthalten, fuhren auf
Joseph und nicht auf Maria, 5. alle vier Evangelien be-
zeugen es — zwei unmittelbar, zwei mittelbar — , dafi die
urspriingliche Verkiindigung von Jesus Christus mit seiner
Taufe begonnen hat. So gewifi es ist, dafi die Q-eburt
Jesu aus dem heiligen Geist und der Jungfrau Maria be-
reits in der Mitte des 2. Jahrhunderts, ja wahrscheinlich
schon nicht lange nach dem Anfang desselben, ein festes
Stuck der kirchlichen Uberlieferung bildete, so gewifi ist es,
dafl sie in der altesten Verkiindigung keine Stelle gehabt
hat. Diese begann mit Jesus Christus, dem Sohn Davids
nach dem Fleisch, dem Sohn Gottes nach dem Geist (s.
Rom. 1, 3f.), bez. mit der Taufe Christi durch Johannes
und der Herabkunfb des Geistes auf ihn. Dafi in dem
apostolischen Symbolum die Davidssohnschaft, die Taufe
und die Herabkunft des Geistes auf Jesum weggelassen
und dafur die Geburt aus dem heiligen Geist und der
246 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Jungfrau eingesetzt 1st, ist also gegeniiber der altesten
Verkundigung eine Neuerung, die da zeigt, dafl das Symbol
nicht der altesten Zeit angehort, so wenig wie die Evan-
gelien des Matthaus nnd Lukas die alteste Stufe der evan-
gelischen G-eschichte darstellen. Die Kirche hat dann weiter,
schon bald nach der Zeit der Abfassung unseres Symbols,
verlangt, dafi man das Pradikat wJungfrau" bei Maria von
der bleibenden Jungfrauschaft verstehe. In den evangeli-
schen Kirchen aber ist dieses Verstandnis zuriickgewiesen
worden. — Mcht ebenso wichtig, auch nicht sicher zu
fassen, aber doch nicht zu iibergehen, ist noch eine Ab-
weichung von der altesten Predigt: es ist die besondere
Hervorhebung der Himmelfahrt. In der altesten Verkiin-
digung hat diese kein besonderes G-lied gebildet; aber es ist
auch nicht ganz sicher, ob das Symbol sie so fassen, oder
ob es nicht mit den drei "Worten nauferstanden, aufgefahren,
sich setzend" einen einzigen Akt beschreiben wollte. In
dem ersten Korintherbrief (15, 3f.), in den Brief en des
Clemens, Ignatius und Polykarp, im Hirten des Hermas
wird die Himmelfahrt iiberhaupt nicht erwahnt; aber sie
fehlt auch in den drei ersten Evangelien. Was wir jetzt
dort lesen, sind spatere Zusatze, wie die Textgeschichte
beweist. In einigen der altesten Zeugnisse wird die Auf-
erstehung mit dem sich Setzen zur Eechten Qottes in eins
zusammengefafit, ohne Erwahnung einer Himmelfahrt; im
Barnabasbrief sind Auferstehung und Himmelfahrt auf einen
Tag verlegt; nur die Apostelgeschichte berichtet im Neuen
Testament, dafi 40 Tage dazwischen gelegen hatten. Andere
alte Zeugnisse erzahlen wieder anders und setzen gar 18
Monate dazwischen. Aus diesem Schwanken, welches lange
gedauert hat, geht hervor, dafi die alteste Verkiindigung
eine einzige Tatsache mit verschiedenen Worten beschrieben
hat und dafi die Differenzierung zu mehreren Akten einer
spateren Zeit angehort. Eine solche Differenzierung ist
aber nicht unbedenklich ; denn sie legt es nahe, jedem
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 247
Stiicke erne besondere Bedeutung fiir sich zu geben und
damit das Gewicht des entscheidenden Stiicks zu schwachen.
Andererseits — das ^Auferstanden von den Toten" ver-
langte allerdings einen Zusatz; denn nicht an einfache
Wiederbelebung sollte geglaubt werden, sondern an eine
Erhohung zur Macht und Herrschaft im Himmel und auf
Erden. Eben dieses driickte die alteste Yerkiindigung ent-
weder dureh die Himmelfahrt oder durch das Sitzen zur
Rechten Gottes aus.
Das dritte Glied der Taufformel: ,,Ich glaube an den
heiligen Geist" ist nicht, wie die beiden vorigen, personlich,
sondern sachlich erganzt (durch die drei Stiicke: „ Heilige
Kirche, Yergebung der Siinden, Fleisches Auferstehung").
Hiernach scheint es, als sei in dem Symbol der heilige
G-eist selbst nicht als Person aufgefaflt, sondern als Kraft
und Gabe. Dem ist wirklich so. Man kann nicht nach-
weisen, dafi um die Mitte des 2. Jahrhunderts der heilige
Greist als Person geglaubt worden ist. Diese Yorstellung
ist vielmehr eine bedeutend spatere, die noch um die Mitte
des 4. Jahrhunderts den meisten Christen unbekannt ge-
wesen ist, sich dann aber im Zusammenhang mit der
nicanischen Orthodoxie eingebiirgert hat. Entstanden ist sie
aus der wissenschaftlichen griechischen Theologie; denn es
lafit sich nicht nachweisen, daB die (scheinbare oder wirk-
liche) Personifikation des heiligen G-eistes im Johannes-
Evangelium als ,,des Trosters" hier eingewirkt hat. Wer
also in das Symbol die Lehre von drei Personen der Gott-
heit einfuhrt, der erklart das Symbol wider seinen ur-
spriinglichen Sinn und deutet es um. Eine solche Um-
deutung ist allerdings seit dem Ende des 4. Jahrhunderts
von alien Christen verlangt worden, wollten sie sich nicht
dem Vorwurf und den Strafen der Haresie aussetzen.
Als Gabe ist der heilige Geist in dem Symbol gemeint,
aber als eine Gabe, in der gottliches Leben den Glaubigen
dargeboten wird; denn der Geist Gottes ist Gott selbst (in
248 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
diesem Sinn 1st an der Personlichkeit nicht gezweifelt
worden). Hinzugefiigt — aber sie sind nur eine Explikation
der einen Gabe — werden drei Giiter, und hier gibt das
Bekenntnis die apostolische Predigt vollkommen wieder:
flheilige Kirche, Vergebung der Siinden und Fleisch.es Auf
erstehung". Alles, was der Glaube an Jesus Christus ent-
halt und schafft, 1st in diesen "Worten enthalten: Die von
Christus erloste, mit dem heiligen Geist begabte und darum
heilige Gremeinde, die ihr Biirgerrecht im Himmel hat, aber
schon hier auf Erden den heiligen Geist besitzt, die Er-
neuerung des Einzelnen durch die Vergebung der Siinden,
und die Auferstehung von den Toten. So gewifl aber diese
drei Stiicke den ganzen Inhalt der evangelischen Griiter in
sich begreifen, so gewifl ist die Fassung des letzten Stiicks
nicht paulinisch und nicht johanneisch. Paulus schreibt
(I. Kor. 15, 50): ^Davon sage ich aber, Hebe Briider, dafl
Fleisch und Blut nicht konnen das Reich G-ottes ererben;
auch wird das Verwesliche nicht erben das Unverwesliche",
und im Johannes -Evangelium steht geschrieben (6, 63):
,,Der G-eist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist
kein niitze". In der Fassung der Auferstehung und des
ewigen Lebens als „ Auferstehung des Fleisches" ist mithin
die nachapostolische Kirche iiber die Linie hinausgegangen,
die in der gemeinsamen altesten Verkiindigung gegeben
war. Wohl ist schwerlich daran zu zweifeln, dafi von der
friihesten Zeit her einige Christen die Auferstehung des
Fleisches gepredigt haben, aber eine allgemeine Lehre war
sie nicht. Auch bieten viele Zeugnisse der alteren Zeit
statt Auferstehung des Fleisches „ Auferstehung" oder
,,ewiges Leben". Andererseits bestand die Kirche, als sie
bald in den Kampf mit dem Gnostizismus eintreten muCte,
auf der Auferstehung des Fleisches, um nicht die Aufer
stehung iiberhaupt zu verlieren. Aber so verstandlich das
ist — in dem damaligen Kampfe scheint keine andere
Formel ausgereicht zu haben — , so kann die Anerkennung
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 249
dessen, dafi sich die Kirche damals in einem Notstand be-
fand, das Recht der Formel nicht schiitzen.
Wir haben bisher den Wortlaut des altromischen Sym
bols betrachtet und von den acht Zusatzen des gallischen,
neuromischen Symbols (unseres jetzigen Apostolikums) ab-
gesehen, die wir oben bezeichnet haben. Fiinf von ihnen
verlangen keine Besprechung; denn sie sind schlechterdings
nichts anderes als Explikationen. Dafl 7,gelitten" zu ,,ge-
kreuzigt", ,,gestorben" vor ,,begraben", ,,ewiges Leben"
nach wFleisches Auferstehung" gestellt ist, dafi Grott der
allmachtige Vater ausdriicklich als wSchopfer Himmels und
der Erde" bezeichnet, dafl endlich fur ,,geboren aus heiligem
Greist und Maria der Jungfrau" gesagt wird, 7,empfangen
vom heiligen Greist, geboren aus der Jungfrau Maria" andert
an dem sachlichen Inhalt und dem Sinn des alten Symbols
gar nichts. Man konnte hochstens sagen, dafi das letzte Stiick
eine Ausmalung darstellt, die das alte Symbol in berechtigter
Scheu vermieden habe. Anders steht es mit den drei noch
iibrigen Zusatzen, namlich mit „ niedergef ahren zur Holle",
,,katholische (Kirche)" und ?,Gremeinschaft der Heiligen".
Das »descendit ad inferna« (inferos) kommt meines
Wissens zuerst im Taufsymbol der Kirche von Aquileja,
dann, aufier in den gallischen Symbolen, auch in dem iri-
schen usw. vor. Im Orient erscheint es zuerst in der Formel
der 4. Synode von Sirmium (i. J. 359). Das nicanische und
konstantinopolitanische Symbol bieten es nicht. Aber in
Schriften des 2. Jahrhunderts , und zwar bei kirchlichen
Schriftstellern und Haretikern, findet sich bereits der Gre-
danke, dafi Christus - - vor ihm Johannes der Taufer, nach
ihm die Apostel — in die Unterwelt hinabgestiegen sei und
dort gepredigt habe. Ob die Stelle I. Petri 3, 19 fur alle
diese Erzahlungen den Ausgangspunkt gebildet hat, wissen
wir nicht. Seitdem das Stiick in den Symbolen auftaucht,
d. h. seit der 2. Halfte des 4. Jahrhunderts, wird es auch
in den Auslegungen miterklart. Aber die Erklarungen
250 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
lauten verschieden. An die ?,H6lleu hat im Altertum
meines Wissens kaum einer gedacht, sondern an die Unter-
welt, den Hades, das Reich der Toten. Die einen fassen
die Worte lediglicK als Erganzung zu ?,begraben" und
nnden nur den Sinn in ihnen, dafi der Herr wirklich an
den Ort der Toten gekommen ist. Die anderen folgen dem
1. Petrusbrief und sprechen von einer Predigt Christi in
der Unterwelt und der Herausfuhrung der alttestamentlichen
G-erechten aus dem Hades. Die Erklarung, die Luther in
einer Predigt vorgetragen und die Konkordienformel vor-
geschrieben hat (»Wir glauben einfaltig, dafi die ganze
Person, Grott und Mensch, nach dem Begrabnis zur Holle
gefahren, den Teufel iiberwunden, der Hollen G-ewalt zer-
storet und dem Teufel alle seine Macht genoinmen habe"),
findet sich bei den alten Erklarern nicht, ja sie wird fast
von alien streng ausgeschlossen. Als selbstandiges, ebenbiir-
tiges G-lied neben den anderen zu stehen, dazu ist der Satz
zu schwach, und darum fehlte er mit Recht in den Symbolen
der Kirche vor Konstantin, mag man nun diese oder jene
Erklarung oder die seltsame Umdeutung Luthers bevorzugen.
Der Zusatz ,,katholisch" zur ,,heiligen Kirche" ist in
den evangelischen Kirchen getilgt und durch ,,christlich"
ersetzt worden. Wir haben es daher eigentlich nicht notig,
auf ihn einzugehen. Allein da er im lateinischen Text
(s. z. B. Luthers grofien und kleinen Katechismus) stehen
geblieben ist, so verlangt er doch ein kurzes "Wort. Die
Bezeichnung der Kirche als wkatholischtt ist in der kirch-
lichen Literatur sehr alt, mindestens so alt wie das alt-
romische Symbol, und zwar findet sie sich zuerst im Orient.
Sie bedeutete ursprunglich nichts anderes als die wallgemeine"
Kirche, die ganze Christenheit , die unter dem Him m el ist
und die Gott berufen hat. An die verfaBte sichtbare Kirche
ist noch nicht gedacht. Hatte das Wort also bereits in
dem altromischen Symbol Aufnahme gefunden, so ware es
dort in diesem Sinne zu deuten. Allein seit dem Uber-
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 251
gang des 2. zum 3. Jahrhundert bekam das Wort noch
einen Nebensinn, der dann allmahlich im Abendlande zum
ebenbiirtigen Sinn wurde. Es bezeichnete die sichtbare, in
bestimmten Ordnungen verfaflte, um die Apostelgemeinden,
vor allem um Rom sich gruppierende orthodoxe Kirche im
Unterschied von den haretischen Gremeinschaften. Es ist
namentlich Afrika (und in Afrika Cyprian) gewesen, das
den Begriff in dieser Richtung ausgebildet hat. Wir sind
deshalb verpflichtet, die Bezeichnung, nachdem sie in die
lateinischen Symbole vom 3. Jahrhundert an aufgenommen
wurde (heimisch wurde sie in den Symbolen erst im 5. Jahr
hundert), dort auch in dem angegebenen Sinne zu verstehen,
also auch in unserem Apostolikum. Dann aber ist offenbar,
dafi die Kirche der Reformation die so zu deutende Bezeich
nung nicht stehen lassen konnte. Sie muGte sie umdeuten
oder entfernen. Jenes ist in Bezug auf den lateinischen Text
geschehen — Luther kehrt aber mit dieser Umdeutung
zum altesten Sinn des Wortes wieder zuriick, iiber den
Symbolsinn hinwegschreitend — , dieses in Bezug auf den
deutschen Text.
Am dunkelsten ist die Entstehung und der urspriing-
liche Sinn des Zusatzes ,,G-emeinschaft der Heiligen". Man
hat versucht, diesen Begriff in Verbindung zu setzen mit
dem Stuck nNiedergefahren zur Holle". Dort soil die
himmlische Q-emeinschaft der Heiligen, hier die der alt-
testamentlichen Grerechten, die aus dem Hades ausgefuhrt
seien, gemeint sein. Aber diese Verbindung ist kiinstlich
und, wenn sie je wirklich stattgefunden, spat. Man mufi
das Q-lied fiir sich betrachten. Auf griechischem Boden
kommt es als Glied im Symbol iiberhaupt nicht vor (genau
in das Griechische ubersetzt, wiirde der Ausdruck ,,Anteil
am Heiligen" d. h. am Kultus, vor allem am heiligen Abend-
mahl, bedeuten). Es ist als Symbolglied eine rein lateini-
sche Bildung, und zwar begegnet der Begriff in der kirch-
lichen lateinischen Literatur nicht vor Augustin und dem
252 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
donatistischen Streit (in den Symbolen ist er auch damals
noch nicht zu finden). Hier aber war er ein Hauptbegriff,
der umstritten wurde: Augustin und seine Gregner fassen
ihn als ,,die Gremeinschaft der wahrhaft Heiligen (Grlaubigen)
auf Erden"; aber beide bestimmen das Verhaltnis der em-
pirischen katholischen Kirche zu ihm anders. (Augustin im
Sinne der wesentlichen Identitat). Hiernach sollte man er-
warten, dafl der Begriff dort, wo er znerst in den Sym
bolen auftaucht, ebenfalls als eine nahere Erklarung zu
,,heilige katholische Kirche", als ,,die G-emeinschaft der
Heiligen, welche die katholische Kirche ist", verstanden
werden wurde. Es lage dann hier der seltene Fall vor,
dafi das Taufbekenntnis infolge einer kirchlichen Streitig-
keit einen Zusatz erhalten hatte. Allein die altesten Sym-
bolerklarungen deuten den Ausdruck, nachdem er in die
gallischen Symbole gekommen war, nicht im augustinischen,
antidonatistischen Sinne, sondern fassen ihn als nGremein-
schaft mit den vollendeten Heiligen" (oder: der vollendeten
Heiligen). Ja man mufi vielleicht noch urn einen Schritt
weiter gehen. Wahrscheinlich nicht nur die alteste Aus-
legung des Symbols, in der der Ausdruck vorkommt, ist
die des Gralliers Faustus von Reji, sondern er bietet iiber-
haupt eines der altesten Zeugnisse fur die Existenz des
Grliedes ,,Communionem sanctorum" in einem Symbol. Wie
aber hat Faustus die Worte erklart? Er schreibt: ^Wir
wollen zur ,G-emeinschaft der Heiligen' iibergehen. Dieser
Ausdruck widerlegt diejenigen, welche lasterlich behaupten,
daB man die Asche der Heiligen und Freunde Grottes nicht
in Ehren halten diirfe, welche nicht glauben, daB das ruhm-
reiche G-edachtnis der seligen Martyrer durch die Verehrung
ihrer heiligen Statten zu feiern sei. Solche Leute haben
unredlich gegen das Symbol gehandelt und Christo bei der
Taufe gelogen und haben durch diesen Unglauben mitten
im Schofi des Lebens dem Tode Raum gegeben" (,,Ut
transeamus ad ,Sanctorum Communionem'. Illos hie sen-
Das apostolische G-laubensbekenntnis. 253
tentia ista confudit, qui Sanctorum et Amicorum Dei cineres
non in honore debere esse blasphemant, qui beatorum mar-
tymm gloriosam memoriam sacrorum reverentia monumen-
torum colendam esse non credunt. In Symbolum prae-
varicati sunt, et Christo in fonte mentiti sunt, et per hanc
infidelitatem in medio sinu vitae locum morti aperuerunt").
Faustus bezieht also die Worte auf die Anhanger des Vi-
gilantius, auf die Gregner des Heiligenkultus. Er weiB es
nicht anders, als daB der Ausdruck im Symbol die ,,Hei-
ligen" (im pragnanten, katholischen Sinn des Wortes) bedeu-
tet, und dafl er den Heiligenkult enthalt und schiitzt. Fau-
stus' Symbol aber ist, wie bemerkt, eines der altesten Sym-
bole, welches wir kennen, das die Worte „ Sanctorum com-
munionem" enthalt. Darauf hin und in Erwagung, dafi
die Worte zuerst in Siidgallien (in der zweiten Halfte des
5. Jahrhunderts) im Symbol auftauchen, dafi aber Vigilantius
in der ersten Halfte desselben Jahrhunderts in der Nahe,
namlich in Barcelona, wirkte und Anhanger fand, wird
man es nicht fur unwahrscheinlich halten konnen, dafi die
fraglichen Worte wirklich ^Gremeinschaft mit den Mar-
tyrern und den besonders Heiligen" bedeuten sollten. Sie
waren in diesem Falle urspriinglich keine Explikation des
Ausdruckes wheilige, katholische Kirche", sondern eine Fort-
setzung desselben. Sicher ist jedoch dieses Verstandnis der
Worte nicht; ist aber der urspriingliche Sinn der ange-
gebene, dann war es fur die Kirchen der Reformation not-
wendig, ihn umzudeuten. Diese Umdeutung konnte um so
leichter geschehen, als man eine passende und wertvolle
Auslegung, die allerdings im Symbol nicht die urspriing
liche ist, bei Augustin fand. Sie war auch wahrend des
ganzen Mittelalters nie vergessen worden.
Wer von der Lektiire der apostolischen Vater und der
Apologeten an das altromische Taufbekenntnis herantritt,
der muB mit dankbarer Bewunderung die Glaubenstat der
254 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
romischen Kirche in diesem Tauf bekenntnis erkennen. Uber-
schlagt man, welche fremde und seltsame Gredanken schon
damals an das Evangelium herangeriickt wurden, wie diirf-
tig haufig die Betrachtung desselben war, wie der Chilias-
mus und die Apokalyptik einerseits, der Nomismus und die
griechische Philosophie andererseits das Evangelium zu um-
stricken drohten, so erscheint das altromische Symbol doppelt
groJS und ehrwiirdig. Was ihm den hochsten und bleibenden
Wert verleiht, das ist, neben dem Bekenntnis zu Q-ott
als dem allmachtigen Vater, das Bekenntnis zu Jesus
Christus, dem eingeborenen Sohn G-ottes unserm Herrn,
und das Zeugnis, dafi durch ihn die heilige Christenheit,
Vergebung der Siinden und ewiges Leben geworden sind.
Allein man vermifit den Hinweis auf seine Predigt, auf die
Ziige des Heilandes der Armen und Kranken, der Zollner
und Sunder, auf die Personlichkeit, wie sie in den Evan-
gelien leuchtet. Das Symbol enthalt eigentlick nur Uber-
schriften. In diesen Sinne ist es unvollkommen ; denn kein
Bekenntnis ist vollkommen, das nicht den Heiland vor die
Augen malt und dem Herzen einpragt.
JSTachwort (1892).
Erneute heftige Angriffe auf meinen theologischen
Standpunkt und meine Person haben mich veranlafit, vor-
stelienden geschiclitliclien Bericht zu veroffentlichen. Die
Ergebnisse desselben sind zum kleinsten Teil Friiclite meiner
Forschung. Sie sind die E/esultate einer langen Arbeit der
protestantischen Wissenschaft, an der ich mich seit 20 Jahren
auch beteiligt habe (s. meinen Artikel „ Apostolisch.es Symbol"
in Herzogs R/eal-Encyklop. 2. Aufl. 1877 und meine Ab-
handlung »Vetustissimum ecclesiae Romanae symbolum e
scriptis virorum Christianorum qui I. et II. p. Chr. n. saeculo
vixerunt illustratum« in debhardts Ausgabe der Apostol.
Vater I, 2 1878, vgl. auch mein Lehrbuch der Dogmen-
Das apostolische G-laubensbekenntnis. 255
geschichte). "Was ich hier vorgetragen, habe ich in den
Grrundziigen ebenso seit der angegebenen Zeit anf den
Universitaten Leipzig, Griefien und Marburg gelehrt, und
es steht in meinen Schriften zu lesen. Es ist aber kein
Jahr vergangen, in dem ich nicht meine Stndien iiber den
groflen Gegenstand fortgesetzt hatte. Weitere Belehrung
oder Berichtigung, wenn sie von Sachverstandigen kommt,
will ich gern empfangen.
Die ernenten Angriffe auf mich sind die Folge eines
Artikels gewesen, den ich in der wChristlichen Welt" No. 34
d. J. veroffentlicht habe. Im Lanfe des Sommersemesters
wurde ich durch die Anfrage aus einem mir personlich
ganz unbekannten Kreise von Studierenden iiberrascht, ob
sie zusammen mit Kommilitonen anderer Hochschulen eine
Petition wegen Abschaffung des Apostolikums an den Ober-
kirchenrat richten sollten. Es war der 7,Fall Schrempf",
der die Gremuter der Jugend machtig erregt hatte. Da ich
in der Yorlesung iiber Kirchengeschichte des 19. Jahr-
hunderts die Bewegnngen iiber das Bekenntnis (Preuflische
Generalsynode von 1846) demnachst zu besprechen und zu
beurteilen hatte, so beschloC ich einen Teil der Stunde vor-
wegzunehmen, den Studierenden in der Vorlesung ausfuhr-
lich zu antworten und den Fragestellern, um Mifiverstand-
nisse zu vermeiden, die Hauptpunkte meiner Antwort schrift-
lich zu geben. Es gelang mir, die keimende Agitation zu
unterdriicken; aber damit iibernahm ich selbst eine einzu-
losende Verpflichtung. An eine Veroffentlichung meiner
Antwort an die Studenten habe ich urspriinglich doch nicht
gedacht. Aber welch ein Heer von Entstellungen und Ver-
leumdungen ware iiber die Vorlesung in die Welt gesetzt
worden, wenn die Veroffentlichung durch den Druck unter-
blieben ware! Was mir da bevorstand, wuCte ich aus
meiner hiesigen vierjahrigen Erfahrung, und es kundigte
sich auch jetzt wieder an.
Von dem, was ich geschrieben habe, habe ich nichts
256 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
zuriickzunehmen und habe auch eine Verteidigung nicht
notig. Ich hoife, dafl, wer guten Willens 1st, mein Recht
und meine Pflicht, den Studierenden so zu antworten, wie
ich geantwortet habe, auf Grund vorstehenden Berichts
anerkennen wird; gegen den bosen Willen sind wir alle
machtlos. Auf die Proteste, Schmahungen, Unterschiebungen
und Entstellungen werde ich so wenig antworten, wie vor
vier Jahren. Es ist nicht meines Amtes, die Frage zu er-
wagen, ob ein solches Treiben, wie es jetzt wieder, wie
auf Kommando, entfesselt ist, in der evangelischen Kirche
geduldet werden darf.
Nur auf zwei sachKche Vorhaltungen mufl ich zum
Schlufl eingehen. Die Protestanten-Vereins-Korrespondenz
No. 36 preist mir ihren eigenen Standpunkt an und rat mir,
mich von meiner ,,Vermittelungstheologie" auf denselben
zuriickzuziehen ; dann seien alle Notstande und Kollisionen
niit einem Schlage beseitigt, in denen das Gewissen zu
brechen drohe. Sie lafit dabei deutlich genug durchblicken,
dafi sie mich fur minder gewissenhaft halt als ihre Freunde.
Aber welches ist der Standpunkt der Protestanten-Vereins-
Korrespondenz? Man soil sich der tiberzeugung hingeben,
daJB alle kirchlich theologischen Bekenntnisse der Vergangen-
heit keinen dogmatisch bindenden Charakter mehr bean-
spruchen konnen: ^Es sind denkwiirdige Dokumente einer
vergangenen Epoche der Kirche." Aber so betrachtet sie
die evangelische Kirche doch noch nicht, wenn sie an ihre
Pfarrer die Forderung stellt, das apostolische Grlaubensbe-
kenntnis am Sonntag vorzulesen und wenn sie von alien
ihren Grliedern verlangt, daB sie sich bei der Taufe und der
Konfirmation zu ihm bekennen. Sie sollen also zu diesem
Bekenntnis innerlich Stellung nehmen, eine Stellung, die
iiber das „ denkwiirdige Dokumente einer vergangenen
Epoche" hinausfuhrt. Ich verstehe nicht, wie die Protest.-
Ver.-Korresp. um diesen Tatbestand herumkommt, bescheide
mich aber. Zwischen dem ^dogmatisch bindenden Charakter"
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 257
und den ^denkwurdigen Dokumenten einer vergangenen
Epoche" liegt doch noch etwas dazwischen, und man kann
es sehr kurz sagen, um was es sich dabei handelt — um
die Person Christi. In einer Zeitschrift stand neulich
ungefahr folgendes zu lesen: Die 7,historische Spezialitat"
der Person Christi sei nicht die Hauptsache im Christen-
tum, wie die Kitschlsche Theologie annehme. Ich bin dem
Verf. fur diesen allerdings nicht schonen Ausdruck dank-
bar; denn er bezeichnet genau das, was uns von manchen
Freunden der Pro test. -Ver.-Korresp. trennt. Uns ist die
,,historische Spezialitat" der Person Christi, klar und sieher
erkannt, so wichtig wie seine Lehre; denn einem Christen-
tum ohne Christus fehlt die Kraft. In dieser TJberzeugung
wunschen wir ein freies, aber deutliches Bekenntnis und
ertragen die Unvollkommenheiten der alten Bekenntnisse.
Aber wir halten uns fur verpflichtet, auf diese Unvollkommen
heiten hinzuweisen , darauf zu dringen, daB nicht gerade
sie fur das Wesentliche erklart werden, und ihre Fortbildung
vorzubereiten. Die Differenz zwischen den alten Bekennt-
nissen und der geschichtlichen Betrachtung unserer Zeit
empfinden wir so stark wie die Freunde der Protest. -Ver.-
Korresp., aber wir empfinden ihn als einen Notstand. Wer
seine Kirche lieb hat, der kann ihn ertragen; aber er weifi
auch, dafi der Notstand damit nicht gehoben ist, dafl man
die alten Bekenntnisse als )3denkwurdige Dokumente einer
vergangenen Epoche" betrachtet, sondern dafi man zugleich
das alte Evangelium in den neuen Formen unserer Erkennt-
nis so fest und sieher zu fassen vermag, wie die alte Kirche
und die Heformationszeit es in ihren Formen verstanden
haben. Andernfalls wird das allein iibrig bleiben, was ein
frivoler Englander neulich im Gregensatz zu dem gleichfalls
von ihm verachteten kirchlichen Christentum ^Amateur-
Christentum" genannt hat. Ich bin weit entfernt, iiber
ein solches zu richten, aber die gegebenen Kirchen kann
man mit ihm nicht weiter bauen.
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Anfl. I. 17
258 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Die andere Vorhaltung, die mir zuteil geworden ist,
stammt von dem Vorstand der evangelisch-lutherischen
Konferenz in der preufiischen Landeskirche und den Vor-
sitzenden der lutherischen Vereine in den Provinzen. Die-
ser Vorstand hat es fur notig gehalten, eine Erklarung
wider mich zu veroffentlichen. Ich lasse die zahlreichen
Fahrlassigkeiten in dem Referate iiber das, was ich ge-
schrieben habe — kein Satz ist riehtig wiedergegeben -
beiseite und halte mich an den Schlufi der Erklarung; er
lautet: ,,Dafi der Sohn Grottes ,,empfangen ist von dem
heiligen Greiste, geboren von der Jungfrau Maria", das ist
das Fundament des Christentums ; es ist der Eckstein, an
welchem alle "Weisheit dieser "Welt zerschellen wird." Ich
erwidere: Wenn das der Fall ware, stande es schlimm um
Markus, schlimm um Paulus, schlimm um Johannes, schlimm
um das Christentum. Diese Behauptung, wenn sie wort-
lich so genommen wird, wie sie lautet, widerspricht dem
Urchristentum und verwirrt den Grlauben. Dafi Jesus
Christus der Sohn Grottes ist oder — der Ausdruck stammt
erst aus der griechischen Theologie, der G-edanke ist evan-
gelisch — der Gottmensch, in dem Grott erkannt und
ergriffen wird : das ist Fundament und Eckstein des
Christentums. Aber dieser Grlaube ist unabhangig von den
beiden widerspruchsvollen Erzahlungen iiber die wunder-
bare Entstehung Jesu, sonst hatten ihn alle die Vielen
nicht besitzen konnen, die von dieser Entstehung nichts
gewufit haben. Ich will mich hier einmal auf eine Auto-
ritat beziehen, auf einen Mann, dessen Name in alien
Kreisen der evangelischen Theologie, auch bei den Kon-
servativen, den besten Klang besitzt und der sein ganzes
Leben der Erforschung des Neuen Testaments gewidmet
hat, den Oberkonsistorialrat H. A. W. Meyer in Hannover:
Er hat in seinem Kommentar zum Lukas - Evangelium
(5. Aufl. 1867 S. 254) Kap. 1, 5—38 geschrieben: wMit
Recht haben Markus und Johannes diese "Wunder der
Das apostolisclie G-laubensbekenntnis. 259
Vorgeschichte aus dem Kreise der evangelischen Greschichte,
die erst mit dem Auffcritt des Taufers anhob, ausgesclilossen,
wie sich denn Jesus selbst nirgends, auch im vertrauten
Kreise nicht, darauf bezieht, der Unglaube der eigenen
Briider aber Joh. 7, 5, ja selbst das Benehmen der Maria
Mark. 3, 21 ff. unvereinbar damit ist." Und gegen Phi-
lippi bemerkt derselbe Grelehrte (Kommentar z. Matth.
5. Aufl. 1864 S. 61): ,,Es ist ein gefahrliches, aber unrich-
tiges Dilemma, dafi die Idee des G-ottmenschen mit der
jungfraulichen Greburt stehe und falle." Wohl wissen wir,
dafi viele Christen so denken wie Philippi. Wir ehren
auch diese Grestalt ihres Qlaubens, lehren sie die zukiinf-
tigen Pfarrer verstehen und wollen sie niemandem nehmen,
dem damit das Christentum genommen wird. Aber man
darf das nicht in der Kirche als Haupt- und Fundamental-
artikel des Grlaubens aufrichten, was nicht zum Inhalt des
Evangeliums Christi gehort, im besten Falle eine Erklarung
und Hilfslinie, fur viele in unseren Tagen aber ein Stein
des Anstofies und ein Mittel der Entfremdung vom Evan-
gelium ist. Darum miissen wir darauf hinarbeiten, dafi
eine Zeit komme, in der diese Anstofie und ahnliche be-
stimmter und sicherer iiberwunden werden, als es jetzt
moglich ist. Dazu gehort aber auch, dafi die Grewissen
nicht mit Formeln beschwert werden, die nicht den Heils-
glauben enthalten, auch wenn sie wortlich der Bibel oder
der altesten Verkiindigung entsprechen; denn diese sind
doch selbst von den verganglichen Ziigen ihrer Zeit nicht
frei. Nach den Meinungen des Tages soil das Evangelium
nicht gemodelt werden, und so toricht oder frivol ist
wohl niemand, dafi er erwartet, der schmale Weg werde
zum breiten werden, wenn man nur jene Anstofie beseitigt.
Aber mancher Stein, der in alteren Zeiten hat mittragen
helfen, ist im Wechsel der Zeit zum Stein geworden, der
im "Wege liegt. Es ist das Vorrecht und die heilige Pflicht
evangelischer Theologen, unbekiimmert um Grunst oder
17*
260 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Ungunst, an der reinen Erkenntnis des Evangeliums zu
arbeiten und offen zu erklaren, was nach ihrer Uberzeu-
gung der Wahrheit entspricht und was niclit. Ihre Pnicht
ist es auch, im Namen der zah.lreich.en Grlieder der evan-
gelischen Kirche zu sprechen, die aufrichtige Christen sind
und sich durch manche Satze des Apostolikums , wenn sie
sie als ihren Grlauben bekennen sollen, in ihrem G-ewissen
bedriickt fuhlen. Mehr als ein Weg ist moglich, urn den
Notstand, der fur manchen Christen besteht, zu heben,
und die Liebe und der gemeinsame Grlaube werden den
rechten "Weg in der evangelischen Kirche gewifi finden.
Einen hat die Preufiische Greneralsynode im Jahre 1846
vergeblich betreten; ein anderer ist von manchen evange
lischen Landeskirchen schon gefunden : der fakultative litur-
gische Grebrauch. des Apostolikums. Evangelische Theologen
warten ihres Amtes, wenn sie auf diese und ahnliche "Wege
hinweisen und dabei die verschiedenen Richtungen in der
Kirche zu gegenseitigem Verstandnis anleiten, damit die
eine die Last der anderen tragen lerne. ,,Nun sucht man
nicht mehr an den Haushaltern, denn daC sie treu erfunden
werden. "
Das apostolisehe G-laubensbekenntnis. 201
Zusa"tze.
Zu S. 227 Absatz 1. Kattenbusch, Das apostolisehe
Symbolum, 2. Bd. (1900), hat gegen diese Feststellungen
allerlei Zweifel aufgebracht, auf die ich hier nicht einzu-
gehen vermag. Auch mag es hier auf sich beruhen bleiben,
in welchem Verhaltnis das sudgallische Symbol zu einem
sehr verwandten Symbol steht, welches uns aus einer Kirche
in Dacien (Anfang des 5. Jahrhunderts) iiberliefert ist.
Zu S. 233. Kattenbusch u. a. glauben zeigen zu
konnen, dafi das Symbol um d. J. 100 oder bald nachher
entstanden ist. Ihre Beweise haben mich aber nicht uber-
zeugt.
Zu S. 233. Am energischsten hat Loofs (Symbolik
Bd. I, 1902, S. 6ff.) die Ansicht verfochten, dafi der Orient
ein uraltes Taufsymbol besessen hat, dem gegeniiber das
altromische Symbol sekundar ist. Ich bleibe bei der im
Text vorgetragenen Ansicht.
Zu S. 238 £ Sehr bemerkenswert ist, dafi Luther in
sein ,,Taufbuchleinu (1523. 1526. Erlanger Ausgabe Bd. 22,
S. 162. 293) nicht das Apostolisehe Grlaubensbekenntnis auf-
genommen hat, sondern eine verkurzte Form desselben, die
aus dem fruhen Mittelalter stammt: ,,0-laubst du an Qott,
den allmachtigen Vater, Schopfer Himmels und der Erden?
Glaubst du an Jesum Christ, seinen einigen Sohn, unsern
Herrn, geboren und gelitten? Grlaubst du an den heiligen
Greist, eine heilige christliche Kirche, Gemeine der Heiligen,
Vergebung der Siinden, Auferstehung des Fleisches und
nach dem Tod ein ewiges Leben?"
262 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Zu S. 245. Hinzuzufiigen ist, daB viele sehr alte Zeugen
Luk. 3, 22 (Erzahlung der Taufe Jesu) folgenden Wortlaut
bieten: ,,Du bist mein Sohn; ich habe dich heute gezeugt."
Also leitete man die Sohnschaft Jesu von der Herabkunft
des Geistes auf ihn ab, betrachtete sie mithin nicht als
eine physische. — Das Mcanische Symbolum enthalt die
Greburt aus der Jungfrau nicht.
Zu S. 246 Z. 6f. AUerdings bieten noch die Schmal-
kaldischen Artikel (lat. Text) ,,Maria sancta semper virgo".
Zu S.248 Z. lOf. ,,Auferstehung von den Toten" statt
,,Auferstehung des Fleisches" findet sich in Symbolen nnd
Grlaubensregeln haufig.
Zu'S. 249 Z.20ff. EicMig Huther zn I. Petr. 3, 19 (in
Meyers Kommentar zum Neuen Testament XII. Abt. 3. Anfl.
S. 177): ,,Diese Stelle sagt nichts liber die Existenz Christi
zwischen seinem Tode und seiner Anferstehnng ans . . . Zu
bemerken ist noch, dafi weder die Lehre der Form. Concord.,
noch auch die Lehren der Katholiken von dem limbus
patrum und dem Purgatorium in dieser Stelle irgend einen
Grrund haben." Die ,,H6llenfahrt", von der das Symbol
spricht, entbehrt der biblischen Begriindung.
Zu S. 254 Z. 8ff. Was ich hier zusammengefafit habe,
entspricht wesentlich der Fassung Luthers in seinem Tauf-
biichlein (s. oben), ohne dafi ich an Luther gedacht hatte.
- Zeigt man den G-egnern, dafi nicht alle Satze des Sym
bols biblisch begriindet sind, so erwidern sie: ,,aber es ist
das uralte Bekenntnis der ganzen Christenheit." Weist
man ihnen nach, dafi es das nicht ist, so entgegnen sie:
7,aber es ist biblisch begriindet". DaJS der Wortlaut —
um diesen handelt es sich — nicht durchweg sicher aus
der Bibel begriindet werden kann, ist schwer zu bestreiten.
Aber selbst wenn das moglich ware, ware noch nichts ent-
schieden. Denn ein Grlaubenssatz ist noch nicht deshalb
ein Grlaubenssatz in der evangelischen Kirche, weil es irgend
eine Stelle in der Bibel gibt, mit der man ihn belegen
Das apostolische Glaubensbekenntnis. 263
kann, sondern Grlaubenssatz ist nur, was zum Inhalt des
Evangeliums gehort.
Zu S. 256 Z. 8 ff. Man hat, ohne daB ich Anlafl dazu
gegeben hatte, diese Worte so verstanden, als bezeichnete
ich jeden Angriff auf mich als ein ,,Treiben". Das ist mir
natiirlich nicht in den Sinn gekommen. Ernstliche sach-
liche Vorhaltnngen ehre ich und verstehe, daft sie gekom-
nien sind. Dafi aber ein ?,Treibenu mit Schmahungen,
Unterschiebungen und Entstellungen wider mich entfesselt
ist, und dafi daneben nur sehr wenige ruhige und besonnene
Gegner aufgetreten sind, liegt am Tage.
Zu S. 259 Z. 19. Aus den Worten meiner Erklarung
in der nChristlichen "Welt" (oben S. 222 £): ,,Die Anerken-
nung des Apostolikums in seiner wortlichen Fassung ist
nicht die Probe christlicher und theologischer E/eife; im
Gregenteil wird ein gereifter, an dem Verstandnis des Evan
geliums und an der Kirchengeschichte gebildeter Christ
Anstofi an mehreren Satzen des Apostolikums nehmen
miissen", hat man Anmafiung, Beleidigung des Pastoren-
standes und der Glaubigen und alles mogliche Schlimme
herausgelesen. Demgegeniiber bemerke ich um des Friedens
willen, 1. dafi mir jede Absicht einer Beleidigung vollig
fern gelegen hat, 2. dafi nach dem deutschen Sprach-
gebrauch ,,wird mussen" nicht die absolute Notwendigkeit
bezeichnet, sondern die sichere Erwartung des Eintritts
eines Zustandes, 3. dafi ich nicht von gebildeten Christen
schlechtweg, sondern von ,,an der Kirchengeschichte ge
bildeten Christen" gesprochen habe, 4. dafi, soviel ich aus
den Kundgebungen meiner Gregner ersehen kann, auch in
ihren Reihen AnstoB am Wortlaut und ursprunglichen Sinn
des Apostolikums nicht ganz fehlt, mo gen sie sich auch
durch Erklarungen d. h. Umdeutungen iiber diesen AnstoU
tauschen.
Zu S. 260 Z. 12 ff. Die Preufiische Greneralsynode im
Jahre 1846 beschloB, das Apostolikum aus der Ordinations-
264 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
formel wegzulassen, well es teils zu viel, tells zu wenig
entlialte. Sie nahm dafiir eine neue, dem Apostolikum nnr
zum Teil nachgebildete, in mancher Hinsicht treffliche For
mel an, in der die Greburt aus der Jungfrau, die Himmel-
fahrt und die Auferstehung des Fleisches fehlten, weil man
sie nicht zu den Hauptstiicken des Grlaubens rechnete.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
$^ ERSTER BAND • ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: II
ANTWORT AUF DIE STREITSCHRITF
D. CREMERS:
ZUM KAMPF UM DAS APOSTOLIKUM
Erscliienen als Nr. 3 der ,,Hefte zur Christlichen Welt" 1892 bei Fr. Wilh.
Grunow in Leipzig, jetzt bei J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) in Tubingen.
D. Cremer hat eine ,,Streitschrift" wider mioh ausgehen
lassen, die ich sowohl nm des Autors als um der Sache
willen nicht unbeantwortet lassen darf. Fur die Art nnd
den Ton seiner Polemik bin ich ihm zu Dank verpfl.ich.tet.
Mein G-egner hat die Freundlichkeit gehabt, das kleine
Schriftchen, das ich unter dem Titel ,,Das Apostolische
Grlaubensbekenntnis" habe ausgehen lassen, sehr genan zu
priifen. Er hat infolge dieser Prufung eine Eeihe von
Ausstellungen im einzelnen erhoben, nnd er hat sodann
geglaubt, eine prinzipielle Ausfiihrnng in Bezug anf die
Person Jesu Christi mir entgegenhalten zu miissen. Ein
Nachwort beschliefit seine Schriffc. Es erscheint schicklich,
die Replik diesen Vorhaltungen gemafi einzurichten. Allein
ich mufi — wenn ich so verfahre — allerdings den Ein-
wand meines G-egners befiirchten, daC ich die letzten Ab-
sichten seiner Erwiderang verkannt hatte. Er hat namlich —
vom Nachwort abgesehen — seine Streitschriffc in drei
Teile geteilt und jedem dieser Teile in gesperrter Schrift
einen Satz vorangestellt , der das Thema fur das Folgende
enthalten soil. Die Satze lauten:
1. In dem gegenwartigen Streite urn das apostolische
Glaubensbekenntnis handelt es sich weder um neue Ergeb-
nisse, noch uberhaupt um Ergebnisse historischer Forschung
(S. 3);
2. Denn die Frage nach der Person Christi oder die
Frage, wer und was Jesus ist, kann nimmermehr auf dem
Wege und mit den Mitteln historischer Forschung ent-
schieden Averden (S. 32);
268 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
3. 1st das die eigentliche Frage, wer und was Christus
sei, so richtet sich nacli ihrer Entscheidung auch die Kritik
des Symbols (S. 41).
Diese Satze besagen teils sehr viel mehr, teils weniger,
als die ihnen folgenden Ausfiihrungen enthalten. Ich be-
finde mich daher der Streitschrift gegeniiber in einer
schwierigen Lage: soil ich jene Satze, die ich teils fur
irrig, teils fur halbwahr halte, priifen, oder vielmehr die
Ausfiihrungen, die sie angeblich begriinden? In dem erstern
Falle fehlen mir in der Schrift meines Gregners z. T. die
Anhaltspunkte und Grundlagen, in dem andern mufi ich,
wie bemerkt, die Erwiderung befurchten, die letzten Ab-
sichten seiner Entgegnung verkannt zu haben. In diesem
Dilemma meine ich mich doch vor allem an die direkten
Ausfiihrungen gegen mich und nicht an die Uberschriften
halten zu miissen. Ich bin dann wenigstens gewifi, keine
Nyktomachie aufzufuhren. Am Schlufi werde ich ver-
suchen, auch auf jene weittragenden Uberschriften in mog-
lichster Kiirze einzugehen.
1. Die einzelnen Einwiirfe D. Cremers.
In dem ersten Teile der Streitschrift (S. 3 — 32) kon-
statiert D. Cremer, dafi meine Forschungen den bisher ge-
wonnenen Ergebnissen in Bezug auf das Apostolikum
nichts wesentlich neues hinzugefugt hatten, und bemerkt
dann, dafi ich nunbeschadet der Kon^ektheit manches hatte
an der s formulieren diirfen" und in manchem irrige An-
sichten vertrete. Sehe ich recht, so bezieht sich sein Tadel,
auch Kleinigkeiten mit eingerechnet, auf elf Punkte. Grerne
wiirde ich dieses oder jenes, was ich geschrieben habe, be-
richtigen. Allem ich mufi nach sorgfaltiger Prufung alles
das, was ich ausgefuhrt habe, und was D. Cremer bean-
standet, aufrecht erhalten, und zwar bis aufs Wort. Der
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 269
Leser moge entschuldigen , wenn einige scheinbare oder
wirkliche Quisquilien dabei mit unterlaufen: ich habe diese
Punkte nicht zur Diskussion gestellt.
1. D. Cremer beanstandet meinen Satz: ,,dafi die ro-
mische Kirche zur Sicherstellung des Wortlauts ihres Be-
kenntnisses die Legende von dem apostolischen Ursprung
des Symbols erzeugt habe." Statt „ erzeugt" will er nge-
pflegt" gesetzt wissen; ,,denn Legenden werden nicht ab-
sichtsvoll erzeugt." Demgegeniiber bemerke ich, 1. daB
ich von 75absichtsvoll" nicht geredet habe, und 2. dafi wir
von der Zeit und den Umstanden der Bildung jener Le
gende nichts wissen, also auch nicht wissen, wieviel Instinkt
und wieviel bewufite Absicht hier gewaltet hat. Das Wort
,,gepflegt" wird sich aber niemand hier so leicht aneignen
wollen; denn man kann doch nur pflegen, was schon vor-
handen 1st. Daft die romische Gremeinde die Legende vom
apostolischen Ursprung des Symbols von auswarts erhalten
hat, ist nicht anzunehmen und nimmt, soviel ich sehe, auch
D. Cremer nicht an. Endlich der Satz: n Legenden werden
nicht absichtsvoll erzeugt", ist in dieser Allgemeinheit nicht
aufrecht zu erhalten. Oder sind alle Legenden, die die
romische Kirche zu ihrer eignen und des Papstes Yerherr-
lichung erdichtet hat, lediglich Produkte der absichtslos
waltenden Phantasie?
2. ,,Aufierdem — heifit es S. 4 - - hatte auch nicht
iibergangen werden sollen, daC neben dieser Legende auch
richtigere Vorstellungen sogar bei denselben Schriftstellern
sich finden, wie z. B. bei Augustin im Eingang seiner Rede
uber das Symbol an die Katechumenen : > Diese Worte, die
ihr gehort habt, finden sich in den h. Schriften verstreut
und sind von dorther gesammelt und zu einer Einheit ver-
bunden.«" Diesen mir wohlbekannten Satz konnte ich
nicht anfuhren; denn 1. enthalt er kein romisches Zeugnis,
sondern ein aufierromisches , 2. stammt er aus so spater
Zeit, dafi er fur die geschichtliche Frage ohne Belang ist,
270 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
3. 1st er nicht als Korrektur der Legende vom apostolischen
Ursprung des Symbols gemeint, und 4. enthalt er den
schlimmsten historischen Verstofi; derm dafi die einzelnen
Satze des Apostolikums wirklich aus den heiligen Schriften,
d. h. aus dem Neuen Testament zusammengeklaubt seien
und so der Vorgang der Entstehung des Symbols gedacht
werden miisse, 1st doch — wenn man seine Ursprungszeit
bedenkt - - ziemlich das Verkehrteste , was sich hier sagen
laflt. Wie D. Cremer diese Ansicht als ,,richtigere" Vor-
stellung bezeichnen kann, ist mir unverstandlich , und ich
wiirde daher hier gern an einen lapsus calami glauben,
kame D. Cremer nicht S. 15 auf Augustins wZeugnis"
wieder zurdck.
3. Seite 4 heifit es weiter: ^Ferner diirfbe auch der
Satz eine andre Fassung erheischen: »Man darf es als
gesichertes Ergebnis der Forschung bezeichnen: das alte
romische Symbol ist um die Mitte des zweiten Jahrhunderts
entstanden.« Dieses >entstanden« geht iiber das Mafi der
zulassigen Grenauigkeit in der Formulierung der Ergebnisse
wissenschaffclicher Forschung hinaus. Uber den Zeitpunkt
der Entstehung dieser Formel vermogen wir bislang nichts
zu sagen." D. Cremer beruft sich nun auf Irenaus-Poly-
karp und auf meinen Artikel ,3Apostolisches Symbolum"
in der Realenzyklopadie , um die Moglichkeit, dafi das
Symbol bereits um das Ende des ersten Jahrhunderts ent-
standen sei, offen zu halten.
Um ganz abstrakte Moglichkeiten streite ich nicht;
auch gesicherte Ergebnisse historischer Forschung sind
gegeniiber „ Moglichkeiten" wehrlos. Yon dieser Erkenntnis
bin ich tief durchdrungen und raume daher meinem Gregner
bereitwillig ein, dafi die Abfassung des Apostolikums in
seiner altromischen Qestalt um das Ende des ersten Jahr
hunderts nicht unmoglich ist. Aber ich ziehe deshalb
meine Behauptung von dem gesicherten Ergebnis der For
schung — dafi das Symbol um die Mitte oder kurz vor der
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 271
Mitte des zweiten Jahrhunderts*) entstanden 1st — nicht
zuriick. In Kiirze dafiir den Beweis zu liefern, 1st nicht
leicht; denn direkte aufiere Zeiignisse fehlen, und innere
Grande stehen bei vielen nicht hoch im Kurse. Anch
haben die schlagendsten unter ihnen nur fiir den voile
Beweiskraft, der das Q-esamtbild geschichtlicher Anschauung
anerkennt, aus dem sie stammen. "Wie konnte ich aber
ein solches hier entwickeln und beweisen? Dennoch werde
ich es versuchen, einen Teil der Beobachtungen zusammen-
zustellen, die hier in Betracht kommen, und von denen
ich annehmen darf, dafi auch solche Gelehrte sie anerkennen
werden, die liber die Entwicklung des nachapostolischen
Zeitalters anders denken als ich. Was den terminus ad
quern betrifft, der tibrigens zurzeit nicht zur Frage steht,
so mag der Hinweis genugen, dafi das Symbol nicht aus
der Zeit des brennenden Kampfes mit dem Gnostizismus
stammen kann. Eine Kirche, die im Streit auf Leben und
Tod mit Marcioniten und Valentinianern stand, kann diese
Formel nicht geschaffen haben. Also ist sie, da sie nicht
jiinger (etwa erst aus der Zeit um das Jahr 200) sein kann,
alter. Um wieviel alter? D. Cremer hatte Anhaltspunkte
fur die Beantwortung dieser Frage gewinnen konnen, wenri
er meine Abhandlung iiber das alteste Symbol der romi-
schen Ejirche in meiner Ausgabe der Schriften der aposto-
lischen Vater (1878) nicht entweder ignoriert oder fur un-
wert gehalten hatte. Er bemerkt - - auch die meisten
meiner andern Gregner betonen diesen Satz — , dafi meine
Forschungen denen von Caspari und v. Zezschwitz
nichts wesentlich Neues hinzugefugt hatten. Ich bin dem-
gegeniiber in der peinKchen Lage, darauf hinweisen zu
miissen, dafi jene beiden hochst verdienten Gelehrten iiber
das Verhaltnis des Symbols zum zweiten Jahrhundert der
christlichen Kirche ganz ungeniigend orientieren, und dafi
*) So habe ich mich ausgedruckt (S. 233).
272 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
die oben zitierte Abhandlung allein daruber ausfuhrlicher,
freilich immer nock nicht ausfuhrlich genug, belehrt. Der
terminus a quo bestimmt sich auf Grrund folgender Er-
wagungen :
a) Der Hirte des Hermas eroffnete seine Mandate, in
dent er als erstes Grebot lediglich den Glauben an den
einen Grott einscharft. Dieses Argument beweist an sich
allerdings nichts, weil zu viel; denn der Schlufl: also exi-
stierte damals die dreigliedrige Taufformel noch nicht, ware
irrig. Hernias selbst zeigt an andern Stellen, dafi er den
Vater, den heiligen Greist als den ewigen Sohn, und den
adoptierten Sohn (den Menschen Jesus Christus) unter-
scheidet. Aber eben diese Unterscheidung macht es im
hochsten Grade unwahrscheinlich, dafi ihm das romische
Symbol mit seiner scharfen Unterscheidung des einzigen
Grottes - Sohnes und des heiligen Greistes schon vorgelegen
hat. Ich wenigstens vermag beides schlechterdings nicht
vermittelt zu denken. Hatte aber Hermas ferner so schreiben
konnen, wie er im ersten Mandat geschrieben hat, wenn
das Verstandnis der Taufformel durch die Ausfuhrung in
dem Symbol schon sichergestellt gewesen ware?*) Ich mufi
es demgemaC fur ganz unwahrscheinlich halten, dafi zur
Zeit des Hirten das romische Symbol im Grebrauch der
Kirche vorhanden war.
b) Nicht nur die abendlandischen Valentinianer , die
sich an die kirchlichen Grlaubensregeln moglichst anschlossen,
lehrten in ihren Formeln, dafi Christus 7, durch" (nicht ,,aus")
Maria geboren sei (s. Iren. I, 7, 2 und Tertull. de carne 20),
sondern auch Justin braucht sehr haufig jene Praposition.
Die Zeit kann also nicht weit hinter der Mitte des zweiten
Jahrhunderts zuriickliegen, in der in der romischen Kirche
jenes ,,ausu noch nicht festgestellt war.
*) Dahingestellt lasse ich es, ob die Darlegungen in dem fiinften
Gleichnis sich mit der symbolischen Geltung des Satzes von der Jung-
frauengeburt vertragen.
Antwort auf die Streitschrift Crcmers. 273
c) Das romische Symbol erwahnt die Taufe Jesu durch
Johannes resp. die Herabkunft des heiligen Greistes bei der
Taufe nicht. Dafi dieses Stiick urspriinglich als hochst
wichtig gegolten, ja die Aussagen iiber Christus eroffnet
hat, ist bekannt. Noch Ignatius hat es ad Smyrn. 1 und
ad Ephes. 18 aufgenommen.*)
d) Der Ausdruck ,,seinen eingeborenen Sohn" im
Symbol weist auf das vierte Evangelium zuriick; wenigstens
ist uns eine andre Quelle nicht bekannt.
e) Die scharfe Unterscheidung der Glieder 7,aufer-
standen", 7,aufgefahrenu und wsitzenda spricht fur das
zweite Jahrhundert (s. daruber unten).
f) Die "Weglassung der chiliastischen Hoffnung, die
doch Justin zur vollen Orthodoxie rechnet, fallt stark ins
Gewicht.
Diese Argumente mogen geniigen. Ich berufe mich
nicht auf den Gresamtcharakter des Symbols (z. B. in seinem
Verhaltnis zu den ,,Lehren des Herrn durch Vermittelung
der zwolf Apostel"), um zu zeigen, dafi das ganze Unter-
nehmen im ersten Jahrhundert hochst auffallend ist und
dafi es bereits katholische Art an sich tragt; denn dieser
Nachweis kann in Kiirze nicht gefiihrt werden. Nicht nur
fallt die Beweislast dem zu, der das Symbol vor c. 140 an-
setzt, sondern man darf auch sagen: der Beweis ist nicht
gefiilirt worden und kann nicht gefiihrt werden. Die Be-
rufung auf Irenaus-Polykarp verschlagt nicht; denn dafi
Polykarp ein formuliertes Symbol besessen und dem Irenaus
iiberliefert hat, davon wissen wir schlechterdings nichts.
Auf die sichere und einheitliche Formulierung aber kommt
es an; dafi einzelne Satze sehr friihe feste Formen erhalten
haben, z. B. der 77gekreuzigt unter Pontius Pilatus", darauf
habe ich selbst mehr als einmal hingewiesen; aber damit
*) Anch das Fehlen des nHerodes" neben Pontius Pilatus, den
altere Formeln bieten, verdient Erwahnung.
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. T. 18
274 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
ist weder die Existenz des romischen Symbols noch eines
andern ihm gleichartigen angedeutet, geschweige sicher-
gestellt.
4. D. Cremer macht rair einen Vorwurf daraus (S. 7),
dafi ich in meiner Schrift die Satze, die ich vor seclizelin
Jahren in meinem Artikel nApostolisches Symbolum" iiber
den Archetypus der orientalischen Symbole niedergeschrieben,
nicht wiederholt habe. Er selbst eignet sie sich an und
bemerkt, es sei nicht bekannt geworden, dafi irgend ein
Grand von irgend jemandem geltend gemacht worden sei,
der meine fruhern Ausfuhrungen zu entkraften geeignet
ware. Letzteres ist richtig; aber ich selbst habe meine
Studien fortgesetzt und erkannt, dafi ein orientalischer
Symbol- Archetypus for die Mitte, ja noch fur die zweite
Halfte des zweiten Jahrhunderts nicht erreichbar ist. Ein-
zelne gemeinsame Formeln und ein Kerygma von Jesus
Christus, dessen Satze zum Teil, aber nur zum Teil stehend
waren, lassen sich bis ins zweite Jahrhundert hinauffuhren,
aber auch nicht mehr — vor allem kein geschlossenes Sym
bol. Darum habe ich von dem orientalischen Archetypus
absehen miissen. Er ist mir eine Fata Morgana geworden.
Will D. Cremer sich dieses Archetypus mit geschichtlichen
Nachweisen annehmen, so werde ich ihm gern Rede und
Antwort stehen. Nur kommen wir dabei nicht weiter,
wenn wir nicht zwischen fliissigem Kerygma, festem Sym
bol und fliissigen (antignostischen) Q-laubensregeln unter-
scheiden.
5. Seite 9ff. schreibt D. Cremer: 7,Auch dies diirfte
nicht unter den Titel eines Ergebnisses historischer For-
schung befafit werden diirfen [sic], dafi in dem Symbol der
heilige Greist nicht als Person, sondern als Kraft und G-abe
aufgefafit sei." Meinem Satze, man konne nicht nach-
weisen, dafi um die Mitte des zweiten Jahrhunderts der
heilige Greist als Person geglaubt worden sei, halt D. Cremer
entgegen, 1. dafi das Symbol nden unwandelbaren Inhalt
Antwort auf die Streitschrift Cremer 3. 275
der apostolischen Verkiindigung im Lapidarstil monumen-
taler Form hat bewahren wollen, es also gar nicht darauf
ankomme, welches Mafl von Verstandnis die alte Kirche
ihrerseits damit verbunden habe", 2. dafi Johannes, Paulus
und iiberhaupt die apostolische Verkiindigung sich den
heiligen Geist nicht nur als unpersonliche Kraft gedacht
haben: der Begriff der Personlichkeit fehlte, aber nicht die
Sache. Ich vermag in beiden Entgegnungen nur ein Aus-
weichen der bestimmten Fragestellung gegeniiber zu er-
kennen. Was sich Paulus oder Johannes gedacht haben,
gehort mindestens so lange nicht hierher, als das Symbol
selbst eine Antwort gibt. Diese ist aber in der einfachen
Zusam m enordnung ' n heiliger Greist", ?)heilige Kirche", ,,Sun-
denvergebung", ,,Fleischesauferstehung" deutlich genug,
und sie wird durch den dogmengeschichtlichen Befund in
Bezug auf das zweite Jahrhundert bestarkt. Zwei Hypo-
stasen der Gottheit, nicht drei, sind bekannt. Selbst noch
der romische Presbyter Hippolyt am Anfang des dritten
Jahrhunderts unterscheidet ausdriicklich zwei gottliche Per-
sonen und drei gottliche Okonomien. Wenn aber D. Cremer
S. 10 die montanistischen Streitigkeiten streift, um das
Dogma von den drei Personen der Q-ottheit fur jene Zeit
zu retten, so lafit sich aus den echten Spriichen Montans
und seiner Prophetinnen leichter abnehmen, daft sie nur
eine gottliche Hypostase anerkannt haben als zwei oder
gar drei. Die Unterscheidung von Kraft und Hypostase
war iibrigens, wie die Gnostiker und namentlich Justin
(Dial. 128) beweisen, jener Zeit nicht fremd. Justin aber
hat nirgendwo in seinem weitschichtigen Dialog Grelegen-
heit genommen, die personliche Selbstandigkeit des Geistes
zu behaupten, wie er die des Logos behauptet hat. Der
heilige Geist ist ihm einfach wder prophetische Geist".
Wenn endlich D. Cremer in meiner Ubersetzung ,,und an
heiligen Geist" den Artikel vermifit, so habe ich natiirlich
nichts dagegen, ihn in der Ubersetzung einzuschalten, vor-
18*
276 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
ausgesetzt, dafi man ihn auch noch vor 7,heilige Kirche"
usw. einschaltet. Die Trennung und die verschiedene Be-
handlung der vier Grlieder des dritten Artikels ist, wie auch
D. Cremer einraumt, viel spater erfolgt, namlich erst, nach-
dem das Dogma von der Trinitat ausgearbeitet war.
6. Seite 13 wird es mir als eine — allerdings dankbar
zu verzeichnende — Inkonsequenz vorgehalten, dafi ich bei
der Erklarung des Wortes ,,Vater" im ersten Artikel auf
das apostolische Verstandnis zuriickgehe, wahrend ich sonst
diese Art Erklarung als unhistorisch verwerfe und auch
hier bemerke, dafi der Verfasser des Symbols den Ausdruck
?,Vateru wahrsclieinlicli nicht nach Matth. 11, 25 if. und
Rom. 8, 15 gedeutet habe. Aber eben nur ,,wahrscheinlicha
nicht. Nach dem, was ich in meiner lateinischen Abhand-
lung iiber den Ausdruck im romischen Symbol (1. c. S. 134)
ausgefdhrt habe, mufi es offen bleiben, ob nicht doch das
Wort nVater" noch evangelisch verstanden ist. Eben des-
halb habe ich hier auf das alteste Verstandnis Riicksicht
genommen, um nicht parteiisch zu erscheinen. sondern dem
Symbol alles zu lassen, was ihm geschichtlich irgend ge-
biihren konnte. Das Ausrufungszeichen aber, das mein
Gegner zu meinem Ausdruck: ,,Der Verfasser des Symbols"
gemacht hat, will ich lieber nicht verstehen; denn dafi das
Symbol oifenbart oder durch Inspiration als Zeugnis des
heiligen Greistes in der alten Kirche geheimnisvoll ent-
standen sei, kann D. Cremer nicht meinen.
7. Dem, was ich iiber ,,Gremeinschaffc der Heiligen"
ausgefuhrt habe, hatte D. Cremer eine wvorsichtigere Fas-
sung" gewiinscht (S. 13). Ich glaube, den Tatbestand kor-
rekt zum Ausdruck gebracht zu haben. Ich habe 1. be-
merkt, dafi die Entstehung und der urspriingliche Sinn
jenes Zusatzes am dunkelsten ist, 2. gesagt, dafl der Aus
druck zuerst im donatistischen Streit und bei Augustin sich
fande, und dafi man demgemafi erwarten miisse, er bedeute
auch im Symbol dasselbe wie dort, namlich eine nahere
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 277
Erklarung zu 7,heilige katholische Kirche", 3. darauf hin-
gewiesen, dafl der Ausdruck im Symbol erst in spaterer
Zeit (und zwar in Grallien) vorkomme nnd dort durch den
altesten Zeugen als »G-ememschaft mit den vollendeten
Heiligen" erklart werde. Demgemafi habe ich es for ^sehr
wahrscheinlich" gehalten, dafi die Worte im gallischen Sym
bol wirklich ,,Gremeinschaft mit den Martyrern und den
besonders Heiligen" bedeuten sollten (gegen Vigilantius)
und ursprunglich keine Explikation des Ausdrucks ,,heilige
katholische Kirche", sondern eine Fortsetzung desselben
waren. Auf die mir wohlbekannte Auslegung des Nicetas
von Romatiana bin ich nicht eingegangen, weil ich weder
iiber die Zeit noch iiber den Ort dieses Bischofs ein Urteil
besafi. Aber auch die Tatsache, dafi die Gregner der Heiligen-
verehrung z. Z. des Faustus von Reji die Worte in ihrem
Symbol gehabt haben, glaubte ich nicht erwahnen zu
durfen, da sie fur die Frage nach dem urspriinglichen Sinn
im Symbol gleichgiiltig ist; denn Faustus hat die Vereh-
rung der Heiligen und Reliquien jedenfalls lediglich ein-
getragen.
D. Cremer meint nun, die Worte konnten (miiBten)
biblisch verstanden werden, nund darum bedarf es nicht
einer Umdeutung, um sie in dem Symbol belassen zu konnen,
sondern nur desjenigen Verstandnisses, das fur alle Aus-
sagen desselben nach Augustins oben angefiihrtem Aus-
spruch iiber die Entstehung und den Willen des Symbols
mafigebend ist, namlich die uns die neutestamentlichen
Schriften an die Hand geben". Diese Worte bezeichnen
sehr deutlich den prinzipiell verschiednen Standpunkt, den
mein Gegner und ich behaupten, erstlich, sofern er sich
hier auf Augustins Meinung beruft und sie fur mafigebend
halt (s. oben S. 269 f.), das Symbol sei ein Exzerpt aus neu
testamentlichen Schriften, zweitens sofern er demgemafi den
Versuch einer historischen Erklarung der einzelnen Satze
des Symbols aus ihrer Zeit fur ubernussig, ja im Grrunde
278 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
far unstatthaft halt. Die Konsequenzen seines Verfahrens
sind uniibersehbar: selbst zugestanden, das Apostolikum
ware - - auch nocli in seinen jungs ten Bestandteilen — ein
Exzerpt aus dem Neuen Testament, diirffce man es deshalb
nach den Q-laubensiiberzeugungen der neutestamentlichen
Schriftsteller erklaren? Die Formeln der Semiarianer waren
auch Exzerpte aus dem Neuen Testament: diirfen wir sie
deshalb nach dem Neuen Testament auslegen, oder sind wir
nicht vielmehr verpflichtet, wenn wir die Dogmengeschichte
nicht uberhaupt sprengen wollen, sie nach der Theologie
des vierten Jahrhunderts zu verstehen? Die abstrakte Aus-
legung des Apostolikums nach Maflgabe der neutestament
lichen Schriften ist lediglich ein Rest der altkirchlichen
Vorstellung, dieses Symbol stamme von den Aposteln. Man
sagt das nicht mehr, aber man verfahrt so; denn durch
den Hinweis, das Symbol sei ein Exzerpt aus apostolischen
Schriften, ist augenscheinlich das Recht, bei seiner Er-
klarung von der Kirchengeschichte abzusehen, noch langst
nicht erwiesen.
8. Den eben gewonnenen Grundsatz, das Apostolikum
ist nach den neutestamentlichen Schriften zu erklaren,
wendet D. Cremer nun sofort auf die sogenannte Hollen-
fahrt an. wDie alte Kirche hat mit der Aufnahme dieses
Zusatzes nicht s andres get an als einer im Neuen Testa
ment bezeugten Tatsache einen Ausdruck gegeben, der in
seiner objektiven, rein geschichtlichen Fassung ebensosehr
dem energischen Willen der romischen Kirche entspricht
[aber aus dieser Kirche stammt der Zusatz nicht], alle lehr-
haft gehaltenen antiharetischen (theologischen) Zusatze aus-
zuschliefien, als in seinem Lapidarstil alien iibrigen Aus-
sagen vollkommen ebenbiirtig ist."
Ich hatte gehofft, dafi D. Cremer wenigstens an diesem
exponierten Punkte einer geschichtlichen Betrachtung Raum
geben wurde; aber auch hier ist sie ausgetilgt. Erstlich be-
zeugt das Neue Testament mindestens eine vor der Wieder-
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 279
erweckung Christi geschehene Hollenfahrt nirgends; zwei-
tens — selbst diese „ Tatsache" vorausgesetzt — vermag
auch D. Cremer uber sie nur zu sagen, dafl der Zusatz nin
seinem Lapidarstil alien iibrigen Aussagen vollkommen eben-
biirtig ist". Ja wenn es nur auf den Lapidarstil ankame —
dafi die Tatsache selbst alien iibrigen Aussagen ebenbiirtig
ist, scheint auch D. Cremer hier nicht behaupten zu wollen.
Was geht uns dann aber die Grleichheit des Lapidarstils
an! D. Cremer fahrt fort: ,,Was die alte Kirche sich bei
dieser Aussage gedacht hat, ob sie mehr an Eph. 4, 8 — 10;
Koloss. 2, 15 (?) oder wie Rufinus daneben auch an 1. Petr.
3, 19 f.; 4, 6 gedacht hat, interessiert die Dogmenge-
schichte, uns aber insoweit, als wir bei jedem Punkte des
Bekenntnisses unterscheiden miissen zwischen der damit
beabsichtigten Reproduktion apostolischer Bezeugung von
Tatsachen und tatsachlichem Sachverhalt einerseits und
dem in der damaligen Christenheit vorhandnen Verstand-
nis andrerseits." Also die nackte Tatsache soil damals, als
der Zusatz entstand, und jetzt gelten, sie soil fur den
Grlauben mafigebend sein — dazu eine Tatsache, die jeder
anders versteht! Und warum soil sie mafigebend sein? Hatte
wohl irgend ein evangelischer Christ sie fur eine mafi-
gebende wHeilstatsache" gehalten, wenn es nicht einigen
Bischofen vor funfzehnhundert Jahren gefallen hatte, sie
in ihr Taufsymbol aufzunehmen ? Nein — diese „ Tat
sache" wird lediglich (und dies in evangelischen Kirchen!)
deshalb fur mafigebend gehalten, weil sie im Apostolikum
steht, wobei jeder allerdings auch von Kirchen wegen die
Freiheit hat, iiber sie zu denken, wie er will! Ist dies evan
gelischer Grlaube und nicht vielmehr der purste Formel-
glaube, iiber den wir uns sehr erhaben diinken, wenn wir
z. B. iiber die griechische Kirche mit ihrem traditionellen
Glaubensritualismus urteilen? Photius wird gescholten, weil
er den Abendlandern nicht nur das filioque vorwarf, sondern
es ihnen als die grofiere Haresie anrechnete, dafi sie am
280 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
heiligen Symbol eine Veranderung vorgenommen hatten:
sind wir denn in den evangelischen Kirchen tausend Jahre
spater, trotzdem uns Luther wieder gelehrt, was G-laube sei,
wirklich weiter gekommen?
9. D. Cremer hat sub 7 und 8 die Notwendigkeit einer
Umdeutung des symbolischen Ausdrucks abgelehnt: nichts
sei umzudeuten; denn ans dem Neuen Testament empfange
alles seine rechte Dentung. Aber wie steht es mit der
„ Auferstehung des Fleisches"? Hier raumt D. Cremer ein:
wDer Ausdruck als solcher deckt sich nicht bloJJ entschieden
nicht mit der apostolischen , speziell Paulinischen Verkiin-
digung, sondern steht rein formell betrachtet im Wider-
spruch mit derselben. Die Abweichung dieses Artikels
von dem apostolischen Zeugnis notigt zu der Frage, ob
die Kirche sich dadurch in Widerspruch hat setzen wollen
mit der apostolischen Predigt, oder ob sie unbewuflt sich
in solchem Widerspruch befunden hat." Soweit ist alles
korrekt, und ich freue mich, daB D. Cremer den Tatbe-
stand so bestimmt zum Ausdruck gebracht hat. Er er-
klart nun die fraglichen Worte fiir einen ,,ungeschickten
Ausdruck" dessen, was unabweisbarer Bestandteil der
apostolischen Verkiindigung ist; sachlich liege kein "Wider
spruch vor. Im wesentlichen bin ich hier mit ihm einig,
wenn auch nicht ganz (im zweiten Jahrhundert legte man
wirklich auf die Auferstehung des Fleisches, der Knochen
und Haut das grofite Grewicht). Doch das mag auf sich
beruhen. Nur zieht D. Cremer die Konsequenz nicht, die
er selbst aufgedeckt hat, dafl der Ausdruck entweder umzu
deuten oder zu tilgen ist.*) Allerdings verwahrt er sich
*) D. Cremer schreibt: ,,Die Angabe [Harnacks], dafi viele Zeug-
nisse der altern Zeit statt Auferstehung des Fleisches ,, Auferstehung"
oder ,,ewiges Leben" bieten, ist nicht korrekt." Aber diese Angabe ist
ganz korrekt. D. Cremer hat wohl an Symbole gedacht und dort die
fraglichen Worte nicht haufig gefunden; ich aber sprach von ,,Zeugnissen".
Nach dem Zusammenhang meiner Worte muBte es deutlich sein, daB
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 281
hier auch nicht ausdriicklich gegen den Gredanken einer
Umdeutung wie zu 7 und 8. Also gibt er an diesem
Punkte dock einen gewissen Mangel des Symbols zu.
10. Das von mir iiber die Himmelfahrt Ausgefiihrte
bestreitet D. Cremer S. 18 — 22. Er schreibt: ,,Nicht ein
Ergebnis historischer Forschung, sondern prinzipieller Kri-
tik 1st es, dafi die Differenzierung zu mehreren Akten
( Auf erweckung , Himmelf akrt , Sitzen zur Rechten) einer
spateren Zeit angehort. Mit den neutestamentlichen Schrif-
ten -- und dies ist hier die Hauptsache — steht sie keines-
wegs in Widerspruch."
Dafi die Himmelfahrt mit den neutestamentlichen Schrif-
ten ,,in Widerspruch" stehe, habe ich nicht behauptet; auch
die prinzipielle Kritik ware hier sehr am Platze; aber ich
habe sie nicht angewendet. Was ich behauptet habe, hat
D. Cremer nicht erschuttert, namlich dafi die Himmelfahrt
in der altesten Verkiindigung kein besondres Grlied gebildet
hat, und dafi es sich auf geschichtlichem Wege wahrschein-
lich machen lafit, dafi sie nicht zur urspriinglichen Ver
kiindigung gehorte.*) Ich habe mich dafur erstlich auf
das Fehlen derselben in den drei ersten Evangelien, in dem
ersten Korintherbrief, in den Briefen des Klemens, Ignatius
und Polykarp und im Hirten des Hermas berufen. Hier
beanstandet D. Cremer, dafi ich die Himmelfahrt auch im
Lukasevangelium vermisse. Er schreibt: ,,Dafi auch der
Schlufi des Lukasevangeliums ein spaterer Zusatz sei, hat
bis jetzt die Textgeschichte nicht bewiesen [habe ich auch
nie behauptet]. Ich vermute, dafi Harnack etwas andres
diese Zeugnisse nicht in Symbolen, sondern in den altesten Schriften
zu suchen sind.
*) Ich habe mich tibrigens so behutsam wie moglich ausgedriickt
und die ErOrterung dieses Punktes mit den Worten (a. oben S. 246) be-
gonnen: ,,Nicht sicher zu fassen, aber doch nicht zu tibergehen ist
noch eine Abweichung von der altesten Predigt, es ist die besondre
Hervorhebung der Himmelfahrt."
282 Brster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
im Sinne hat als textgeschichtliche Forschung, namlich
Quellenforschung. Oder sollte es sich urn eine neue, bislier
nicht bekannt gegebene Entdeckung auf dem G-ebiete der
Textgeschichte handeln?" Um eine alte Erkenntnis handelt
es sich, die D. Cremer wohl nur augenblicklich entf alien
ist. Ein Blick anf eine kritische Ansgabe des ISTeuen Testa
ments, anf Tischendorfs Octava oder anf Westcotts nnd
Horts Edition, wird ihn daran erinnern, dafi die Worte in
Lnkas 24, 51: xai avecpspero etc oupavo'v — das einzige Zeug-
nis der Himmelfahrt in diesem Evangelinm — in den Aus-
gaben als spaterer Znsatz getilgt sind. Sie sind zwar re-
lativ gnt bezengt nnd jedenfalls sehr alt, aber da Sinaiticus
(erste Hand), viele lateinische Zengen nnd Angus tin sie
nicht bieten, so ist kein Verlafi anf sie. In Bezug anf
Panlns (1. Kor. 15) bemerkt D. Cremer: wDafi Panlus den,
der auferstanden und den Jungern erschienen ist, als den
nnnmehr znr Rechten Q-ottes Erhohten weifi, schliefit die
Entriicknng des durch die Auferstehung in das Leben nnd
zn den Seinen Znrnckgekehrten ein, nnd dafi diese Ent-
riickung identisch sein soil mit der Anferstehung, ist nicht
Ergebnis historischer Forschung, sondern eine Hypothese,
welche in prinzipieller Beurteilung nnd Kritik der Tat-
sachen der Geschichte Jesu ihre Wurzel hat." Dnrch diese
Bemerknng wird die Streitfrage verschoben: nicht darum
handelt es sich, was sich Paulus implicite oder explicite ge-
dacht, sondern darum, ob er die Himmelfahrt neben der Auf
erstehung besonders erwahnt hat. Das hat er nicht getan,
und deshalb ist es eine einfache Eintragung, wenn man be-
hauptet, er miisse nm eine leibliche Himmelfahrt (um diese
handelt es sich, nicht um irgend eine ,,Entruckung") ge-
wufit und diese fur eine ^Heilstatsache" gehalten haben.
Zweitens hatte ich mich auf das Zeugnis des Barnabas-
brief es berufen, der Auferstehung und Himmelfahrt auf
einen Tag verlegt. D. Cremer erwidert: ^Wenn dies nn-
zweifelhaft die Meinung der Stelle 15, 9 ware, so wiirde
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 283
es eine absolut vereinzelte Annahme des Verfassers sein,
gegen die geltend gemacht werden muG, dafi nirgends im
kirchlichen Altertum der Sonntag zugleich als Feier der
Himmelfahrt erscheint. Greschichtlichen "Wert hat diese
Notiz eben wegen ikrer Verbindung mit der Sonntagsfeier
nicht einmal als Uberbleibsel einer abweichenden Tradition."
Demgegeniiber bemerke ich: 1. D. Cremer hat nicht ange-
geben, wie man die Stelle im Barnabasbrief anders ver-
stehen kann; 2. vereinzelt ist die Nachricht nicht (s. jetzt
auch das Petrusevangelium ; noch anderes kommt in Be-
tracht), aber die Angabe der Apostelgeschichte, Jesus sei
vierzig Tage nach der Auferstehimg gen Himmel gefahren,
ist vereinzelt; 3. dafi im Altertum nirgends der Sonntag
als Festtag der Himmelfahrt erscheint, ware nur dann ein
xiennenswertes Argument, wenn es in der altern Zeit iiber-
haupt einen Festtag der Himmelfahrt gegeben hatte. G-anz
besonders verachtlich behandelt D. Cremer meinen Hinweis
darauf, dafi in alten Zeugnissen achtzehn Monate zwischen
Auferstehung und Himmelfahrt gelegt werden. Er neniit
ihn ,,eine Mitteilung, die wie nur eine die Unkundigen zu
verbliiffen imstande istu; denn ich hatte ^es unterlassen,
dasjenige mitzuteilen, was den Wert dieser Notiz zur G-e-
niige charakterisiert , namlich daC sie gnostischen Kreisen
entstammt und mit gnostischen Spekulationen iiber Aonen-
reihen zusammenhangt (Iren. I, 8, 2; 30, 14)". Allein dem-
gegeniiber ist zu sagen: 1. Dafi die Angabe mit Speku
lationen iiber Aonenreihen zusammenhangt, ist nicht er-
wiesen; 2. geschichtliche Nachrichten sind damit noch
nicht als fur die grofie Kirche unerheblich diskreditiert,
dafi wir sie in gnostischen Kreisen antreffen, am wenigsten
wenn diese Kreise valentinianische waren; 3. dafi diese
Nachricht gnostischen Kreisen entstammt, ist ungewifi, ja
unwahrscheinlich: sie findet sich namlich keineswegs nur
dort, wo D. Cremer sie angetroffen hat, namlich bei dem
Valentinschuler Ptolemaus und den Ophiten, sondern auch
284 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
in der „ Himmelfahrt des Jesajas" (und hochst wahr-
scheinlich bei dem Valentinschiiler Herakleon). Alles, was
D. Cremer sonst noch beibringt, um die Himmelfalirt als
einen urspriinglichen Bestandteil der altesten Verkiindigung
zu erweisen, sind verstandige Erwagungen dariiber, dafi
eine leibhaftige Auferstehung eine Himmelfahrt fordere,
und dafi diese deshalb von Anfang an ein besondres Stiick
des Glaubens gebildet haben miisse; aber D. Cremer ersetzt
damit nur das fehlende geschichtliehe Zeugnis : Auferstehung
und Erhohung sind in der altesten einhelligen Verkiindigung
nachweisbar , nicht aber Auferstehung und Himmelfahrt.
Die Wolke von Zeugen aus dem Neuen Testament, die
niein G-egner S. 21 f. glaubt anfuhren zu diirfen, bitte ich
genau zu priifen; man wird finden, daU sie fur die von mir
scharf gestellte Frage belanglos sind. Es bleibt also dabei,
dafi man aus historischen Grriinden sich genotigt sieht, zu
erklaren: Die Himmelfahrt hat nicht wie der Kreuzestod
und die Auferstehung von Anfang an ein besondres Stiick
in der Verkiindigung von Christus gebildet, so gewifi man
von Anfang an von einer Erhohung oder von einer Riick-
kehr Christi zum Vater gesprochen hat.
11. Ich komme schliefilich zu dem Hauptstiick, der
Greburt aus der Jungfrau. Die Art, wie D. Cremer hier
die Kontroverse gefiihrt hat, kann ich nur tief bedauern.
Erstlich will er auch hier eine historisch-kritische Frage
iiberhaupt nicht wahrnehmen und hat fur das Gewissen
des Historikers keine Nachempfindung, zweitens spielt er
die ganze Frage sofort auf das G-ebiet der Christologie und
zwar der Praexistenz iiber. Ich bin diese "Weise der Pole-
mik von der groCen Zahl meiner Gegner her gewohnt;
aber es befremdet mich, auch D. Cremer in ihren Heihen
zu sehen. Ich hatte mich zu ihm eines Bessern versehen;
denn diese Verschiebung der einfachen Fragestellung ist
historisch und theologisch betrachtet verwerflich. Histo-
risch aber ist sie doppelt verwerflich; denn noch ist das
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 285
Urteil nicht widerlegt, dafi die Vorstellung von der person-
lichen Praexistenz Christ! und die Vorstellung der Ent-
stehung des Grottessohns aus wunderbarer Einwirkung des
heiligen Greistes auf eine Jungfrau urspriinglich zwei ver-
schiedene, sich widersprechende tlberzeugungen oder sich
widersprechende Versuche sind, das wunderbare AVesen
Jesu zu entschleiern. Nachtraglich kann man ja wohl
durch dogmatische Kunst beide Anschauungen mitein-
ander vereinigen, wie sie in der Tat bald vereinigt worden
sind; aber wie sie nrspriinglich verschieden sind, so sind
sie es auch in der Sache. Wer an der Praexistenz Christi
festhalt, der kann nicht glanben, dafi der Sohn Grottes
durch das Wirken des heiligen Greistes in der Jungfrau
erst geworden sei, und wer an dieses Grewordensein durch
den heiligen Geist glaubt, der gibt damit die Praexistenz
in realistischem Sinne preis. Aber auch wenn es anders
ware — und geschichtlich ist es ja anders geworden — ,
wo liegt das Recht, das Dogma von der Jungfrauenge-
burt so zu verteidigen, dafi man zur Verteidigung der Pra
existenz iibergeht? Ich vermag hierin nur die Yerhullung
einer Schwache zu sehen. Urn das physiologische Wunder
der Jungfrauengeburt handelt es sich beim Wortlaut des
Apostolikums, und zunachst urn nichts andres. Mit jenem
Wunder wird eine geschichtliche Tatsache behauptet, und
solche Tatsachen unterliegen der geschichtlichen Klritik.
Ich verstehe es daher nicht, wie D. Cremer sagen kann,
die Frage sei keine historische Frage. In Wahrheit kann
auch er nicht umhin, nachdem er eine langere dogmatische
Digression gemacht hat, auf die Frage als auf eine histo
rische einzugehen. Die fiinf Grrunde, die ich beigebracht
habe, vermag er nicht zu entkraften; denn die allgemeine
Bemerkung: ^die Menge der Grimde steht in der Regel
in umgekehrtem Verhaltnis zu ihrer Beweiskraft, " ware
eine sonderbare Entkraftung. D. Cremer zieht sich viel-
mehr darauf zuriick, dafi das nempfangen vom heiligen
286 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
Greist, geboren von der Jungfrau Maria" sachlich begriindet
sei, und dafl die Frage, aus welcher Quelle die beiden
Evangelien dies geschopft haben, fur die Sache niehts
austrage. Wenn er sich gegeniiber einer erzahlten ge-
schichtlichen Tatsache und noch dazu einer wunderbaren
und noch dazu einer solehen, deren Quelle man nicht
kennt — ich glaube sie allerdings zu kennen: Jesaj. 7,
14 — , wirklich damit beruhigt, daJJ sie ?,sachlichu be
griindet sei, und sie deshalb fur zuverlassig hinnimmt, so
lafit sich dazu nichts bemerken. Doch bleibt auch auf
diesem Standpunkte die Frage eine historische; D. Cremer
lost nur die historische Frage durch eine dogmatische
Erwagung, die ihm so sicher ist wie ein historisches Zeug-
nis, ja sicherer als ein solches. Auf diesem Wege vermag
ich ihm nicht zu folgen.*) Hier eiithullt sich ein G-egen-
satz des Grlaubens, der Methode und der Kritik, der eine
genauere Darlegung erheischt. Ich versuche sie im fol-
*) In welchem Mafie D. Cremer der bestimmten Frage, die Jung-
f rauengeburt betreffend, ausgewichen ist, zeigt f olgender Satz auf S. 29
nSollte aber ein Ausdruck in Harnacks jiingster Schrift, was ich nicht
annehme, dahin zu verstehen sein, daB der Satz »empfangen vom
heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria « in der Verkiindigung
Jesu selbst nicht zu finden sei, so miiBten zunachst Worte wie Joh. 8,
58; 16,28; 17, 5 aus der Welt geschafft werden, ehe diese Behauptung
aufrecht erhalten werden kOnnte." Allein an den drei Stellen, die
D. Cremer hier aufgefiihrt hat, ist von der Jungfrauengeburt schlechter-
dings nicht die Rede. Die erste lautet: MEhe denn Abraham ward, bin
ich"; die zweite: ,,Ich bin vom Vater ausgegangen und gekommen in
die Welt," und die dritte: ,,Vater, verklare mich bei dir selbst mit der
Klarheit, die ich bei dir hatte, ehe die Welt war." Man kann sich
glaubig zu dein Inhalte dieser Stellen bekennen und doch die Geburt
aus der Jungfrau, die sie nicht enthalten, dahingestellt sein lassen.
Yon der Geburt ohne Zutun eines Mannes spricht Johannes tibrigens
an einer Stelle wirklich — D. Cremer hat diese Stelle auffallenderweise
nicht angefiihrt. Hier fafit der Evangelist eine solche Geburt als ein
Bild und behauptet, alle Gottes-Kinder seien so geboren (1, 13): ,,nicht
von dem Gebliit, noch von dem Willen des Fleisches, noch von dem
Willen eines Mannes, sondern von Gott."
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 287
genden zu geben, nachdem ich im vorstehenden alle Ein-
wiirfe widerlegt zu haben glaube, die D. Cremer gegen
meine Ausfiihrungen im einzelnen gerichtet hat.
2. Die prinzipiellen Satze D. Cremers.
Alle Nebenfragen mogen hier beiseite bleiben. Ich
halte mich an die drei Satze D. Cremers, die ich oben auf-
gefiihrt habe, und die er selbst als den entscheidenden In-
halt seiner Schrift hervorgehoben hat. Ich will dabei das
Mafi der Ubereinstinmmng, das zwischen uns besteht, be-
zeichnen; denn sonst ist jeder Kampf fruchtlos.
1. Der erste Satz lautete: ?,In dem gegenwartigen
Streite um das apostolische Grlaubensbekenntnis handelt es
sich weder um neue Ergebnisse, noch iiberhaupt um Ergeb-
nisse historischer Forschung."
Dafi es sich nicht um neue Ergebnisse handelt, habe
ich selbst von Anfang an ausgesprochen , und es mogen
daher auch hier meine Arbeiten iiber das apostolische Symbol
im zweiten Jahrhundert beiseite bleiben. Andre mogen
dariiber urteilen, ob sie "Wertvolles enthalten. Aber um so
bestimmter muC ich es aussprechen: es handelt sich bei
dem Streite um Ergebnisse historischer Forschung. Der
Streit ist auf ein andres Gebiet hiniibergespielt worden,
weil man es iiberhaupt nicht zugeben will, dafi die ge-
schichtliche Erkenntnis in der Religion — auch zu ihrer
Berichtigung — eine Rolle spielt, und es doch auch nicht
offen in Abrede stellen darf. Hier liegt die ganze Schwierig-
keit unsrer gegenwartigen Situation. Bis zum achtzehnten
Jahrhundert begriindete man die Religion aus der Uberliefe-
rung ; im achtzehnten aus der Vernunft, in der ersten Halfte
des neunzehnten aus der Spekulation — die G-eschichte spielte
hier uberall letztlich nur die Rolle der Magd; denn immer
288 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
kannte man hohere Instanzen, vor denen sie zuriickzutreten
habe. Was ein Kardinal offen auszusprechen den Mut
hatte: ^Man mufi die Greschichte dureh das Dogma auf-
heben", das war nnd 1st fiir Tausende die selbstverstand-
liche Richtschnur ihres Verfahrens. Aber langsam hat sich
die Frage: ,,Was ist geschichtliche Wirklichkeit gewesen?"
und die Einsicht, dafi diese Frage nur mit geschiclitlichen
Mitteln zu beantworten ist, Bahn gebrochen. Nun kann
man sie nicht mehr totschlagen. So wenig die Methode
reiner Erkenntnis der Natur durch Naturphilosophie ersetzt
werden kann, so wenig kann die Einsicht, dafi die G-e-
schichte der geschichtlichen Erkenntnis gehort, mehr ge-
raubt werden. Die Religion, sofern sie mit einer Greschichte
in der "Welt steht, macht davon keine Ausnahme. Darum
sind Satze wie die: ,,gehorte die Himmelfahrt Jesu der
urspriinglichen christlichen Verkiindigung an?", nwie sind
die Zeugnisse fur sie beschaffen?", ,,auf welchen Grrundlagen
ruht die Uberlieferung, dafi Jesus nicht Josephs Sohn ge
wesen sei," unzweifelhaft historische Fragen, die nur auf
historischem Wege gelost werden konnen. Sagt die ge-
schichtliche Untersuchung — vorausgesetzt, daC sie sich
nicht irrt — , dafi die Zeugnisse unsicher und unzureichend
sind, so kann keine Kunst, keine Philosophie, keine Dogmatik
sie sicher und zureichend machen; denn die Fahigkeit ist
keinem Menschen geschenkt, eine Tatsachenfrage a priori
zu entscheiden. Der romische Stuhl hat sich zwar auch
diese Fahigkeit angemafit; aber er hat sich uberhaupt ins
tibermenschliche gestellt. Jene Fragen aber sind die eigent-
lichen Hauptfragen in dem gegenwartigen Streit. Also
handelt es sich bei ihnen um historische Fragen und bei
ihrer Beantwortung um Ergebnisse historischer Forschung.
Jede andre Antwort ist unstatthaft. Ich kann auch nicht
finden, dafi D. Cremer wirklich Ernst damit macht, jene
Fragen aus der Greschichte auszuweisen; denn tate er das,
so mufite er auch von den biblischen Zeugnissen absehen
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 289
und, wie gewisse Hegelianer, die Fakta einfach konstruieren.
Dazu hat er wohl einen schiichternen Ansatz bei der Jung-
frauengeburt gemacht; aber auch nicht mehr. Also soil
letztlich doch das geschichtliche Zeugnis gelten, d. h. die
Geschichte, und die Frage ist nur die, ob das Zeugnis
vollgiltig ist oder nicht. Dafi aber geschichtliche Zeugnisse
nur nach einer Methode gepriift werden konnen, und dafl
eine Kritik, die in der Mitte anhebt oder plotzlich Halt
macht, eine Kritik unter der Kritik ist, wird D. Cremer
gewifi selbst bekennen.
Seinem ersten Satze stelle ich daher den Satz gegen-
iiber: In dem gegenwartigen Streit um das apostolische
Glaubensbekenntnis handelt es sich um das Recht der ge-
schichtlichen Forschung, in der Kirche zugelassen und ge-
hort zu werden. Wird dieses Recht negiert, so wird das
Recht der Reformation negiert; denn diese, die aus dem
Glauben und der Kritik an der Uberlieferung geboren ist,
ware in diesem Fall eine beklagenswerte Revolution ge-
wesen.*)
2. Der Streit ist wider meine Absicht auf das Gebiet
des Glaubens hiniibergespielt word en, und ich folge dem.
Der zweite Satz D. Cremers lautet: ,,Denn die Frage nach
der Person Christi oder die Frage, wer und was Jesus ist,
kann nimmermehr auf dem Wege und mit den Mitteln
historischer Forschung entschieden werden."
Diesen Satz mufi ich zu den gefahrlichen, halbwahren
Satzen rechnen, vor denen man sich hiiten sollte. So wie
*) In den neutestamentlichen Einleitungen , in den Kommentaren
zu Matthaus und Lukas und in dem nLeben Jesu" ist die Greschichtlich-
keit der Erzahlung von der Jungfrauengeburt unzahlig oft in den
letzten fiinfzig Jahren bestritten worden, und es gab nicht mehr Anlafl
zu einer kirchlichen Erregung. Wenn dieselbe Erzahlung aber in An-
kniipfung an das Apostolikum bestritten wird, erhebt sich ein Sturm.
Wie soil man die Tatsache deuten? Soil es eine doppelte Wahrheit
geben? oder soil man in der evangelischen Kirche die geschichtliche
Erkenntnis verhullen?
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. I, 19
290 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
er lautet und in alien seinen Konsequenzen durchdacht,
kann ihn nur entweder der Schwarmgeist oder der Katho-
lik oder ein spekulativer Religionsphilosoph (Hegelscher
Farbung) vertreten. Der Schwarmgeist braucht die Gre-
scliiclite nicht; denn er schopft alles aus innerer Offen-
barung. Der Katholik kann sie entbehren, denn er halt
sich an das Christusbild , welches die Kirche ihm zeigt,
und vertraut darauf, dafi die Autoritat der Kirche die
"Wahrheit des Bildes garantiere. Der spekulative Religions-
philosoph endlich kann die Greschichte dahinten lassen, denn
wenn er die Moglichkeit und Notwendigkeit der Idee der
Grottmenschheit konstruiert hat, ist er beruhigt. Aber wir
evangelische Christen brauchen die Greschichte; denn wir
wollen keinen andern Christus, und kein andrer kann uns
helfen, als der wirkliche, geschichtliche Christus, dessen
"Wort wir noch eben vernehmen, und dessen Ziige wir in
unser Herz aufnehmen konnen. Wir haben ihn kennen
und lieben gelernt aus der Verkiindigung unsrer Kirche;
aber wenn wir nun zur Miindigkeit erwachen — wem wird
die Frage erspart: Weifit du auch, an wen du glaubst?
und kannst du davon iiberzeugt sein, dafi er so ist, wie
du ihn glaubst? Es gibt viele lautere und treue Christen,
die nie zu dieser Frage kommen:- sie haben durch Christus
den Zugang zu ihrem Grott gefunden und wissen sich ge-
borgen. Aber wie steht es mit den andern? Diirfen wir
ihnen die Frage abschneiden? und haben wir einen andern
Weg, auf den wir sie weisen konnen, als den: Forschet
seinem Selbstzeugnis nach und prufet, was seine Zeugen
von ihm gesagt und welche Wirkungen sie von ihm er-
fahren haben; euer Streben, den wirklichen Christus zu er-
fassen, ist recht und gut; erstickt es nicht durch irgend-
welche Beruhigungen und Beschwichtigungen , die ihre
Kraft doch bald wieder verlieren.
Und so sollen sie Christus als ihren Herrn finden?
Nein, gewifi nicht. Hier weifi ich mich mit meinem Q-egner
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 291
einig, wenn er sagt: ,,Nicht der historischen Forschung
kommt es zu, das letzte Wort iiber Christus zu sprechen."
Nur wiirde ich mich anders ausdriicken. Nicht um das
letzte Wort handelt es sich, sondern um ein ganz neues
Wort. Innerhalb der geschichtlichen Frage kann nur die
geschichtliche Untersuchung Aufschlufl geben: versagt sie,
so versagt hier uberhaupt alles. Aber dafi dieser Christus,
wie ih.n die Geschichte vorstellt, als mein Herr und Erloser
geglaubt und ergriffen wird, das bringt gewifi keine ge-
.schichtliche Erkenntnis zuwege, sondern hier gilt, was
Luther im Eingang der Erklarung des dritten Artikels
gesagt hat, und was der Apostel noch kiirzer zusammen-
gefaflt hat: ,,Niemand kann Jesum einen Herrn heifien
ohne durch den heiligen Geist." Ein Christenmensch ist
ein Mensch, der die Erfahrung gemacht hat: ,,An mir und
meinem Leben ist nichts auf dieser Erd; was Christus mir
gegeben, das ist der Liebe wert." Diese Erfahrung liegt
iiber allem Zwang, den geschichtliche Erkenntnis ausiibt.
Aber, wie unsre Bekenntnisschriften sagen, der heilige
Geist wirkt durch das Wort, d. h. durch die Predigt von
Christus. Nun ist's gewifi mit diesem Wort so herrlich
bestellt, dafi schon ein Strahl aus ihm einen Menschen er-
greifen und aus der Zerstreuung und dem selbstischen
Wesen zur Umkehr und zu Gott fuhren kann. Aber die
christliche Gemeinschaft kann auf die Dauer nur bestehen
und gesund bleiben, wenn das Wort lauter und rein ge-
predigt wird. Lauter und rein — es gab eine Zeit, in der
diese Forderung erfullt schien, wenn man Bibelstellen zu-
sammenstellte und sie nach der analogia fidei erklarte.
Heute ist es nicht mehr so. Wir haben gelernt, was Ge-
schichte ist und geschichtliche Zeugnisse. Deshalb hat die
Forderung, dafi man auf festem Boden stehen miisse, einen
andern Sinn als friiher. Wir denken heute bei n lauter und
rein" auch, ja in erster Linie, an ,,geschichtlich zuverlassig a ;
sonst ist uns alles dahin. Damit sind wir wieder bei der
19*
292 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
Geschichte und der reinen Erkenntnis der Geschichte; wir
werden sie niclit los, und sie lafit uns niclit los; denn wir
wollen niclit von unsern Gedanken oder von falschen Tat-
sachen leben, sondern von dem, was gewiO ist. Das ist
der Grand, warum wir geschichtliche Kritik iiben — auch
aus einem entscheidenden Interesse des Glaubens geschieht
es. D. Frank freilioh meint, ,,wir schielten angstlich hin-
iiber auf den wirklichen oder vermeintlichen Wahrheits-
besitz der natiirlichen Erkenntnis". Wir schielen nicht
blofi hinuber, sofern er ein wirklicher ist, sondern wir fassen
ihn fest ins Auge, weil wir gewifi sind, daft alle Wahrheit,
auch die ,,naturliche", von dem Gott der Wahrheit stammt
und keine Wahrheit ungestraft uberhort wird. Auf die
merkwiirdige Vorhaltung D. Cremers aber, der 7,Historizis-
mus" sei nur eine andre Form der romischen Methode, die
alle diejenigen, die der wissenschaftlichen Forschung nicht
zu folgen und sie nicht zu kontrollieren vermogen, zur
fides implicita verdamme und nur der geistigen Aristokratie
eine fides explicita ermogliche; das Christentum sei aber
keine Religion fur die Aristokratie der Theologen, und die
Frage: was diinket euch urn Christo? konne von jedem,
der nur guten Willens ist, entschieden werden — erwidere
ich, dafi D. Cremer auf keine Weise den Unterschied ver-
schiedener Stufen christlicher Erkenntnis aus der Welt
schaffen kann, dafi er aber hier ganz Disparates in eins
gesetzt hat. Ware die christliche Eeligion nichts andres
als Glaube an eine geschichtliche Person, so hatte er
freilich recht: der vollkommene Historiker ware der voll-
kommene Christ; aber sie ist Religion. Sie hat es deshalb
letztlich mit nichts andrem zu tun, als dafi die Seele ihren
Gott finde und ihn halte. Das Wort: nDu Herr hast uns
auf dich hin geschaffen, und unser Herz ist unruhig, bis
es Ruhe findet in dir", gilt von alien Menschen. Findet
ein Mensch durch ein Wort, das ihm in die Seele failt,
den lebendigen Gott, erlebt er in sich durch die Gnade
Ant wort auf die Streitsohrift Cremers. 293
G-ottes, wie sie in der christlichen Gemeinschaft verkundigt
wird, jene Umkehr, die ihn aus der Sclmld und dem elen-
den Treiben der "Welt herausfuhrt, und halt er sicli nun
zu Gott als seinem Vater und dem Fels seines Lebens, so
ist er ein Christ, mag seine Kenntnis von Christus noch
so unvollkommen sein. Ein Religionslehrer in Worten
wird er vielleicht nicht sein konnen trotz seiner fides ex-
plicita; aber sein Leben wird eine deutliche und kraftige
Predigt sein. In Summa: der Unterschied von fides ex-
plicita und implicita wird, auf die Religionslehre gesehen,
immer bestehen bleiben; aber im evangelischen Sinn hat
auch das kananaische Weib nicht die fides implicita, son-
dern den rechten Glauben besessen. Aber nur der ^Histori-
zismus" schiitzt unsre Kirche davor, dafi ihr Glaube nicht
von Schlinggewachsen iiberwuchert wird ; der einzelne
Christ, auf den verschiednen Stufen der Erkenntnis und
Bildung, kann auch unter dem Schutt von hundert falschen
Uberlieferungen und Lehren, die er fur wahr halt, ein
freies Gotteskind werden und bleiben, wie er umgekehrt,
ohne Verstandnis for den ganzen E/eichtum religioser Er
kenntnis, von einem Worte Gottes zu leben vermag. Dem
zweiten Satze D. Cremers stelle ich daher den Satz gegen-
tiber: Die Frage, wer und was Jesus ist, kann — wenn
die kirchliche Uberlieferung iiber ihn an irgend einem
Punkte erschiittert ist — nur auf dem "Wege und mit den
Mitteln historischer Forschung festgestellt werden; aber die
"Uberzeugung , dafi dieser geschichtliche Jesus der Erloser
und der Herr ist, folgt nicht aus der geschichtlichen Er
kenntnis, sondern aus der Siinden- und Gotteserkenntnis,
wenn ihr Jesus Christus verkiindigt wird.
3. Der dritte Satz D. Cremers lautete: ,,Ist das die
eigentliche Frage, wer und was Christus sei, so richtet
sich nach ihrer Entscheidung auch die Kritik des Symbols".
In diesem Satz, der das Ergebnis aus den beiden ersten
zieht, wird das Symbol, das doch eine historische Urkunde
294 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
1st, aus aller Zeit herausgehoben. Es soil als ein Bekenntnis
betrachtet werden, das vollstandig und rein verkiindigt,
was das Evangelium sagt, einerlei, ob das wirklich mit
dem historischen Befunde des Symbols stimmt. Dafi ich
ein solches Verfahren geschichtlich nicht fur statthaft halte,
habe ich bereits ausgef'iihrt. Unter dieser Bedingung konnte
man sich auch auf das Tridentinum verpflichten lassen.
Aber diese Seite der Sache mag hier auf sich beruhen; ich
gebe sogar zu, dafi, solange wir nicht ein kurzes evan-
gelisches Bekenntnis haben, es — innerhalb des praktischen
G-ebrauchs — angezeigt ist, Luther zu folgen und das
Symbol evangelisch zu verstehen. Aber D. Cremer macht
von dieser kirchengeschichtlichen Erlaubnis einen sehr weit-
gehenden Grebrauch, indem er die Praexistenz Christi als
den Hauptinhalt des Symbols erscheinen lafit, und indem
er andrerseits den Gregnern ein bereits formuliertes Symbol
unterschiebt, um mit der triumphierenden Frage zu enden:
,,Wird man dann noch wagen zu bekennen: ich glaube an
eine Vergebung der Siinden und ein ewiges Leben?" "Uber
jenes noch ein kurzes Wort; iiber das erfundene Symbol
mochte ich schweigen, da dieses Symbol nicht meines ist.
Die Praexistenz — ich erklare zunachst offen, dafi es
mir schwer wird, dariiber zu schreiben, zumal in einer
Streitschrift. Einen Spruch, wie den: ,,Selig sind die reines
Herzens sind; denn sie werden Grott schauen" zu bedenken,
ist mehr wert als alle theologischen Erwagungen iiber die
Praexistenz. Auch hat Jesus Christus nicht das Greheimnis
seiner Person in den Mittelpunkt des Evangeliums gestellt,
sondern Grott den Vater und sich selbst, wie er mensch-
lichem Auge und Ohr und menschlichem Sinn zuganglich
war. Und die Seligkeit hat er denen zugesprochen , die
den Willen seines Vaters im Himmel tun, nachdem sie den
Vater am Sohne erkannt haben. Dennoch bin ich weit
entfernt, gering von den Gedanken zu denken, die in der
Vorstellung von der „ Praexistenz" einen Ausdruck gefunden
Ant wort auf die Streitschrift Cremers. 295
haben. Sie fuhren bis in das innerste Heiligtum der Reli
gion hinein.
Es handelt sich hier aber nicht um ein historisch.es
Urteil - - mit der gemeinen Greschichte hat die Frage gar
nichts zu tun — , auch nicht um ein Urteil aus der Region
des Verstandes, sondern um ein Urteil des Grlaubens und
um ein Zeugiiis aus der "Welt des innern Lebens. Schon
das Bekenntnis „ Chris tus mein Herr" ist ein solches. Man
soil es nicht anders auf die Lippen nehmen, als indem
man die Schauer der Majestat Grottes und den Reichtum
seiner Liebe empfindet, sonst ist's eine lose Rede und eine
klingende Schelle. Ich fiihle einen heifien Schmerz, indem
ich in Zeitungsinseraten und Massenkundgebungen die tief-
sten und hochsten Bekenntnisse des christlichen Grlaubens
zornig oder kaltbliitig ausgesprochen lese; denn dadurch
werden sie profaniert: wieviel wirkliches christliches Leben
und wahrhaftiger Reichtum in Grott steht denn hinter dieser
Bewegung der Lippen? Sind die alle, die jetzt laut be-
kennen: „ wahrhaftiger Grott vom Vater in Ewigkeit geboren
und auch wahrhaftiger Mensch von der Jungfrau Maria
geboren", innerlich berechtigt, ihren ISTamen unter dies Be
kenntnis zu setzen? Ich habe Manner gekannt und kenne
sie noch, die es durften, auch in Zeitungen durften; denn
ihr ganzes Leben war erfullt von diesem Grlauben. Aber
sollten ihrer so viele sein? Ware ein demiitiges Bekenntnis,
das wirklich Ausdruck des eignen innern Lebens ist, nicht
mehr, wenn es gilt Unglauben, vermeintlichen oder wirk-
lichen, zuriickzuweisen? Ich glaube hierin mit D. Cremer
nach dem, was er S. 39 geschrieben hat, einig zu sein.
Zur Sache aber mag mit der Zuriickhaltung, die ein solches
Wort fordert, folgendes gesagt sein: Wer an einen person-
lichen Grott glaubt und in ihm lebt, der stellt nicht nur
die Greschichte des eignen Lebens, sondern auch das Stuck
Menschheitsgeschichte, das er kennt, unter dieses Licht und
schaut sie unter dem Gesichtspunkte der Ewigkeit an. Er
296 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: 31.
bekennt mit dem Psalmisten: ,,Deine Augen sahen mich,
da ich noch unbereitet war," und er versteht, was der
Apostel meint, wenn er spricht: wVon ihm und durch ihn
und zu ihm sind alle Dinge." Wer aber Gott als seinen
Vater in Christus gefunden hat und darum Christus als
den Herrn bekennt, der ist gewifl, dafi hier das Geheimnis
entschleiert ist, das wir an unsrer eignen Seele als Bestim-
mung ahnen, dafi wir nicht in die Zeit gehoren, sondern
in die Ewigkeit: wir soil en das werden, was er war und
ist, ein Mensch der Ewigkeit, dessen inneres Leben Gott
ist. Der Glaube an Jesus Christus kann nicht der rechte
sein, der nicht im Fortgang seiner Erkenntnis auf diese
Erkenntnis, die liber aller ^natiiiiichen" G-eschichte liegt,
gefuhrt wird und sie als ein teures Gut festhalt. Aber
wie unfahig sind Verstand und Phantasie, dies Geheimnis
zu fassen! Wie verschiedenartig haben es schon die alte-
sten Zeugen beschrieben, von jenem Wort aus dem ersten
Petrusbrief an: nDer zuvor versehen ist, ehe der Welt
Grund gelegt ward," bis zu dem Johanneischen: 7,Im An-
fang war das Wort!" Mcht auf die Fassung kommt es
an, sondern auf die Ehrfurcht, mit der man das Geheimnis
der Person Christi umfafit und das eigne Leben unter den
Geist Christi beugt. Er ist der Sohn Gottes, und wir
kennen ihn nur als den zu uns Gekommenen, der nicht
von uns ist, obschon er unser Bruder ist. Nicht die Natur
bindet oder trennt unter geistigen Wesen, sondern das, was
wir den innern Menschen nennen. In der Natur ist er
uns gleich; aber der Christus ,,nach dem Geist" ist ein
andrer als wir: unser Herr. Mehr vermag ich nicht zu
sagen; denn wer ohne Erfahrung oder Empfindung hier
etwas sagen wollte, wird zum Sophisten; ich will aber
gerne jedem lauschen, der mit Erfahrung und Empfindung
hier mehr zu sagen versteht. Nur dafi er uns nicht mit
einer Formel binde und meine, er habe das R-atsel gelost
und den absoluten Ausdruck gefunden. Es ist nicht notig,
Antwort auf die Streitschrift Cremers. 297
es ist nicht moglich, dafi das Wahre, von dem unsre Seele
lebt, sich in einer Formel verkorpere; schon genug, wenn
es uns innerlich ergreifb und dauernd fur die Ewigkeit
stimmt. Wenn eine einzige Siinde ein ganzes, reiclies,
imposantes Leben zu zertriimmern vermag, und umgekehrt
ein Strahl Gottes ein armes und gebrochenes Leben er-
traglich machen, ja in Freude verwandeln kann, so ist es
gewiB, dafi das Gute, trotz allem Schein, der dagegen
spricht, die Herzen und damit die Welt regiert, und dafi
das Bose das einzige Ubel ist. Jenes Gute aber ist nicht
eine Abstraktion, sondern ist nur als personliches Leben
und personlicher Wille vorhanden. Wir ahnen es in vielen
Menschen; aber aufgegangen ist es uns als eine und als
unsre Wirklichkeit in Jesus Christus. Eben darum stellen
wir ihn auf die Seite Gottes und nicht auf die Seite der
Welt. Dort sehen wir ihn stehen, wo Gott das Weltall
aufgerichtet und die Menschheit geschaffen hat, um das
Reich der Geister zu sich zu fiihren.
Wem die Herrlichkeit des christlichen Glaubens nicht
aufgegangen ist, der halt das fur eine Torheit, und ich
furchte, auch manche von denen halten es fur eine Torheit,
die, wo sie ihre dogmatische Formel nicht vernehmen,
nichts horen, als ISTein oder eine grandiose Rede. Hat doch
noch neulich ein hervorragender orthodoxer Theologe das
iibermutige Wort wider uns ausgesprochen, unser christ-
licher Glaube beruhe auf einer „ Suggestion", da wir den
breiten scholastischen Untergrund verwerfen, den er teils
iibernommen , teils mit vieler Kunst und Miihe sich selbst
gezimmert hat. Wir lassen uns das bose Wort gefallen, wie
auch das andre vom ,,Historizisnius". Solange sie uns nicht
verstehen, miCverstehen sie uns immer noch am wenigsten,
wenn sie uns mit Historizismus und Suggestion schelten.
Ich bin zu Ende — man kann in der Religion nicht
alles sagen; denn sie ist ein Leben, und ein gutes Stuck
298 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
dieses unsers Innenlebens ist uns selber ein G-eh.eim.nis.
Aussprechen sollen wir nur, was den andern zugnte kommt;
das Tiefste miissen wir fur uns behalten; aber Gott gebe,
dafi es auf das, was wir tun, wie der niilde Schein einer
verborgnen Sonne seinen Glanz breite. "Was wir sagen
konnen, das wechselt mit den Zeitaltern in seinen Formen,
wenn auch der Gehalt derselbe bleibt. Wir sind eben jetzt
wieder in einer Krisis; umso angstlicher klammern sich
viele der Besten an die Formeln. Diese Formeln mogen
bleiben, solange noch ein Tropfen Leben in ihnen ist; aber
das intellektualistische Zeitalter der Religion wird doch
abgelost werden durch ein andres, das freier sein, aber es
dem einzelnen schwerer machen wird, dem Ernst der Reli
gion zu entfliehen. Unterdessen haben wir Theologen die
Aufgabe, den christlichen Glauben sowohl in seinen alten
Formen zu deuten und verstandlieh zu machen, als den
gebieterischen Winken cler Geschichte zu folgen und in
neuer Weise alte Wahrheit zu lehren. In der Bemuhung
urn jene Aufgabe weiB ich mich mit meinem Gegner in
mancher Hinsicht einig, wahrend ich zugleich, wie er,
schmerzlich den Yerzicht empnnde, zu voller Einigkeit zu
gelangen. In solchen Stunden, wo mir die Versehiedenheit
der religiosen Erkenntnisse und der kirehlichen Arbeit, das
Heer der Mifiverstandnisse und das Heer widerstreitencler
Gedanken auf die Seele fallt, troste ich mich mit den tief-
empfundnen Versen eines Mannes, der es achtzig Jahre
ausgehalten hat und nicht stumpf, matt oder erbittert ge-
worden ist:
Ziehn wir nun die achtzig Jahr
Durch des Lebens Miihen,
Miissen auch ini Silberhaar
Unsre Pfliige ziehen.
Fiihrt doch durch des Lebens Tor
Traun, so manche Gleise,
Ziehn wir einst im Engelchor
Greht's nach einer "Weise.
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
S^ ERSTER BAND • ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: III
ALS DIE ZEIT ERFULLET WAR.
DER HEILAND
Erschienen in der ^Christlichen Welt" 1899 Nr. 51 nnd 1900 Nr. 2.
Als die Zeit erfiillet war.
,,Dieser Tag hat der ganzen Welt ein andres Aussehen
gegeben; sie ware dem Untergang verfallen, wenn nicht
in dem nun Gebornen fur alle Menschen ein gemeinsames
Gliick aufgestrahlt ware."
,,Bichtig urteilt, wer in diesem Geburtstag den Anfang
des Lebens und aller Lebenskrafte fur sich erkennt; nun
endlich ist die Zeit vorbei, da man es bereuen muGte, ge-
boren zu sein."
wVon keinem andern Tage empfangt der einzelne und
die Gesamtheit soviel Q-utes als von diesem alien gleich
gliieklichen Geburtstage. u
flUnmoglich ist es, in gebiihrender Weise Dank zu
sagen fur die so grofien Wohltaten, welche dieser Tag ge-
bracht hat."
,,Die Vorsehung, die iiber allem im Leben waltet, hat
diesen Mann zum Heile der Menschen mit solchen Q-aben
erfullt, dafi sie ihn uns und den kommenden Geschlechtern
als Heiland gesandt hat; aller Fehde wird er ein Ende
machen und alles herrlich ausgestalten."
nln seiner Erscheinung sind die HofFnungen der Vor-
fahren erfullt; er hat nicht nur die friihern Wohltater der
Menschheit samtlich iibertroffen, sondern es ist auch un-
moglich, daB je ein Grofierer kame."
nDer Geburtstag des Gottes hat fur die "Welt die an
ihn sich kniipfenden Freudenbotschaften [Evangelien] her-
aufgefiihrt."
302 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: HI.
„ Von seiner G-eburt mufi eine neue Zeitrechnung be-
ginnen."
Von wem wird hier gesprochen? Wer ist der Welt-
heiland, der hier begriifit und gefeiert wird? Der romische
Kaiser! Wo ist so von ihm geredet worden? In der Pro-
vinz Asien! Und wann hat man ihn so verherrlicht? Um
das Jahr 9 vor Christi Greburt!
Wem sind bei diesen Worten nicht unsre alten Weih-
nachtsspriiche und -lieder eingefallen? ,,Das ewge Licht
geht da herein, gibt der Welt einen neuen Schein;" ,,Ich
lag in schweren Banden, du kommst und machst mich
los;"' j,Was der alten Vater Schar hochste Lust und Sehn-
sucht war." Und weiter: ,,Siehe ich verkiindige euch grofie
Freude, die allem Volke widerfahren wird." »Wir singen
dir, Immanuel, du Friedefurst" usw. Die oben mitgeteilten
Satze klingen wie Reminiszenzen aus ihnen, und doch sind
sie lange vor ihnen, lange vor unsern Evangelien, ja noch
vor Christi Greburt geschrieben.
DaB unter dem Kaiser Augustus in der Provinz Kiein-
asien der Julianische Kalender eingefuhrt, und dafi dieses
Ereignis durch Tafeln mit Inschriften, die in den Stadten
aufgestellt wurden, verkiindigt worden ist, wufite man seit
langerer Zeit. Heste soldier, von dem asiatischen Landtage
gesetzter Inschriften kannte man aus Apamea, Eumenea
und Dorylaum, aber sie waren trummerhaffc. Nun ist von der
deutschen Expedition eine fast vollstandig erhaltene grie-
chische Inschrift (84 Zeilen lang) in Priene entdeckt worden,
und Mommsen und von Wilamowitz-Mollendorff haben sie in
den Mitteilungen des Kaiserlich Deutschen Archaologischen
Instituts (Athenische Abteilung) Bd. 23, Heft 3, Seite 275
bis 293 herausgegeben und bearbeitet. Die Inschrift zer-
fallt in zwei Teile. Der erste enthalt den Antrag des
Statthalters an den Landtag Asiens wegen der Kalender-
veranderung, der zweite den BeschluO des Landtags: der
Jahresanfang und der Antrittstag fur samtliche Magistrate
Als die Zeit erflillet war. 303
soil auf den 23. September verlegt werden, den G-eburtstag
des Kaisers Augustus. Mommsen hat gezeigt, dafi die In
schrift zwischen die Jahre 11 und 2 vor Christi G-eburt,
wahrscheinlich aber in das Jahr 9 fallt. Dieser Inschrift
sind die oben iibersetzten Stiicke entnommen. Wilamowitz
hat natiirlich die Bedeutung, die sie fur die Geschichte der
religiosen Sprache und insbesondre fiir die Ausbildung der
christlichen Sprache haben, sofort erkannt. Er hat dazu
eine andre Inschrift (aus Halikarnafi) verglichen, die sich
jetzt im Britischen Museum befindet (No. 994). Sie lautet:
7,Da die ewige und unsterbliche BTatur des Alls [die
Grottheit] den Menschen das hoehste Gut zu ihren iiber-
schwanglichen Wohltaten bescherte, hat sie, damit unser
Leben gliicklich werde, den Casar Augustus uns gebracht,
der der Vater seines Vaterlandes, der gottlichen Roma, ist,
der vaterliche Zeus aber und Heiland des ganzen Menschen-
geschlechts, dessen Vorsehung die Gebete aller nicht nur
erfullt, sondern auch iibertroffen hat. Denn es erfreuen
sich Land und Meer des Friedens; die Stadte bliihn in
wohlgeordnetem Zustande, in Eintracht und in Reichtum;
jegliches Gute ist in Hulle und Fiille vorhanden . . . Usw."
Der Weltheiland, der Kaiser, hat der Welt den Frieden
gebracht und fuhrt das goldne Zeitalter herauf ! Wilamo
witz meint, niemand diirfe diese Religion in ihrer Auf-
richtigkeit bezweifeln:
,,Wenn der Kaiser selbst den Glauben ausgesprochen
hat: flGottes Gnade wird mich in die himmlische Glorie
hinauffiihren" (Sueton, Augustus 71), so hatten die dank-
baren Asiaten diesen Glauben schon jetzt. u
Ob die Aufrichtigkeit wirklich so unzweifelhaft ist,
mag dahingestellt bleiben; aber unzweifelhaft richtig ist es,
wenn Wilamowitz fortfahrt:
wlm Hintergrunde dieser Religiositat steht die stoische
n Vorsehung", die der Welt den Heiland sendet, den man
als j,vaterlichen Zeus" bezeichnet, weil er in Rom „ Vater
304 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: HI.
des Yaterlands" heLOt. "Wenn vor seinem Erscheinen die
Menschen im Chaos der Revolution*) nur wiinschten, nicht
geboren zu sein, so ist es jetzt erne Freud e, zu leben. Und
mit der Freudenbotschaft, den ,,Evangelien", hat der Tag
begonnen, wo der "Welt der Heiland geboren ward. Dafi
diese Anschauung und dieser Ausdnick griechisch ist, dafi
gerade Asien um Christi Greburt in diesem Glauben lebte,
diirfte keine geringe Bedeutung haben."
In der Tat — diese Inschrift ist fur die G-eschichte
des ,jChristentums" ungleich wichtiger als die meisten christ-
lichen Inschriften. Sie lehrt uns aufs neue und eindrucks-
voller als irgend ein friiheres Dokument, welchen Umfang
wir dem Satze ^Als die Zeit erfullet war" zu geben haben.
Als der Apostel Paulus seine grofie Mission in Asien unter-
nahm, da konnte man schon seit fast zwei Menschenaltern
auf den Marktplatzen aller bedeutendern Stadte Asiens diese
Inschrift lesen von dem Weltheiland, der erschienen sei, der
die sehnsiichtigen Wiinsche aller erfulle, der dem Menschen-
geschlecht den Frieden bringe, ja das Leben erst lebens-
wert mache. Wenn wir nachmals diese Sprache als christ-
liche lesen und heute nur als christliche empfinden, so irren
wir uns: sie ist von den Griechen gepragt und zuerst auf
den Casar Augustus gemlinzt worden. Das Christentum
hat sie einfach iibernommen und auf Jesus Christus iiber-
tragen. Das konnte geschehen und das durfte geschehen;
denn die religiose Sehnsucht hatte hier eine Tiefe, die
religiose Hoffnung einen Umfang, die religiose Sprache eine
Kraft gewonnen, die sie zum Ausdruck einer geistigen
Weltreligion fahig machten.
Aber alles dies war angeschlossen an den Kaiserkultus;
er gab den Worten doch ein eudamonistisch-politisches Gre-
*) Ob nur an das Chaos der Revolution zu denken ist? Ob sich
nicht in dem Gestandnis ,,nun braucht man es nicht mehr zu bereuen,
geboren zu sein", ein tiefer Pessimismus in Bezug auf das Leben iiber-
haupt ausspricht?
Als die Zeit erfiillet war. 305
prage und liefi den Missionaren, die vom Alten Testament
und vom Evangelium her kamen, diese Religion als eine
Spottgeburt erscheinen. Paulus hat darum nirgendwo an
den Kaiserkult angekniipft, so verlockend es sein mochte,
von ihm 'auszugehen, sondern an ,,den unbekannten Q-ott".
Er hat auch jene religiose Sprache des Kaiserkultus, so
zweckmafiig es scheinen konnte, sie als Grefafi fiir die
Predigt von Jesus Christus zu gebrauchen, noch nicht be-
niitzt. Erst in den Pastoralbriefen, bei Lukas und bei Jo
hannes zeigt sich eine Annaherung an sie. Dann gewinnt
sie die Oberhand. Aber indem man sie annahm, weil sie
in so majestatischen Hymnen den Weltheiland feierte, be-
kampffce man um so nachdriicklicher den Kaiserkultus selbst.
Man nahm ihm die Waffen weg; man bekampfte ihn mit
den eigenen Waffen. Der Kampf des Christentums gegeii
das Heidentum war im zweiten Jahrhundert ein Kampf
gegen die Religion des Kaiser-Heilands. Alle ubrigen Reli-
gionen kamen als Feinde eigentlich gar nicht in Betracht,
und wenn der Apokalyptiker Johannes an die Gremeinde
von Pergamum schreibt: ,,Ich weiG, wo du wohnst — wo
der Thron des Satans ist", so meint er den Kaiserkult, der
in jener Stadt seinen Hauptsitz hatte. Nur ein Apologet
des zweiten Jahrhunderts, der Bischof Melito in der klein-
asiatischen Stadt Sardes, hat sich (in einer hochst bedenk-
lichen Ausfuhrung, die uns Eusebius in seiner Kirchen-
geschichte mit Beifall auf bewahrt hat) dazu verleiten lassen,
die Verkiindigung vom "Weltheiland Augustus, die auch er
in Sardes auf einer Prunkinschrift gelesen haben wird,
friedlich mit der Predigt von Jesus Christus zu verbinden
und von der Milchschwesterschaft des Kaiserreichs und des
Christentums zu sprechen. Er hat mit Hilfe jener Inschrift,
oder einer ahnlichen, das Thema 7,Augustus — Jesus Chri
stus", das Lukas angeschlagen hatte, in einer Weise aus-
gefuhrt, die dieser weit von sich gewiesen hatte: die Welt
hat nach diesem Bischofe zwei Heilande, die gleichzeitig
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. I. 20
306 Erster Band, zweite Abteiltmg. Aufsatze: III.
erschienen sind, den Augustus und den Christus! Zum
Gliick sind ihm wenige Christen damals noch in dieser
Richtung gefolgt.
Aber die Sprache des Kaiserkultus ist die christliche
geworden. Wir beklagen das nicht; sonst miifiten wir sie
heute abstreifen; aber wir haben keine bessere. Oder ist's
moglich, iiberall zu der schlichten Sprache zuriickzukehren,
die Christus selbst gesprochen hat? Vielleicht ist das
kommenden Greschlechtern beschieden. Einstweilen lernen
wir, jedem das Seine zu geben, und erkennen immer mehr,
in welchem Mafie die GrefaCe vorbereitet waren, um das
Evangelium aufzunehmen. Aber noch mehr: das Evan-
gelium selbst stellt gleichsam nur einen neuen, entscheiden-
den Kraftpunkt dar. Das meiste von dem, was wir sonst
noch der Originalitat des Christentums zuschreiben, lag
langst teils im Judentum, teils in der ernsten religiosen
Arbeit der Griechen fertig vor und wurde von der Kraft
des Evangeliums einfach in Beschlag genommen. So ent-
stand das ,,Christentum".
Der Heiland,
In dem kleinen Aufsatz wAls die Zeit erfiillet war"
(Christl. Welt 1899 Nr. 51) habe ich auf Grand einer neu-
entdeckten Inschrift vom Jahr 9 vor Christi Geburt gezeigt,
dafi unsre religiose Sprache in Bezug auf Jesus Christus
ihre Vorbereitung auch an der religiosen Sprache der Grie-
chen gehabt hat. Genauer noch mufi man sagen, dafl die
Christenheit seit dem Ausgang des ersten Jahrhunderts
besonders solche Begriffe und Worte bevorzugte, die ihr
sowohl von dem Alten Testament als von den Griechen
identisch geboten wurden. Es ist namlich eine der wichtig-
sten religionsgeschichtlichen Erkenntnisse, dafi sich im Zeit-
alter der Entstehung des Christentums auf der jiidischen
und auf der griechischen Linie zahlreiche religiose Begriffe
und Ausdriicke finden, die sich decken und also einfach
ineinander iibergehen konnten. Diese merkwiirdige Er-
scheinung ist zum Teil dadurch bedingt gewesen, daB das
Griechentum seit den Tagen Alexanders des Grofien auf
das Judentum eingewirkt hat, und dafi in bescheidenen
Grenzen auch das Umgekehrte der Fall gewesen ist. Aber
ein anderer Teil der Erscheinungen lafit sich so nicht er-
klaren; vielmehr hat die innere Entwicklung der Religion
dort und hier dieselben Empfindungen, Erkenntnisse und
Ausdriicke hervorgerufen. Die wichtige Aufgabe, alle diese
Begriffe und Worte zusammenzustellen, urn sie einheitlich
zu iiberschauen, ist bisher noch nicht in Angriff genommen,
geschweige gelost. Und doch wird man erst dann ein
20*
308 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
sicheres Urteil iiber die Originalitat und iiber die Anpas-
sungskraft des Evangeliums gewinnen konnen.
Der Prozefl aber, wie die altesten Christen Sckritt fur
Schritt die religiose Spraclie der Grriechen aufgenommen
haben, lafit sich in seinen fruhesten Stadien schon im Neuen
Testamente verfolgen, wenn man die alteren Schriffcen darin
mit den jiingeren vergleicht. Durchweg erkennt man, daft
Markus, Matthaus und Paulus am wenigsten von der reli-
giosen Sprache der Griechen beeinfluflt waren, wahrend
Lukas, Johannes und namentlich der Verfasser der Pastoral-
briefe und des 2. Petrusbriefs viel starker von ihr abhangig
sind. Es ist ein neuer Beweis fur die wunderbare Origi
nalitat und Kraft des Paulus, dafi er, obgleich er Jahr-
zehnte unter den Griechen wirkte, doch aus ihrer religiosen
Sprache so wenig aufgenommen hat. Umgekehrt hat Lukas
den Versuch gemacht, die ihm schon in festen Sprach-
formen iiberlieferte evangelische Greschichte mit schonender
Hand sprachlich zu korrigieren und der Empfindung, der
Begriffswelt und dem Verstandnis der Grriechen naher zu
bringen. Darauf ist man langst aufmerksam geworden;
in neuester Zeit aber hat namentlich Professor Nor den in
seinem schonen Buche iiber die ,,antike Kunstprosa" eine
Reihe vortrefflicher Beobachtungen iiber diesen Punkt an-
gestellt. Von ganz besonderem Interesse ist iibrigens in
dieser Bichtung die dem Lukas eigentiimliche Vorgeschichte
Jesu (Luk. 1 u. 2). Unzweifelhaft hat er hier eine juden-
christliche Quelle benutzt — es gibt kaum einen grofieren
Abschnitt im Neuen Testament, der uns so 7,alttestament-
lich" in seiner Sprache anmutet wie jene Kapitel — , aber
er hat es verstanden, ohne das Sprachkolorit zu verwischen,
so nachzuerzahlen, dafi jene Yerkiindigungs- und Greburts-
geschichten grade auch den echten Grriechen besonders
verstandlich und erbaulich sein mufiten.
Im folgenden will ich an einem Beispiele zeigen, wie
ein Wort sich eingeburgert hat, das fur uns heute zum
Der Heiland. 309
eisernen Bestande der ckristlichen Sprache gehort, aber
urspriinglich in ihr gefehlt hat — das Wort Heiland fiir
Jesus Christus.
In den Evangelien des Markus und Matthaus sucht
man es vergebens: weder im Munde Jesu noch in den Be-
ricliten der Evangelisten kommt es vor. Freilich, wenn
Jesus dem Taufer Johannes auf dessen Frage, ob er der
Messias sei, antworten lafit: ,,Die Blinden sehen usw.,a so
ist keine Bezeichnung fiir ihn zutreffender als die des
,,Heilandes". Allein das Wort ist nicht gebraucht. Das
ist urn. so bemerkenswerter, als die griechische Ubersetzung
des Alten Testaments die Bezeichnung „ Heiland" (fiir Grott
selbst) wohl kennt; erinnert sei nur an die beriihmte Stelle
im Hiob: ,,Ich weifi, dafi mein Eiioser lebt." Aber unter
den vielen Bezeichnungen des zukiinftigen Messias im
Judentum fehlt die Bezeichnung j,Heiland". Darum ist sie
auch nicht in die urspriingliche evangelische Verkiindigung
gekommen.
Dagegen war bei den Griechen das Wort ,,Heiland"
eine sehr haufige Bezeichnung der Grdtter. Ursprunglick
bedeutete es ?,Nothelfer" in den vielen kleinen und grofien
Kalamitaten des Lebens. Die Dioskuren waren die ,,Hei-
lande" der Schiffer, der Nil war der ^Heiland" Agyptens;
auch Feldherrn wurden mit dem Ehrentitel ,,Heiland" ge-^
ehrt. In dem Mafie aber als sich die Religion erweiterte
und vertiefte, bekam auch das Attribut wHeiland" fiir die
Grottheit eine weitere und tiefere Bedeutung: der Mensch
bedarf des Heilands iiberhaupt. G-ottes hochste Kraft ist,
dafi er Heiland ist; die gottliche Vorsehung ist die des
,,Heilandes". So bekam die uralte Formel ,,Zeus der Hei
land", ,,Qott der Heiland", einen neuen umfassenden Sinn,
und als der irdische Gott, der Kaiser, neben den Zeus trat,
wurde auch er als Heiland, ja als Weltheiland, gefeiert.
Grrund genug fiir Paulus, die Formeln nGrott der Hei
land", „ Christus der Heiland" beiseite zu lassen. Sie war
310 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
ihm wohl niclit bezeiclmend genug. Nur zweimal in seinen
echten Briefen hat er das Wort ,,Heiland" fiir Christus
gebraucht, aber nicht als Name: Epheser 5, 23 und Phi-
lipper 3, 20. Die erstere Stelle diirfen wir beiseite lassen
— die Auslegung ist strittig — ; an der zweiten schreibt
er: ,,Unser Staatswesen ist im Himmel, von dannen wir
auch den Herrn Jesus Christus als Heiland erwarten." Der
G-egensatz ist klar: ,,Unser Staatswesen ist nicht das ro-
mische Reich mit seinem Kaiser-Heiland." Weit entfernt
also, dafi man aus unserer Stelle entnehmen diirfte, dem
Apostel sei der Ausdruck ,,Heiland" fur Christus gelaufig
gewesen, folgt vielmehr umgekehrt aus ihr, dafi er nur um
des Gegensatzes willen zu ihm gegriffen hat.
Aber nicht lange nach der Zeit des Paulus wurde es
anders. Lukas und der Verfasser der Pastoralbriefe*) be-
zeichnen den Umschwung, und zwar nehmen sie sowohl
die antike (und zugleich alttestamentliche) Formel ,,Grott
der Heiland" auf, als sie auch die neue Formel „ Christus
der Heiland", „ Christus, der Herr und Heiland" bilden.
Lukas bietet bereits in seiner Yorgeschichte Jesu beide; er
laJBt Elisabeth (1, 47) 7,Gott mein Heiland" aufjubeln, und
er hat den Satz an den Anfang der heiligen Greschichte ge-
stellt (2, 11): 7,Euch ist heute der Heiland geboren." Der
ganze Vers ist in alien seinen Worten so gestaltet, dafi er
Juden und Griechen gleich heimisch lautete — das Neue
war, dafi ,,Christus der Herr in der Stadt Davids" dieser
Heiland ist, dessen Frohbotschaft ,,allem Volke" gilt. Auch
in der Apostelgeschichte hat Lukas noch zweimal (5, 31;
13, 23) von dem gesprochen, ,,den Grott zum Fiirsten und
Heiland" erhoben hat, oder von dem ,,Heiland Jesus".
In den Pastoralbriefen, so kurz sie sind, wird Q-ott
selbst nicht weniger als sechsmal ,,G-ott der Heiland ge-
*) Diese Brief e kOnnen nicht von Paulus geschrieben sein; doch
liegen ihnen httchst wahrscheinlich Paulinische Briefzettel zu Grunde.
Der Heiland. 311
nannt, Christus aber heiBt viermal nunser Heiland". Eine
Stelle 1st ganz besonders merkwiirdig; denn sie lautet mit
antiker Eeierlichkeit: ,,Wir erwarten die herrliche Zukunft
nnseres groCen G-ottes und Heilandes Christus Jesus."
Ahnlich heiflt es im 2. Petrusbrief: ,,Unser Gott und Hei
land Jesus Christus." Dieser spate Brief ist deshalb in der
Geschichte der christlichen Sprache wichtig, weil er zeigt,
dafi auch der Ausdruck wUnser Herr und Heiland Jesus
Christus" bereits formelhaft geworden ist. Er komint in
dem kleinen Briefe nicht weniger als viermal vor. Seitdem
ist diese Zusammenstellung eine besonders bevorzugte in
der Christenheit geworden.
Johannes aber ist es gewesen, der die Bezeichnung
,,Weltheiland", die in der Antike auch schon bekannt war
(fur den Kaiser), auf Christus ubertragen hat. ISTur zwei-
mal findet sich bei ihm das "Wort rHeiland", aber beide
Male mit dem Zusatz ,,der Welt". wMcht mehr um deiner
Rede willen," erklaren die Samariter dem Weibe, ,,glauben
wir; denn wir haben nun selbst gehort und wissen, daC
dieser wahrhaftig der Heiland der Welt ist" (Joh. 4, 42).
Und 1. Joh. 4, 14 heifit es: ^Wir bezeugen, dafi der Vater
den Sohn gesandt hat als Heiland der Welt."
Jesus Christus trat dem Kaiser, dem Weltheiland
(auch ^Schopfer und Heiland" wird Hadrian genannt),
gegeniiber, und es erfiillte sich das Wort: ^Wenn ein
starker Grewappneter seinen Palast bewahrt, so bleibt das
Seine mit Erieden. Wenn aber ein Starkerer iiber ihn
kommt und iiberwindet ihn, so nimmt er ihm seinen Har-
nisch, darauf er sich verlieC." Der Harnisch war die
Heilandswiirde.
.
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
ERSTER BAND . ZWEITE ABTEILUNG ^
AUFSATZE: IV
USER DIE JUNGSTEN ENTDECKUNGEN
AUF DEM GEBIETE DER ALTESTEN
KIRCHENGESCHICHTE
Erschienen in: ,,Preufl. Jahrbucher", Band 92 (1898), Heft 2.
Ein Konig fragte einst einen seiner Gelehrten: n"Was
gibt es Neues in Ihrer Wissenschaft?" und erhielt darauf
die Gegenfrage : ^Kennen Majestat schon das Alte?" Die Ant-
wort war nicht hoflich, aber richtig; denn von dem Alten
ist in der Wissenschaft immer mehr zu erzahlen, als von
dem Neuen. Wer nur dieses kennt, weifi wenig; wer aber
in dem Alten lebt, braucht sick nicht heiBhungrig auf das
Neue zu stiirzen: denn er weifi, dafi er Jenes nicht auslernt.
Auch vermag nur, wer das bereits Erarbeitete beherrscht,
Neuentdecktes wirklich zu wiirdigen. Ihm werden die
neuen Funde wie frische Pflanzen in seinen Garten ge-
setzt; der Neuigkeitsjager behandelt sie wie abgeschriittene
Blumen, die heute gefallen und morgen schon welk sind.
Aber die Ermittelung neuer Tatsachen ist doch wie
in alien empirischen Wissenschaften, so auch in der Ge-
schichtsforschung eine wesentliche Bedingung ihres Fort-
schritts, ja die wichtigste. Zwar mag man darliber streiten,
ob nicht an diesem Fortschritt die geniale Kraft, die Dinge
neu und richtiger zu sehen, einen groBeren Anteil hat.
Doch der Streit ist miifiig; denn noch immer hat in den
Wissenschaften die zutreffendere Beurteilung und die Ent-
deckung von Tatsachen in einer geheimnisvollen Wechsel-
wirkung gestanden. Es ist nicht zufallig, dafi das J5philo-
sophische" Zeitalter der Geschichtsschreibung so arm gewesen
ist in bezug auf die Erhebung neuer geschichtlicher Tat
sachen. Wer den Geschichtsverlauf von vornherein fertig
im Kopfe hat, dem liegt an der Ermittelung der Tatsachen
wenig. Nur wer entschlossen ist, sich von ihnen leiten zu
316 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
lassen, der fmdet neue, mag auch mancher blinden Henne
ein Korn beschert werden. —
Das Studium der altesten Kirchen- und cliristlichen
Literaturgesch.ich.te hat in unserm Jahrhundert einen mach-
tigen Aufschwung genommen. In der ganz besonderen
Stellung dieser Greschichte liegt es begriindet, dafl jeder
Aufschwung der Greschichtswissenschaft ihr vor allem zu
gut kommt. Laufen hier doch geschichtliche Interessen
von eminenter Bedeutung zusammen. Wie hat sich die
christliche Religion von ihren ersten palastinensischen An-
fangen zu dem machtigen Organismus entwickelt, der als ka-
thoHsche Kirche bereits im dritten und vierten Jahrhundert
vor uns steht und das romische Reich dann in sich auf-
genommen hat? Wie hat sich die griechische und romische
Kultur und Literatur in die christlich - griechische und
christlich - romische verwandelt und in dieser Form ihre
letzte Ausgestaltung empfangen? Wie beschaffen ist das
religiose, politische und wissenschaftliche Kapital — die
Griiter und die Ideale — • gewesen, welches die alte Kirche
den jungen romanischen und germanischen Nationen uber-
mittelt hat, aus welchem sich alles das entwickelte, was
wir Kultur des Mittelalters nennen? Wie ist es zu ver-
stehen, dafi die beiden groBen katholischen Kirchen das
Zeitalter der Kirchenvater noch immer als ihre klassische
Zeit verehren, was schatzen sie an ihm, inwiefern ist die
Art und Kraft ihrer Frommigkeit von ihm abhangig?
Welche starken Interessen verbinden auch noch den Pro-
testantismus mit einem ganz bestimmten Bilde der altesten
Kirche?
Der Schliissel zu diesen grofien Problemen liegt in der
Erforschung der alten Kirchengeschichte. Daher laflt sie
den nicht mehr los, der sich ihr einmal ergeben hat. Wer
hier arbeitet, deckt nicht nur eine langst begrabene Ver-
gangenheit auf, sondern arbeitet an der Aufhellung einer
Greschichte, deren Hervorbringungen unter uns noch lebendig
tTber die jiingsten Entdeckungen. 317
sind. Darin liegt der Heiz und die Gefahr. Der Kirchen-
historiker wird zum Kirchenpolitiker, er mag wollen oder
nicht; denn mag er selbst auch noch so uninteressant sein
— den Ergebnissen seiner Arbeiten kann er das ,,Aktuell©u
nicht abstreifen.
Doch soil dieser Gedanke hier nicht weiter verfolgt
werden. Auch der Versuchung will ich widerstehen, zu
schildern, welche Fortschritte die Geschichtsschreibung der
alten Kirche in der Neuzeit gemacht hat und wie vieles
ihr noch zu tun ubrig ist. Dagegen mochte ich die Auf-
merksamkeit auf zwei erfreuliche Tatsachen lenken, die in
engstem Zusammenhang mit dem Fortschritt der kirchen-
geschichtlichen Forschung stehen.
Die Quellen und Urkunden der G-eschichte zu sammeln
und in zuverlassiger Gestalt allgemein zuganglich zu machen,
ist die grundlegende Voraussetzung fur alles Studium. Das
haben schon die Gelehrten des siebzehnten Jahrhunderts ge-
wufit und haben darnach gehandelt. Ihre Arbeit ist in unserem
Jahrhundert wieder aufgenommen worden. Die ,,Monumenta
Germaniae", das „ Corpus Inscriptionum Graecarum", das
„ Corpus Inscriptionum Latinarum", auf dessen Grunde
Mommsen die romische Verfassungsgeschichte schaffen
konnte, sind die vornehmsten Zeugen fur diese Tatigkeit.
Aber auch der alten Rirchengeschichte werden jetzt Samm-
lungen von ahnlicher Bedeutung geschenkt. Seit dreiBig Jah-
ren arbeitet die Wiener Akademie der Wissenschaften an der
Herausgabe der lateinischen Kirchenvater, und jiingsthat sich
die Berliner Akademie entschlossen, alle griechischen Quellen
und Urkunden des Christentums von dem apostolischen Zeit-
alter bis zum Anfang des vierten Jahrhunderts zu sammeln
und herauszugeben. Die Mittel zur Durchfuhrung dieses
groBen Unternehmens , welches etwa funfzig Bande um-
fassen wird, nieBen aus einer Stiftung, welche im Jahre 1894
zu gunsten der Akademie errichtet worden ist — der Heck-
mann-Wentzel-Stif tung. Der hochherzigen Frau, welche
318 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
erkannte, dafl auch die Wissenschaft den Groflbetrieb be-
darf, und die ihr in unbeschranktem Vertrauen die Mittel
dargeboten hat, sei auch an dieser Stelle der warmste Dank
gesagt. Schon haben sich Kenner der alien Kirchen- und
christlichen Literaturgeschichte zusammengetan , um das
Werk wiirdig auszufuhren, und wir diirfen hoffen, dafl noch
vor Ablauf eines Menschenalters samtliche Urkunden und
Quellen des altesten Christentums in zweckentsprechenden
Ausgaben vorliegen werden.
Vielleicht hatte die alte Kirchengeschichte nicht das
Grliick gehabt, aus den reichen Mitteln der Stiftung bedacht
zu werden, wenn nicht die zahlreichen neuen Entdeckungen,
die in den letzten 25 Jahren gemacht worden sind, in den
weitesten Kreisen die Erkenntnis erweckt hatten, daC hier
ein grofles, z. T. neues Arbeitsfeld vorliegt, und dafi es
gilt, das Neue zu sammeln und mit dem Alten zu verbinden.
Einige dieser Entdeckungen haben auch das grofiere ge-
bildete Publikum und die Tageszeitungen beschaftigt; aber
wenige werden eine Vorstellung davon besitzen, in weichem
Umfange sich unsere Kenntnis der altesten Kirchenge
schichte seit 1873 — dieses Jahr sei als Q-renze gewahlt —
vermehrt hat. Ich versuche es im folgenden, eine Uber-
sicht liber diesen Zuwachs zu geben und die neuen Funde
kurz zu charakterisieren. Die Ubersicht wird lehren, dafi
wir mit wertvollen Entdeckungen auf dem Gebiete der al
testen Kirchengeschichte geradezu uberschiittet worden sind,
und dafi die Forscher Miihe haben, alles das Neue aufzu-
nehmen, was ihnen Jahr um Jahr bescheert wird.
1. Die Epoche, der unsere drei ersten Evangelien an-
gehoren, ist in der Greschichte der christlichen Literatur
die palaontologische. Von Jesus Christus selbst hat man
zwei Menschenalter spater nichts Zuverlassiges mehr zu er-
tiber die jiingsten Entdeckungen. 319
zahlen gewufit. "Was nicht bis dahin iiber ihn aufgezeich.net
worden 1st, hat als geschichtliche Urkunde keinen oder
einen sekr geringen Wert. Um so wichtiger ist es, die
authentische Gestalt unserer Evangelien festzustellen, deren
Text im zweiten Jahrhundert noch mannigfaltige Ver-
anderungen erfahren hat. Unsere altesten griechischen
Handschriften aber sind nicht alter als das vierte Jahr
hundert. Um die Liicke auszufullen, die zwischen den Ur-
exemplaren und diesen Handschriften klafft, besafien wir
zwar an den alten Ubersetzungen und an Zitaten des
zweiten und dritten Jahrhunderts eine Reihe von Hilfs-
mitteln; aber sie reichten doch nicht aus, urn auch nur die
wichtigsten Probleme in bezug auf die urspriingliche Text-
gestalt der Evangelien sicher zu entscheiden. Jetzt sind
diese Hilfsmittel durch zwei bedeutende Entdeckungen in
willkommenster Weise vermehrt worden: die eine kam aus
Armenien, die andere vom Berge Sinai.
Die Kunde, dafl ungefahr um das Jahr 170 ein aus
Syrien stammender Grrieche, namens Tatian, aus unseren
vier Evangelien eine Evangelienharmonie, d. h. eine evan-
gelische Schrift, zusammengestellt hat, ist in der Kirche
nie untergegangen ; aber die Schrift selbst besaB man nicht.
Da wurde nachgewiesen, dafl ein in armenischer Uber-
setzung existierender Kommentar des Syrers Ephraem zu
den Evangelien zu seiner Grundlage nicht unsere vier
Evangelien, sondern eben jenes Werk des Tatian habe.
Aus diesem Kommentar liefl sich also - - wenn auch nicht
vollkommen, so doch bruchstiickweise — der Evangelientext
ermitteln, wie er dem Tatian um das Jahr 170 vorgelegen
hat. Freilich mufite man das Armenische erst in das
Syrische zuriickubersetzen und dann auf den griechischen
Urtext schliefien. Dieses Verfahren machte n- an vielen
Stellen unmoglich, die Details des Urtextes zu ermitteln;
aber dennoch ist der Ertrag der neuen Entdeckung ein
sehr bedeutender gewesen. An zahlreichen und zwar her-
320 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
vorragend wichtigen Stellen konnen wir jetzt mit Be-
stimmtlieit sagen: so lautete in der Zeit Mark Aurels der
evangelische Text, den Tatian gelesen hat. Aber nock
wertvoller war der Fund, den wir einer gelehrten schottischen
Dame, Mrs. Lewis, verdanken. Sie fand im Jahre 1892
in dem Kloster der heiligen Katharina auf dem Berge Sinai
— dort, wo einst Tischendorf den beruhmten griecMschen
Bibelkodex entdeckt hat — eine tun das Jahr 400 her-
gestellte syrische Handschriffc, welche die vier Evangelien
enthalt und aus einem griechischen Original iibersetzt ist,
das schwerlich jiinger ist als das zweite Jahrhundert. Da
der Text fast vollstandig erhalten ist, so ist dieser Syrus
Sinaiticus einer der wichtigsten, ja hochst wahrscheinlich
iiberhanpt der wichtigste Zeuge far unsere Evangelien,
nnd Merx hat recht getan, ihn in einer genauen deutschen
Ubersetzung weitesten Kreisen zugangtich zu machen.*)
Wer die Evangelien in dieser Grestalt liest, hat sie so vor
sich, wie sie Christen vor 1700 Jahren gelesen haben. Be-
merkenswert ist, dafi der Text des Tatian mit diesem Text
anfs Innigste verwandt ist, und daB beide Texte die wesent-
liche Unversehrtheit unserer Evangelien seit der Zeit Mark
Aurels beweisen. Allerdings bezeugen sie auch, daB unsere
altesten griechischen Texte des vierten Jahrhunderts in
Einzelheiten nicht das unbedingte Vertrauen verdienen, das
man ihnen als den altesten Originalzeugen noch immer
schenkt. An einigen wichtigen evangelischen Stellen, in
denen der authentische Text zweifelhaft ist, bringt auch
der neue Zeuge keine Entscheidung. So bietet er am Schlufi
der Grenealogie Jesu (Matth. 1, 16) die merkwiirdige Fassung:
„ Jakob erzeugte den Joseph, Joseph, dem Maria, die Jung-
frau, verlobt war, erzeugte Jesum, der Messias genannt
wird." DaB das nicht das Urspriingliche ist, sondern be-
*) Merx, Die vier kanonischen Evangelien nach ihrem altesten
bekannten Texte. Berlin, Georg Reimer. 1897.
tlber die jtingsten Entdeckungen. 321
reits eine Korrektur, 1st sehr wahrscheinlich; aber der
widerspruchsvolle Text lelirt, dafi liier eine Stelle vorliegt,
deren urspriingliche Fassung sekr bald einen Anstofi ge-
boten hat.
Ein qualendes Ratsel der Evangelienforschung bietet
der Schlufi des Markusevangeliums. Dafi Markus selbst die
Schlufiverse 9 — 20 niclit gesehrieben hat, steht fest — denn
sie fehlen in den besten Handschriften, auch in dem Syrus
Sinaiticus — , dafi er sein Evangelium. nicht mit Kapitel 16,
8 geschlossen hat, ist sehr wahrscheinlich. Wer hat den
echten Schlufi weggeschnitten und den neuen hinzugefugt?
"Warum, wann und wo ist es geschehen? Auf diese Fragen
liefi sich bisher aus aufieren und inneren Griinden ant-
worten, dafi die Manipulation bereits im Anfange des
zweiten Jahrhunderts vorgenommen sein mnB, dafi sie nach
Kleinasien weist und dafi vermutlich die Absicht, statt
galilaischer Erscheinungen des Auferstandenen jerusale-
mische zu setzen, das Motiv des Eingriffs gewesen ist.
Nun wurde vor ein paar Jahren eine armenische Bibel-
handschrift gefunden, in welcher das Markus evangelium
auch mit Kapitel 16, 8 schliefit. Dann aber folgt eine
neue Uberschrift, als beginne ein neues Evangelium; sie
lautet ,,Von dem Presbyter Ariston", und nun liest man
die Verse 9 — 20. Diesen Ariston (Aristion) kennen wir als
einen Herrnschuler, der lange — wahrscheinlich in Klein
asien — gelebt hat und am Anfang des zweiten Jahr
hunderts von dem phrygischen Bischof Papias zusammen
mit dem Presbyter Johannes als eine Autoritat fur die
evangelische Greschichte genannt wird. Der unechte Markus-
schlufi hat also in dieser armenischen Handschrift eine
historische Etikette erhalten, gegen deren Bichtigkeit sich
nichts Stichhaltiges einwenden lafit, und die es gestattet,
die Mutmafiungen sicherer auszusprechen , die man uber
den Ursprung des merkwiirdigen Schlusses gehegt hat.
Ein Forscher, Resch, hat es sich zur Lebensaufgabe
Ilarnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. I. 21
322 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
gesetzt, aus der Uberlieferung der Jahrhunderte Spriiche
Jesu zu sammeln, die nicht in unserem Evangelium stelien.
Hit dem hochsten Fleifie hat er in den Bibliotheken ge-
sucht und gesammelt und ein stattliches Material zusammen-
gebracht. Probehaltig in dem Sinne, dafl wirklich zuver-
lassige Herrnworte gewonnen waren, ist fast nichts; doch
ein halbes Dutzend oder ein Dutzend mag immerhin gelten.
Aber aueh nur ein Wort ist ein Grewinn, welches die auf-
opferndste Arbeit lohnt, und manche nicht authentische
Spriiche sind aus dem Greiste Jesu oder aus der Liebe zu
ihm geboren, grofi gedacht und zart empfunden. Die um-
fangreiche Sammlung, die Resch vorgelegt hat, ist doch
ein eigentumliehes Denkmal der Greschichte Jesu in der
Kirche, und die Tatsache, dafi sich in den Spriichen dog-
matische Ausfiihrungen so gut wie gar nicht finden, ist
ein schoner Beweis dafur, dafi die Legende in der Regel
die Eigenart der Rede Jesu festgehalten und ihn selbst
nicht in die dogmatischen Kampfe herabgezogen hat.
Aber nicht nur die Bibliotheken haben hier Material
geliefert. In einer groCen Sammlung von agyptischen Pa
pyrus, die nach Wien gekornmen ist, fand Bickell einen
Fetzen, nicht grower als eine halbe Visitenkarte ; aber er
enthielt enggeschriebene kostbare Worte. Das Gresprach
Jesu mit Petrus, in welchem diesem seine Verleugnung vor-
hergesagt wird (Mark. 14, 26 — 30), ist auf ihm verzeichnet,
und zwar in einer kiirzeren und altertiimlicheren Form,
als in unseren Evangelien. Der Papyrus stammt aus dem
zweiten oder dritten Jahrhundert, und es ist schwer glaub-
lich, dafi man eine blofie Verkiirzung des Markustextes an-
zunehmen hat; vielmehr liegt hier wohl die alteste Fassung
vor, in welcher diese Greschichte aufgezeichnet word en ist.
Jiingst aber ist in Agypten von Q-renfell und Hunt ein
zweiter, grofierer Papyrus mit Herrnworten gefunden worden.
Zwar die erste Nachricht, dafi damit das Bruch stuck einer
Quelle unserer Evangelien entdeckt worden sei, bestatigte
tlber die jiingsten Entdeckungen. 323
sich nicht: der Inhalt der Spriiche zeigte, dafi sie einer se-
kundaren Tradition entstammen ; aber es ist doch etwas ganz
ISTeues, was uns hier geschenkt worden ist — das Fragment
einer Sammlung von Spriichen Jesu aus dem zweiten oder
dritten Jahrhundert, in der ohne Zusammenhang Spruch
an Spruch (ein jeder eingefiihrt durch ,,Jesus spricht")
gereiht war. Unter ihnen decken sich. einige fast ganz mit
den kanonischen Spriichen; and ere aber sind neu, und
wenn sie auch nicht zuverlassig sind, so sind sie doch
ernsthaft und tief und zeigen, wie sich die altesten Christen
das Selbstzeugnis und die sittlichen Grebote Christi ver-
deutlicht und eingepragt haben.
Die Kritik konnte es wahrscheinlich machen, dafi diese
Spriiche samtlich oder zu einem Teile einem sehr alten
Evangelium entstammen, dem Agypterevangelium , das im
zweiten und dritten Jahrhundert ein gewisses Ansehen ge-
nossen hat, jetzt aber bis auf wenige Bruchstiicke verloren
ist. Die Hoffnung, dafi es in Agypten wieder aufgefunden
werden wird, ist nicht aufzugeben. Unterdessen haben wir
von dort im Jahre 1892 ein grofies, zusammenhangendes
Bruchstiick einer anderen alten, fur immer verloren ge-
glaubten Evangelienschrifb erhalten, die der ersten Halfte
des zweiten Jahrhunderts angehort — des Petrusevan-
geliums. Dieser Fund — wir verdanken ihn Bouriant —
war ein wirkliches Ereignis auf dem Grebiete der urchrist-
lichen Literatur. Denn seit dem dritten Jahrhundert hat
die abendlandische Kirche aufier jungen und geschichtlich
wertlosen apokryphen „ Evangelien" nichts Neues mehr zur
Kenntnis bekommen, was sich auf die Leidens- und Auf-
erstehungsgeschichte Jesu bezieht. Das uns geschenkte
Bruchstiick des Petrusevangeliums enthalt aber in zu-
sammenhangender Darstellung einen Bericht iiber diese
Vorgange. Es ist den meisten Lesern bekannt; denn es
ist seiner Zeit iiberall iiber den Inhalt berichtet worden.
Das Petrusevangelium , wenn es auch unseren Evangelien
21*
324 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
gegeniiber in mancher Hinsicht sekundar 1st, erzahlt
doch noch die G-eschichte Jesu ganz in ihrem Stile nnd
darf daher zur christlichen Urliteratur gerechnet werden.
Auch ist es keineswegs wahrscheinlich, dafi es lediglich
eine Nacherzahlung oder ein Auszug ist, vielmehr mufl es
als ein selbstandiger, spaterer Zweig der alten Evangelien-
literatur betrachtet werden und zeigt sich in einzelnen
Ziigen ihnen ebenbiirtig. Leider bricht es gerade dort ab,
wo wir berechtigt sind, die wichtigsten Aufschliisse von
ihm zu erwarten; denn es steht fest, dafi es keine Er-
scheinungen Jesu in Jerusalem erzahlt hat, sondern nur
von solchen in Gralilaa wufite. Aber eben dort, wo der
Bericht iiber die erste Erscheinung — und zwar vor Petrus
und einigen anderen Jiingern — beginnt, hat ein neidisches
G-eschick uns die Fortsetzung vorenthalten.
Nichts ist in der urchristlichen TJberlieferung, und da
her auch in den kanonischen Evangelien, so abweichend
erzahlt als die Erscheinungen Jesu nach der Konstatierung
des leeren Grabes. Ort, Zeit, Personen, Zahl der Erschei
nungen — alles ist verschieden, und daher ist das, was
wirklich geschehen ist, und wie es geschehen ist, sicher
iiberhaupt nicht mehr zu ermitteln. Zu den bisher be-
kannten Berichten hat Karl Schmidt jiingst in einer
alten koptischen Handschrift einen neuen gefunden, der
wahrscheinlich der ersten Halffce des zweiten Jahrhunderts
angehort und schon deshalb zur Urliteratur gerechnet
werden mufi, weil er sich an keines der kanonischen Evan
gelien bindet und die Jiinger in der ersten Person er-
zahlen lafit. Er ist dem unechten SchluB des Markus am
meisten verwandt; aber er lafit den Herrn zuerst den
Frauen erscheinen und erzahlt auch, Petrus habe seine
Finger in die Nagelmale Jesu gelegt, Thomas in den
Lanzenstich an der Seite. So schwankend waren noch
diese Berichte. Erst nach der Kanonisierung der vier
Evangelien ist der Flufi der Legendenbildung zum Stehen
Uber die jtingsten Entdeckungen. 325
gekommen. Dieselbe Handschrift, in welcher Sclimidt diese
neue Relation der Erscheinungen Jesu ermittelt hat, ent-
halt auch einen unbekannten Parallelbericht zu der Gre-
schichte von dem gefangenen Petrus (Apostelgesch. 12).
Das fiihrt nns zu dem apostolischen und nachapostolischen
Zeitalter hinuber.
2. Fur das Zeitalter der Apostel im engeren Sinne
des Wortes haben wir neue Quellen nicht erhalten, wohl
aber fur die Zeit von ca. 90 — 160 n. Chr., und auflerdem
ist unser Schatz von altesten, noch dem zweiten Jahrhundert
(oder dem Anfang des dritten) angehorenden Apostel-
Legenden sehr bedeutend verrnehrt worden. Diese Legen-
den aber sind fur die Kenntnis der Interessen der Zeit, in
der sie verfafit sind, eine Quelle ersten Ranges.
An der Spitze der Entdeckungen steht der Fund des
griechischen Erzbischofs Bryennios. In einer Konstanti-
nopolitaner Handschrift (sie befindet sich jetzt in Jerusalem)
des elften Jahrhunderts fand er eine bisher ganz unbe-
kannte altchristliche Schrift und zwei andere, die nur zum
Teil bekannt waren. Jene, ,,Die Lehre der zwolf Apostel",
in der ersten Halfte des zweiten Jahrhunderts verfafit,
stellt eine Art von Katechismus dar; aber nicht einen
Katechismus der Lehre, sondern ein kurzes Handbuch fur
das christliche Leben in seinen privaten, sozialen und kul-
tischen Beziehungen. Eben die Absicht des Verfassers, alles
Besondere zu vermeiden und nur die groBen Grrundziige der
christKchen Lebenspraxis in Form von Normen zusammen-
zufassen, gibt dem Biichlein einen einzigartigen Wert als
historischer Quelle; zugleich aber erwies es sich als die
Wurzel einer weit verzweigten pseudapostolischen kirchen-
rechtlichen Literatur, die bis in das Mittelalter hineinreicht.
Schon der Entdecker selbst konnte dies an zwei groBen
Beispielen schlagend nachweisen; von G-ebhardt gelang
es, das Bruchstiick einer lateinischen Ubersetzung aufzu-
finden, und seitdem sind zahlreiche Umformungen und Be-
326 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
arbeitungen der kleinen Sckrift ans Licht getreten. Fiir
viele Probleme der Geschichte der kirchlichen Gesetzgebung
hat dieser Fund den Schliissel geboten, und noch ist augen-
scheinlich seine Bedeutung nicht erschopft. — Die beiden
Schriften, die erst durch Bryennios vollstandig bekannt
geworden sind, bieten auch ein besonderes Interesse. Das
alteste und vornehmste Schreiben einer christlichen Gemeinde
an eine andere, der Brief der Gemeinde von Rom an die
Korinther aus der Endzeit Domitians, war noch vor drei-
undzwanzig Jahren nur unvollstandig bekannt. Nur eine
einzige Handschrift, und zwar eine Bibelhandschrift, bot
es, aber der Schlufi fehlte. Bryennios entdeckte es zuerst
vollstandig in jenem Manuskript, welches die Apostellehre
enthalt; bald darauf wurde es in der Bibliothek des ver-
storbenen Pariser Gelehrten Mo hi syrisch gefunden, und
endlich zog es Morin aus einer belgischen Handschrift
lateinisch ans Licht. Der nun erst bekannt gewordene
Schlufi ist deshalb so wichtig, weil er zeigt, dafi das grofie
sonntagliche Kirchengebet, wie es heute noch in den meisten
Kirchen im Gebrauch ist, in seinen Grundziigen, ja auch
in gewissen Details, bereits am Ende des ersten Jahrhunderts
entworfen war. Das andere Schreiben aber — man zitiert
es gewohnlich als zweiten Brief des Clemens — , welches
ebenfalls nun erst vollstandig ans Licht trat, ist die alteste
christliche Predigt, die wir besitzen. Es lehrt uns, wie
man bald nach der Mitte des zweiten Jahrhunderts in Rom
im Sonntagsgottesdienst gepredigt hat, und ist das wichtigste
Dokument, um festzustellen , mit welchen Mitteln die Ge
meinde von ihren berufenen Geistlichen damals erbaut
worden ist.
Diese drei Schriftstucke, die beiden Clemensbriefe und
die „ Apostellehre", haben ein paar Jahrhunderte hindurch
in einigen Kirchenprovinzen beim Neuen Testamente ge-
standen. Die Geschichte desselben und seiner bestimmten
Umgrenzung und Uniformierung ist in den letzten zwei
tjber die jiingsten Entdeckungen. 327
Jahrzehnten besonders eifrig studiert worden, und dabei
sind viele neue Tatsachen ans Licht getreten. Mo mm sen
fand in einer englischen und einer Sanktgallener Handschrift
ein Verzeichnis der Schriften des neuen Testaments, wie
dasselbe um die Mitte des 4. Jahrhunderts , kurz vor
dem Abschlufl durch Hieronymus und Augustin, im Abend-
land gelesen wurde. De Boor konnte in einem byzanti-
nischen, in England befindlichen Kodex ein paar neue
Fragmente aus der Schrift des Papias nachweisen. Diese
bis auf kleine, aber hochst wertvolle Bruchstiicke verlorene
Schrift enthielt die alteste Auslegung der Evangelien und
ist fur die Entstehungsgeschichte des Neuen Testaments
und fur die Johannes-Frage von besonderer Bedeutung.
Durch eines der von De Boor entdeckten Fragmente ist
es deutlich geworden, dafi sie nicht schon der Zeit Hadri
ans, sondern der der Antonine angehort. Vor allem aber
sind zwei Schriftstiicke entdeckt worden, die man bisher
fast nur dem Namen noch gekannt hatte und die dock
einst in mehreren Landeskirchen ein hones, fast kanonisches
Ansehen genossen haben — die ^Apokalypse des Petrus"
und ,,die Akten des Paulus".
Die apokalyptische Literatur der alten Kirche verdient
eine besondere Aufmerksamkeit; denn nicht nur verbindet
sie das Christentum mit seinen jiidischen Urspriingen —
die meisten Apokalypsen sind jiidisch und von den Christen
einfach ubernommen — , sondern es treten auch in ihr
Stimmungen und Tendenzen deutlich hervor, die weitver-
breitet waren, aber in der offentlichen Lehre zuriickgedrangt
und zuletzt durch sie nahezu ausgetilgt worden sind. Es
ist daher wohl begreiflich, dafi ein englischer Grelehrter,
James, es sich zur Lebensaufgabe gesetzt hat, alle Reste
jener Literatur aufzuspiiren und zu sammeln. Durch seine
Bemiihungen und die Anderer ist unsere Kenntnis dieser
Apokalypsen sehr vermehrt worden. Namentlich aus slavi-
scher und aus agyptischer "Uberlieferung haben wir Neues
328 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
erlialten: in Akhmim in Agypten wurde von Bouriant
ein grofies Bruchstiick der alten Henoch-Apokalypse
griechisch gefunden, jenes Offenbarungsbuch.es, welches im
Judasbrief als eine Autoritat zitiert wird; ein anderes
Henochbuch ist in altslavischer Sprache entdeckt und von
Bonwetsch mitgeteilt worden; aus derselben Uberlieferung
stammt ein neues Baruchbuch; die alte, besonders wertvolle
Elias-Apokalypse ist koptisch aufgefunden und wird —
vielleicht zusammen mit einem Fragment einer Sophonias-
Apokalypse — demnachst von Steindorff veroffentlicht
werden; das Bruchstiick einer interessanten Moses-Apoka-
lypse hat Karl Schmidt herausgegeben. Aber am wichtig-
sten war die Auffindung eines grofien Fragments der Petrus-
Apokalypse; es wurde in einem Grabe in Akhmim entdeckt,
und zwar in derselben Handschrift, die das Petrusevangelium
(s. o.) enthalt. Die Petrusapokalypse , die freilich ebenso-
wenig von dem Apostel herriihrt, wie das Evangelium, ist
ein uraltes christliches Buch, welches in Rom und Agypten
zeitweilig ein ahnliches Ansehen genofi wie die Johannes-
Apokalypse, aber inhaltlich tief unter ihr steht. Der Ver-
fasser erzahlt, wie er in den Himmel und in die Holle ge-
fuhrt worden ist, um die Seligkeit der Grerechten und die
Qualen der Sunder zu schauen. Von diesem Buche lauft
eine feste Kette der Uberlieferung bis zu Dantes grofiem
Werk; aber sie steigt noch hinter der Petrus-Apokalypse
weit hinauf; denn das Thema der Schilderung der Unter-
welt mit ihren Strafen ist schon in vorchristlicher Zeit
den Grriechen, ja den Babyloniern bekannt gewesen.
Mit der Entdeckung der ,,Akten des Paulus", die von
der kanonischen Apostelgeschichte ganz verschieden sind,
hat es eine eigentumliche Bewandtnis. Von diesem AVerk,
welches seit dem Anfang des 3. Jahrhunderts zitiert wird,
war bis vor kurzem nur der Umfang bekannt, dazu ein
paar Heine unbedeutende Fragmente. Nur vermuten konnte
man, dafi zahlreiche Paulus-Legenden, die seit Alters
tTber die jtingsten Entdeckungen. 329
in der Kirche umliefen, ihre Wurzel an diesem Buche
haben, bez. zu iTrm gehoren. In den alien armenischen
Bibeln steht nun neben den zwei bekannten Briefen
des Paohis an die Korinther noch ein dritter als Antwort
auf ein, ebenfalls in das armenische Neue Testament auf-
genommenes Schreiben der Korinther an den Apostel.
Beide Briefe sind durch ein kleines Erzahlungsstiick mit-
einander verbunden. Der Briefwech.se! ist jedenfalls un-
echt; aber als die Tatsache seiner Existenz — nnd zwar
in Bibeln! — im 17. Jahrhundert den abendlandischen
G-elehrten bekannt wurde, muflte sie notwendig Aufsehen
erregen. Mochte der Brief des Paulus nun echt oder un-
echt sein — in beiden Fallen war die Sache beunruhigend.
Ist er echt, wie konnte er in alien nicht armenischen Bibeln
fehlen; ist er unecht, wie konnte es Gfott zulassen, dafi ein
falscher Paulusbrief in Bibeln Aufnahme gefunden hat!
Der gelehrte Berliner Bibliothekar La Croze vermutete
scharfsinnig , der falsche Briefwechsel habe urspriinglich
in den verlorenen ,,Akten des Paulus" gestanden und sei
von dort zu den Arrneniern gelangt. Aber man beachtete
diese Hypothese kaum. Da wurde in unseren Tagen nach-
gewiesen, dafi auch die alte syrische Kirche im 4. und
5. Jahrhundert den Briefwechsel in ihrem Neuen Testament
gehabt hat; ihr beriihmtester Exeget, Ephraem, hat ihn in
seinem groflen Kommentar zu den paulinischen Briefen
mit ausgelegt. Die armenische Kirche stand nun nicht
mehr allein; auch die syrische hat diese Korrespondenz
einst unter ihren heiligen Schriften besessen; sie hat sich
nur fruher als jene davon uberzeugt, dafi sie unecht sei,
und sie wieder ausgeschieden. Kaum war diese Tatsache
bekannt geworden, die die Annahme zerstorte, die Korre
spondenz sei ein Erzeugnis der armenischen Kirche, da
publizierten die beiden franzosischen Grelehrten Carriere
und Berger eine alte lateinische Ubersetzung derselben.
Sie hatte sich in einer Bibelhandschrift des 10. Jahr-
330 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
hunderts in Mailand gefunden, und bald darauf gelang es
Bratke, ein zweites Exemplar in einer Bibel zu Laon
nachzuweisen. Also in Armenien, in Syrien und in den
Sprengeln von Mailand und Laon war der falsche Ko-
rintherbrief des Paulus nachgewiesen , aber nirgendwo auf
griechischem Grebiet! Trotzdem nahm Zahn die Hypo these
La Crozes wieder auf, dafi die Korrespondenz aus den
griechisch-geschriebenen ,,Akten des Paulus" stamme, und
er hat Recht behalten; denn vor wenigen Monaten wies
Karl Schmidt nach, dafi ein grofies Konvolut von kop-
tischen Papyrus-Fragmenten aus Agypten, das nach Hei
delberg gekommen war, Eeste der verlorenen Paulusakten
enthalte — er entdeckte die Unterschrift 7,Akten des Pau
lus" — , und mitten unter diesen Bruchstiicken fand sich
als ein Bestandteil derselben die falsche Korrespondenz
des Paulus mit den Korinthern!
Damit war festgestellt, dafi die Falschung nicht jiinger
ist als die Zeit Mark Aurels; denn spater kann man die
7.Akten des Paulus" nicht ansetzen. Der Briefwechsel hat
durch diese Datierung einen hohen Wert erhalten; denn er
zeigt nun, wie man sich in der Christenheit den Apostel
Paulus hundert Jahre nach seinem Tode gedacht hat. Er
ist hier als der Bekampfer des Grnostizismus vorgestellt,
des schlimmsten inneren Feindes, den die sich zum Katho-
lizismus entwickelnde Kirche des zweiten Jahrhunderts be-
sessen hat. Aber noch ein Anderes haben wir durch
Schmidts Entdeckung gelernt, namlich, dafi eine Reihe
von Pauluslegenden, die in zahlreichen Verbreitungen und
Verastelungen in der alten Kirche und im Mittelalter be-
kannt waren, ebenfalls aus den „ Paulusakten" stammen und
somit schon dem zweiten Jahrhundert angehoren. Das
gilt vor allem von jener anmutig erzahlten Novelle „ Pau
lus und Thekla", die, langst bekannt, doch als ein Eatsel
vor uns stand; denn auch sie ist jetzt von Schmidt als
ein Bestandteil der alten ^Paulusakten" nachgewiesen. Ihr
Uber die jlingsten Entdeckungen. 331
Verfasser, ein kleinasiatischer Presbyter, war ein Fabulist,
der unbekummert um geschichtliche Wahrheit, aber nicht
ohne Talent, Paulusgeschichten einfach erfunden hat, um
den Apostel zu verherrlichen und zeitgenossische Gregner
zu bekampfen. Den Hahmen seiner Erzahlungen entnahm
er teils den neutestamentlichen Schriften, teils der Zeitge-
schichte, ohne sich um Anachronismen und andere Ver-
stofie Sorge zu machen. Namentlich den vornehmen christ-
lichen Frauen suchte er zu gef alien, indem er ihren Anteil
an der Ausbreitung des Evangeliums, der ja wirklich nicht
gering gewesen ist, steigerte und sie in die innigsten per-
sonlichen Beziehungen zu dem groBen Heidenapostel setzte.
Fiir das Ideal der Virginitat schwarmte er, wie spater der
christliche Novellist Hieronymus, und er weifi auch schon
wie dieser, den platonischen Beziehungen Reiz und Farbe
zu geben. Neben der Kreuzigung des Fleisches bildete
die leibliche Auferstehung eines seiner Hauptthemata; in
den Darstellungsmitteln zeigt er sich gewandt und viel-
seitig: bald la-fit er Briefe schreiben, bald legt er Novellen
ein, bald versucht er Spruchreden, wie sie Jesus gehalten,
zu kopieren und zeigt uns den grofien Apostel auf alien
Hauptplatzen seiner "Wirksamkeit, in Ikonium, Ephesus,
Philippi, Korinth, Rom. Auch mit dem Kaiser Nero fiihrt
er ihn personlich zusammen und schildert zuletzt mit den
lebhaftesten Farben die Umstande seines Martyrertodes.
Wie merkwiirdig, dafi schon hundert Jahre nach dem
Tode des Paulus eine erbauliche novellistische Biographie
von einem Greistlichen geschrieben worden ist und in der
Christenheit solchen Anklang gefunden hat, dafi das Buch
fast in das Neue Testament gekommen ware! Zum Grliick
ist das nicht geschehen; ja sein Verfasser hat, wie uns
Tertullian berichtet, sein kiihnes Wagnis mit Absetzung
biifien miissen. Aber diese Exekution ist nicht uberall in
der Kirche bekannt geworden. So hat z. B. die agyptische
bis zum Anfang des vierten Jahrhunderts das weltlich-geist-
332 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IY.
liche Fabelbuch als ernsthafte Geschichtserzahlung hochge-
halten, ja wahrscheinlich sogar in Q-ottesdiensten lesen lassen.
Die ,7Akten des Paulus" sind nicht die einzige apokryphe
Apostelgeschichte, die wir erhalten haben, wenn auch die
wichtigste. Abgesehen von jiingeren Stoffen, die nns Bonnet
zuganglich gemachthat, verdanken wir Lips ius alte ,jPetrus-
akten" aus einer Handschrift in Vercelli und James ein gro-
Bes Bruchstiick von ,,Johannesakten", die er in einem Wiener
Kodex gefimden hat. Wahrend die ersteren gut katholisch
sind, wenn sie anch manches Befremdliche enthalten, und
sich als die Wurzel der zahlreiehen Petruslegenden erwiesen
haben, deren letzte Quelle wir friiher nicht kannten, gehoren
die Johannesakten, wie es scheint, der gnostisch-christlichen
Literatur an. Aber auch sie haben auf die Zeichnung des
kirchlichen Bildes der Apostel, speziell des Johannes, einen
bedeutenden Einflufi ausgeubt. Yieles Extreme, was man
bei den gemeinen Christen nicht fur passend hielt, ertrug
man nicht nur in der Vorstellung von den Aposteln, sondern
hob es geflissentlich hervor, um ihre Ubermenschlichkeit
ins Licht zu setzen. Eine "Weltverachtung z. B., die bei
einem gewohnlichen Christen als Verachtung des Schopfer-
Grottes ausgelegt wird, ist bei einem Apostel nur ein Beweis
seiner Welterhabenheit, und ein asketischer Bigorismus, auf
den die Strafe der Exkommunikation gesetzt war, gilt bei
Johannes, Philippus oder Thomas als Zeugnis ihrer Tugend-
strenge. — Zur Vermehrung unserer Kenntnis der ,,apo-
kryphen" Stoffe gehort auch eine deutlichere Einsicht in
die Entstehungs- und Verbreitungsgeschichte der Legende
von dem Briefwechsel Jesu mit dem Konig Abgar von
Edessa. Bekanntlich wissen unsere Evangelien nichts da-
von, dafi Jesus etwas Schriftlich.es verfafit hat; das Einzige,
was er geschrieben hat, hat er in den Sand geschrieben
(Greschichte von der Ehebrecherin). Auch die alte kirchliche
und haretische Tradition ist hier in der Legendenbildung
sehr zuriickhaltend gewesen. Nur die Kirche von Edessa
tft>er die jiingsten Entdeckungen. 333
in Syrien hat sehr bald, nachdem das Christentum dort
feste Wurzeln geschlagen hatte (urn das Jahr 200) und
selbst in das Konigshaus gedrungen war, einen Brief des
Konigs Abgar an Jesus — er moge zu ihm nach Edessa
kommen und ihn heilen — und ein Antwortschreiben Jesu
erfunden. Diese, iibrigens harmlose und in schlichten "Wor-
ten konzipierte Falschung ist der Keimpunkt fur eine ganze
Reihe von bunten Legenden geworden, die ihren Weg in
alle Kirchen gefunden haben. G-anzlich aufgehellt ist noeh
langst nicht alles; aber die Forschung ist doch ein gutes
Stuck vorwarts gekommen auf Grrund neuer Texte, die ihr
zugefuhrt worden sind.
3. In den Johannesakten haben wir, wie oben mit-
geteilt, ein Bruchstuck aus der alten gnostischen Literatur
erhalten. Diese Literatur, die im zweiten Jahrhundert sehr
reichhaltig gewesen ist, ist fast nur in abgerissenen Frag-
menten auf uns gekommen; denn die Kirche hat die Werke
ihrer Feinde vernichten miissen. Den Untergang beklagen
wir nicht nur darum, weil sich Schriften von grofiem
wissenschaftlichen Wert und von hoher philosophisch-
poetischer Kraft unter ihnen befunden haben, sondern vor
allem darum, weil wir die Entstehung der katholischen
Kirche des dritten Jahrhunderts nur in dem Mafie wirklich
durchschauen konnen, als wir uns eine voile Einsicht in
jene Literatur zu verschaffen vermogen; denn die katho-
lische Earche, von innen betrachtet, ist nichts anderes als
die gnostische Gegenkirche, die aber doch nicht wenig
^Grnostisches" hat aufnehmen miissen. Um so dankbarer
sind wir Karl Schmidt, der uns nicht nur mit der Uber-
setzung von zwei groCen gnostischen Originalwerken be-
schenkt hat, die koptisch erhalten sind, sondern der auch
jiingst aus Agypten weitere gnostische Schriften nach
Berlin gebracht hat, von denen eine sicher nicht j linger
ist als die Zeit Mark Aurels und von Irenaus in seinem
grofien Werk, in welchem er die Systeme der Haretiker
334 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IT.
darstellt und widerlegt, benutzt worden 1st. Unsere Kennt-
nis des G-nostizismus hat durch diese Funde die bedeu-
tendste Forderung erfahren, und auch der Zusammenhang
nnd Gregensatz, der zwischen Grnostizismus und Neuplatonis-
mus besteht, hat ein iiberraschendes Licht empfangen und
kann jetzt sicherer bestimmt werden.
4. Dem Teil der altchristlichen Literatur, welcher aus
dem feindlichen Verhaltnis des romischen Staats und der
Gesellschaffc zum Christentum entsprungen 1st, wird auch
von Nicht-Theologen ein besonderes Interesse entgegeii-
gebracht. In den letzten Jahren sind wir hier besonders
reichlich beschenkt worden. Mcht nur haben die Bollan-
disten ihre seit mehr als zwei Jahrhunderten betriebene
Arbeit, alles, was sich auf Martyrer und Heilige bezieht,
zu sammeln, fortgesetzt, und uns Jahr urn Jahr auch ISTeues
gebracht, sondern man hat auch begonnen, die in syrischer,
armenischer und koptischer Sprache erhaltenen Martyrer-
und Heiligenleben herauszugeben und die alten Kirchen-
kalender der Forschung zuganglich zu machen. Diese
Studien sind schon so weit gediehen. daC es mit Hilfe eines
alten syrischen Kalenders (die Handschriffc stammt aus dem
Anfang des fdnften Jahrhunderts) gelingen konnte, als die
Wurzel der meisten Kirchenkalender einen arianischen Ka-
lender der Diozese Mkomedien aus der Zeit Konstantins
zu ermitteln. Dieser fufit hochstwahrscheinlich auf den
martyrologischen Sammlungen des Kirchenhistorikers Euse-
bius, die leider grofitenteils untergegangen sind. Doch ist
seine IJbersicht iiber die palastinensischen Martyrer zur
Zeit Diokletians in zwei von ihm selbst verfafiten Grestalten,
einer kiirzeren und einer langferen, die nur syrisch auf uns
gekommen ist, erhalten. Mit Hilfe der letzteren konnte
Violet eine Reihe bisher unbekannter oder wenig beach-
teter griechischer Martyrien auf Eusebius zuruckfiihren und
damit ihre Echtheit erweisen.
Unter den neuen Texten von Martyrerakten, die uns
tiber die jiingsten Entdeckungen. 335
geschenkt worden sind, sind namentlich fiinf hervorzuheben.
A u be fand in einer Pariser Handschrift das Martyrium
des Karpus, Papylus und der Agathonike, welches Eusebius
in der Kirch.engeschich.te zitiert hat. Es beleuchtet die
Verfolgung unter Mark Aurel in Kleinasien nnd ist aus-
gezeichnet durch viele charakteristische Einzelziige, die fur
die Eigenart des asiatischen Christentums wichtig sind.
Eine zweite Martyrerakte, die Eusebius zitiert hat und die
man bisher verloren glaubte, gab Conybeare aus dem
Armenischen her aus, das Martyrium des Apollonius in Rom
und bald fand sich auch ein griechischer Text. Dieses
Schriftstiick ist teils der interessanten juristischen Fragen
wegen, die es anregt, wichtig geworden, teils um der aus-
fuhrlichen Reden willen, die Apollonius vor den Richtern
gehalten hat. Das Martyrium fallt in die Zeit des Commo-
dus. Ferner wurde die alteste nordafrikanische Martyrer-
akte entdeckt, der Prozefi der Martyrer von Scili im Jahre
181, authentisch nach den G-erichtsakten aufgezeichnet und
neben der lateinischen Bibeliibersetzung wohl das alteste
Denkmal des Christentums in lateinischer Sprache. Auch
eine griechische Rezension dieses Martyriums ist in einer
Jerusalemer Handschrift gefunden worden und in derselben
Handschrift eine solche des beruhmten Prozesses der Per-
petua und Felicitas — die Aufzeichnung ihrer Leiden,
Yisionen und Gesprache ist eine der wichtigsten Quellen
fur die alteste Greschichte des Christentums in Karthago.
In einer Venetianer Handschrift fand von Grebhardt die
umfangreichste Martyrerakte, die wir fur die Zeit des De-
cius besitzen, die Greschichte des Pionius, ausgezeichnet
durch die Fulle konkreter Ziige, und Bonwetsch gab ein
ganz einzigartiges Aktenstlick heraus, das Testament der
vierzig Martyrer von Sebaste, und zeigte, dafi es echt und
zuverlassig sei.
Aber diese Funde, so willkommen sie waren, sind doch
uberstrahlt worden durch eine Entdeckung, die sich auch
336 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
die kiilinste Phantasie nicht traumen lassen konnte. Wir
wufiten aus den Kirchenvatern, dafi zur Zeit der grau-
samen Verfolgung des Decius viele Cliristen dem sicheren
Tode dadurch entronnen sind, dafi sie sich for Greld von
den Magistraten Bescheinigungen (libelli) ausstellen liefien,
sie hatten geopfert, wahrend sie in Wahrheit nicht geopfert
hatten. Die Kirche beurteilte das als Liige nnd Verleugnung,
und nach Ablauf der Verfolgung wurden diese ungliick-
lichen Leute teils exkommuniziert, teils mit harten Strafen
belegt. Dafi die Denkmaler ihrer Schande, jene nlibelliu,
bis auf unsere Zeit koninien wurden — wer konnte daran
denken! Und doch ist es geschehen. Zwei dieser unschein-
baren Zettel haben sich. in dem alles konservierenden agyp-
tischen Sande erhalten. Den ersten fand Krebs in einem
Haufen von Papyrus, die nach Berlin gekommen sind, den
anderen Wessely in der Sammlung der Papyrus des Erz-
herzogs Rainer. ^Ich, Diogenes, habe stets geopfert und
Spenden getan und in Eurer (der Beamten) G-egenwart
von dem Opferfleisch gegessen, und ich bitte Euch, es mir
zu bescheinigen. " Und nun folgt die Bescheinigung des
Beamten. Wer vermag ohne innere Bewegung diese Zettel
heute zu lesen und die Not, den Jammer und die Seelen-
qualen zu ermessen, unter denen die Christen damals zu-
sammengebrochen sind!
Dem triiben Bilde mag ein erhebendes folgen. Eusebius
in seiner Kirchengeschichte erzahlt uns, dafi die ersten
literarischen Verteidiger des Christentums gegeniiber der
heidnischen "Welt und dem romischen Staat zwei Grriechen,
Quadratus und Aristides, gewesen seien. Er hat ihre
Schutzschriften fur das Christentum, die er in die Zeit Hadrians
setzt, noch gekannt; uns aber galten sie bis vor kurzem
als spurlos verloren. Da tauchte zuerst in einer armenischen
Handschrift ein Bruchstiick auf, welches sich als der An-
fang der Apologie des Aristides gab. Hervorragende G-e-
lehrte hielten es fur unecht, andere aber fur echt. Der
"Cfber die jiingsten Entdeckungen. 337
Streit liefl sicli nicht entscheiden, bis Harris im Katharinen-
Kloster auf dem Sinai die ganze Apologie in syrischer
tibersetzung fand. An der Echtheit zweifelte mit Recht
niemand, so deutlich trug sie den Stempel des zweiten
Jahrhunderts, und auch das armenische Fragment war ge-
rechtfertigt; denn wirklich hot der Syrer das betreffende
Stiick fast gleichlautend. Die Entdeckung dieser Apologie
war ein Fund ersten Ranges; denn sie ist alter als die des
Justin; sie enthalt eine breite Schilderung des Lebens oder
doch der Normen der Christenheit um die Mitte des zweiten
Jahrhunderts und sie erweiterte unsere Kenntnis der Apo-
logetik der altesten Theologen sehr bedeutend ; denn Aristides
unterscheidet sich in wesentlichen Stiicken von der apolo-
getischen Methode seiner Nachfolger. Eine sehr merk-
wiirdige uberlieferungsgeschichtlicke Tatsache trat aber
gleich nacn der Entdeckung zu tage. Man erinnerte sich,
Vieles, was die Aristides-Apologie bot, schon anderswo ge-
lesen zu haben, und wies nach, daB in eine der verbreitet-
sten Legenden des friihen Mittelalters, die griechisch nieder-
geschrieben, aber in ein Dutzend von Sprachen iibersetzt
ist, in die Legende von Barlaam und Josaphat, ein grofier
Teil der Rede des Aristides Aufnahme gefunden hat. Der
Legendenschreiber, der iibrigens auf der beriihmten Buddha-
Legende fufit, hat es sich leicht gemacht und statt eine
Verteidigungsrede fur das Christentum selbst zu verfassen,
die Apologie des Aristides Kapitel fur Kapitel gepliindert.
So besafi man in jener erbaulichen Novelle bereits den
grofiten Teil der alten Schrift, ohne es zu ahnen! - - Aus
dem Werke eines anderen Apologeten, der ein sehr frucht-
barer kirchlicher Schrifbsteller gewesen ist, Melito Bischof
von Sardes (um 170), entdeckte der Kardinal Pitra ein
Bruchstiick in einer venetianischen Handschrift, und
Mercati fand dasselbe Stiick in einer Mailander. Es
handelt sich um die Schrift iiber die Taufe, den alte
sten Traktat, der in der Kirche iiber dies Sakrament ge-
Harnack, Reden nnd Aufsatze. 2. Aufl. L 22
338 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
schrieben worden 1st, und der bisher fur spurlos verschwun-
den gait.
Auf die zahlreichen cliristlichen Inschriftenfunde 1st
hier nicht einzugehen, teils well das anf ein anderes G-ebiet
fiihren wiirde, teils weil fast alle literar-historisch unbedeutend
sind. Auf altchristlichem Grebiete spielen die Inschriften
nicht die hervorragende Rolle, die ihnen fiir die Profan-
gesch.ich.te zukommt. Aber einige Ausnahmen sind doch
vorhanden. So war es keine geringe Freude, als Ramsay
in Hieropolis in Phrygien das Grrabmal des Abercius fand,
dessen poetische Inschrift handschriftlich lange bekannt
nnd hochberiihmt war. Nun konnte man die Verse von
dem freilich nicht vollkommen erhaltenen Steine selbst ab-
lesen. Ob sie der Zeit um 200 angehoren, dariiber entstand
kein Streit; aber eine lebhafte Kontro verse entspann sich,
ob sie uberhaupt christlich, und wenn christlich, ob ka-
tholisch oder gnostisch seien. Die Bezweiflung des christ-
lichen Charakters — weil in der Inschrift von der reinen
Jungfrau, von Brot, Wein und Fisch die Rede — wurde
zuerst wie ein Attentat auf das Heilige und zugleich als
absurd angesehen. Allein, wenn auch die Verteidiger die
christliche Herkunft der Verse wahrscheinlich machen
konnten — die Annahme, dafi Fremdes hier eingemischt
sei, liefi sich nicht leicht widerlegen. Zur Zeit ist ein
Waffenstillstand eingetreten, und man mufl abwarten, ob
neue Momente geltend gemacht werden, welche die Frage
entscheiden.
In einem anderen Fall konnte die Literaturgeschichte
der Inschriftenforschung zu Hilfe kommen. Eine oster-
reichische wissenschaftliche Expedition fand in Arykanda
in Lycien eine Inschrift, lateinisch und griechisch, die in
ihrer ersten Halfte ein stark verstummeltes Fragment eines
Reskripts des Kaisers Maximinus Daza, in der zweiten die
Petition einiger Stadte bringt, der Kaiser moge gestatten,
die Christen aus ihrem Weichbilde auszuweisen. Das Re-
tTber die jiingsten Entdeckungen. 339
skript enthalt die Grewahrung der Bitte. Man erinnerte
sich, daC Eusebius in seiner Kirchengeschichte erzahlt, der
Kaiser habe selbst solclie Petitionen der Stadte veranlaflt,
und daB er Proben derselben, sowie der kaiserlichen Ant-
worten mitteilt. Eine Vergleichung mit der neuentdeckten
Inschrift ergab sofort, dafi Eusebius so zuverlassig berichtet
hat, daft man die Liicken der Inschrift aus seinem Texte,
in das Lateinische zuriickubersetzt, erganzen konnte! Solche
Ealle sind gewifi selten; aber sie sind besonders erfreulich,
da sie die Zuverlassigkeit des Eusebius, und damit des
wichtigsten Zeugen, den wir fur die alte Kirchengeschichte
besitzen, beweisen.
5. Dem Umfange nach am bedeutendsten sind die
Entdeckungen, welche sich auf die Werke der Kirchenvater
des dritten und des anfangenden vierten Jahrhunderts be-
ziehen. Den systematischen und unermiidlichen £Tach-
forschungen von Achelis und Bonwetsch gelang es, die
grofitenteils nur in Eragmenten erhaltenen Werke des ersten
wissenschaftlichen Theologen der romischen Kirche, Hippolyt,
aus mehr als zwanzig Bibliotheken zu sammeln. Dabei
konnte sein Kommentar zum Propheten Daniel, der fruher
ganz unbekannt war, aus einer slavischen Ubersetzung und
aus grofien griechischen Bruchstiicken vom Athos und
aus Chalkis vollstandig wiederhergestellt werden. Dieser
Kommentar enthalt viele Beziehungen auf die Zeitgeschichte
(Zeit des Kaisers Septimius Severus) und ist daher als ge-
schichtliche Quelle von hohem Werte. Auch von dem
Werke des Gregners Hippolyts, des romischen Presbyters
Cajus, der gegen die Offenbarung Johannes7 geschrieben,
haben sich in einem spateren syrischen Werke Fragmente
gefunden, die Q-wynn pubKziert hat — scharfe Angriffe
auf die Glaubwiirdigkeit des Buchs.
Die Werke der groflen alexandrinischen G-elehrtenschule,
die mit den Arbeiten des Clemens Alexandrinus am Ende
des 2. Jahrhunderts beginnt, sind von der griechischen
22*
340 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Kirclie nur zum kleinsten Teile konserviert worden, well
sie haretisch erscliienen, z. T. auch well ikr Umfang den
Abschreibern zu viel Muhe machte. Die Fragmente aus
verlorenen Schriften des Clemens hat Zahn mit grofier
Umsicht gesammelt und wenig Beachtetes oder Ver-
gessenes ans Licht gezogen. Fiir Origenes und seine
Schiiler hat namentlich der Kardinal Pitra viel getan und
zahlreiche exegetische Fragmente, besonders ans romischen
Bibliotheken , veroffentlicht. Ihm folgt jetzt Kloster-
mann, der die Eeste der alttestamentlichen Kommentare
des Origenes sammelt und uns bereits mit wichtigen Ent-
deckungen beschenkt hat. Das wissenschaffcliche Hauptwerk
des Origenes ist seine groJBe textkritische Ausgabe des
Alten Testaments in sechs Kolumnen gewesen. In die
erste stellte er den hebraischen Text, in die zweite den-
selben Text mit griechischen Buchstaben geschrieben, in
die dritte bis sechste vier verschiedene griechische IJber-
setzungen. Dieses Werk, welches in die Bibliothek von
Casarea in Palastina gekommen ist, ist als Granzes wahr-
scheinlich nie abgeschrieben worden, aber zahlreiche G-e-
lehrte im 3. und 4. Jahrhunderte haben es eingesehen und
Lesarten von dort ubernommen. Nur nach den Be-
schreibungen konnten wir uns bis vor kurzem ein Bild
von dieser Leistung eines staunenswerten FleiBes machen.
Da entdeckte Mercati in der Bibliothek zu Mailand ein
Bruchstiick desselben — einige Psalmen, deren sechsfacher
Text nebeneinander in Kolumnen ganz so geschrieben ist,
wie das von Origenes erzahlt wird. Nun sind wir im-
stande, an dieser Abschrift wirklich in die alttestamentliche
Arbeit des grofien Grelehrten hineinzuschauen, und eben
kommt uns die Kunde, dafi von der Q-oltz auf dem Athos
eine Handschriffc gefunden hat, die uns die Bemuhungen
des Origenes um den Text des Neuen Testaments in einem
neuen Lichte zeigt. Unter den Schiilern des Origenes sind
es namentlich Dionysius der Gro.Ce, Gregorius Thauma-
"ttber die jiingsten Entdeckungen. 341
turgus und Pierius, for die wir neues Material, teils in
griechischer Sprache, teils in syrischen und armenischen
Ubersetzungen erhalten haben. Sehr willkommen ist es
auch, dafl die Bischofe, die unmittelbar vor Athanasins
die alexandrinische Kirche regiert haben, in ein helleres
Licht treten. Zwar ist unsere Kenntnis der inneren Zu-
stande in Alexandrien vor Ausbruch des grofien arianischen
Kampfes noch immer sehr gering; aber wir wissen docli
jetzt — dank Pitra u. A. — mehr von Alexander von
Alexandrien, dem Vorganger des Athanasius, als vor
zwanzig Jahren, und von dessen Yorganger, Petrus, hat
jiingst Karl Schmidt Schriften, bez. Bruchstiicke von
solchen, in koptischer Sprache entdeckt, die neue Auf-
schlusse versprechen.
Petrus, der Bischof, war ein G-egner des Origenes;
mit Sorge betrachtete er den Einnufi der origenistischen
Theologie in der Kirche und suchte sie zu bekampfen.
Einen anderen Gegner, den Zeitgenossen des Petrus, Metho
dius, Bischof von Olympia, kannten wir friiher schon aus
einigen Schriften; aber Bonwetsch hat uns aus slavischen
Ubersetzungen bisher unbekannte Werke dieses Mannes
zuganglich gemacht und ihn und seine Arbeit erst in das
voile Licht geriickt. Wir haben diesen Methodius nun als
einen hervorragenden und einfluBreichen theologischen
Schriftsteller kennen gelernt, der den Platoniker Origenes
auch mit den Waffen Platos zu bekampfen suchte. Aber
Origenes hatte um d. J. 300 nicht nur Anhanger und
Gregner, sondern auch glanzende literarische Verteidiger.
Die bedeutendsten unter ihnen waren Pamphilus und Eusebius.
Jener, ein reicher Mann, legte in Casarea eine grofie Bi-
bliothek an; sie war in erster Linie dazu bestimmt, alles
das zu konservieren, was Origenes geschrieben hat, aber
Pamphilus sammelte auch alle Schriften, die fur die Bibel-
erklarung irgend welchen Nutzen versprachen. Dieser
Bibliothek, die untergegangen ist, nachzuspiiren und solche
342 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Handschriften, namentlich Bibelhandschriffcen, zu bestimmen
und zu sammeln, die sich als Abschriften von Codices der
casareensischen Bibliotliek erweisen, hat man in den letzten
Jahren mit Grliick versucht. Die Sache ist von grofier
Wichtigkeit; denn von jeder Handschriffc, die sich auf jene
Bibliothek zuriickfiihren lafit, gilt, dafi sie auf einem Texte
des dritten Jahrhunderts beruht; aber auch die ortliche Fest-
stellung ist fur viele textgeschichtliche Fragen wertvoll.
In Bezug auf das Werk eines weiteren Zeitgenossen
des Petrus und Methodius hat Caspari eine erfreuliche
Entdeckung gemacht. "Wir kannten langst die in griechi-
scher Sprache verfafiten Dialoge eines gewissen Adamantius
gegen die Marcioniten und andere Haretiker und schatzten
sie als eine wertvolle Quelle; aber die Datierung war
schwierig: einerseits zeigten sie Merkmale, die auf eine
Abfassung vor der Zeit des nicanischen Konzils hinwiesen,
andererseits fanden sich nachnicanische dogmatische Stich-
worte in ihnen. Da entdeckte Caspari in der Bibliothek
zu Schlettstadt eine urn d. J. 400 von Rufin angefertigte
lateinische Ubersetzung dieser Dialoge, und sie zeigte, dafi
die griechischen Handschriften samtlich interpoliert sind;
denn in dieser Ubersetzung fehlten jene nicanischen Stich-
worte. Nun war eine sichere Datierung moglich.
Auf dem Grebiete der altlateinischen christlichen Lite-
ratur sind die Entdeckungen langst nicht so zahlreich ge-
wesen, wie auf dem der griechischen; aber es hat ja auch
nur wenige lateinische christliche Schriftsteller im zweiten
und dritten Jahrhundert gegeben. Fur den einflufireichsten
unter ihnen — seine Werke haben im Abendland ein Jahr
hundert lang dicht bei dem Neuen Testamente gestanden — ,
Cyprian, den ersten grofien Hierarchen, verdanken wir
M o mm s e n einen wertvollen Fund. Dieselben Handschriften,
in denen er ein Verzeichnis der h. Schriften fand (s. o.),
enthalten auch eine ausfuhrliche Liste der Werke und
Briefe Cyprians, mit Angaben iiber den Umfang jedes
tTber die jtingsten Entdeckungen. 343
einzelnen Stiicks. Da diese Liste der Mitte des 4. Jahr-
hunderts angehort, also nur ein Jahrhundert nach Cyprians
Tode niedergeschrieben ist, so 1st sie ein sehr willkommenes
Hilfsmittel, um eine Einsieht in die Greschichte der Samm-
lung und Verbreitung der Cyprianischen Schriften zu ge-
winnen. Neue Traktate dieses Bischofs oder solche, die
unter seinem ISTamen gehen, sind nicht aufgetaucht; aber
die Forschung hat sich in den letzten Jahren eigentlich
zum erstenmal der Gruppe der pseudocyprianischen
Schriften zugewandt, sie gleichsam erst entdeckt und in
ihnen wertvolle Quellen fiir die Kirchengeschichte des
dritten Jahrlmnderts erkannt. Eine wirkliche Bereicherung
unserer Kenntnisse haben ferner die Nachforschungen ge-
bracht, die Haufileiter iiber den verlorenen Kommentar zur
Johannes-Apokalypse des altesten lateinischen Exegeten,
Viktorin von Pettau (um das Jahr 300), angestellt hat,
und ganz neue Aufschliisse iiber die alteste kirchenrecht-
liche Literatur auf dem Boden der lateinischen Kirche
verspricht ein Fund Hauler's. Er entdeckte in einem
Veroneser Palimpseste jene pseudapostolische Didaskalia
in lateinischer tibersetzung , die neben der ,,Apostellehre"
eine Wurzel des altesten Kirchenrechts ist, und die
man bisher nur als Eigentum der griechischen und syri-
schen Kirche gekannt hat. Da auch die ,,Apostellehre"
einst lateinisch existiert hat, dann aber, wie die Didaskalia,
fast spurlos verschwunden ist, so konimt man auf die Ver-
mutung, dafi das alteste griechische Kirchenrecht auf
abend landischem Boden zeitweilig eine bisher noch ganz
unbekannte Greschichte erlebt hat, dafi es aber bald von
anderen Rechtsordnungen verdrangt word en, also iiber blofie
Ansatze nicht hinausgekommen ist. —
344 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Hiermit hoffe ich eine wesentlich vollstandige Uber-
siclit iiber die Funde der letzten 25 Jahre gegeben zu
haben; geschwiegen liabe ich. von alien solchen Entdeck-
ungen, in denen es sich nur um neue Handschriften be-
kannter Stiicke handelt , obgleich einige von ihnen der
Forschung sehr wichtig geworden sind. Wie reich ist z. B.
jetzt unsere Kenntnis jener urchristlichen romischen Schrift,
die den Titel ,,Der Hirte" fiihrt und einst von Griechen,
Lateinern und Abessyniern mit gleicher Verehrung gelesen
worden ist! Neben etwa zwei Dutzend lateinischen Hand-
schriften ist noch jiingst auf einem uralten agyptischen
Papyrus ein Bruchstiick ans Licht getreten. In welchem
Umfange hat der groBe Forscher Caspari die G-eschichte
des abendlandischen Taufsymbols , des sogenannten Sym-
bolum Apostolicum , bereichern konnen, wie viele neue
Texte hat er geboten ! Wie zahlreich sind die Falle , in
denen wir alteste Schriften, die in der Originalsprache
untergegangen, aber in Ubersetzungen erhalten sind, bruch-
stiickweise nun wieder im Original erhalten haben! So be-
safien wir von den zwei, fur die Greschichte der Askese
hochst wichtigen pseudoklementinischen Briefen iiber die
Jungfraulichkeit nur die syrische Ubersetzung. Cotterill
konnte nachweisen, dafi die Halfte des Textes im Original
in Zitaten eines spaten griechischen Monches zu finden ist.
- Doch schon zu lange habe ich die Greduld des Lesers in
Anspruch genommen; es mag gestattet sein, zum SchluB
einige allgemeine Erwagungen anzukniipfen. Es sind etwa
funfzig literarische Funde, die uns die letzten 25 Jahre
gebracht haben. Wer hat sie entdeckt? wie ist es dabei
zugegangen? Ist es nicht moglich, aus der Beantwortung
dieser Fragen etwas fur die Zukunft zu lernen?
An den Entdeckungen sind ungefahr ein halbes Hun-
dert G-elehrte beteiligt. Sie verteilen sich auf alle Nationen,
Armenier, Belgier, Deutsche, Englander, Franzosen, Grrie-
chen , Italiener und Hussen. Aber den Deutschen und
"CTber die jiingsten Entdeckungen. 345
Englandern gebuhrt das groJBte Verdienst. Das entspricht
der Tatsache, daB die patristischen Studien bei ihnen am
meisten bliihen und in festen Formen gepflegt werden.
Wir Deutsche haben aber alle Krafte anzuspannen, daB
Tins die Englander niclit den Rang ablaufen: sie verfiigen
iiber groBere Mittel, konnen junge Gelehrte auf Jahre in
die Feme schicken und bei der Sache halten, wahrend sie
bei uns in der E/egel gezwungen sind, nach kurzem wissen-
schaffclichen Dienst einen praktischen oder den Lehrberuf
zu ergreifen. Berufsarbeiter fur den wissenschaftlichen
GroBbetrieb, die ihr Leben einer wissenschaftlichen Auf-
gabe widmen und fiir sie jeder Zeit Reisen machen kon
nen, sind uns notig, Grelehrte, die nicht gezwungen sind,
Vorlesungen iiber Dinge, die sie schlecht verstehen, zu
halten, weil die Spezialwissenschaft, die sie in der Stille
bearbeiten und die sie kennen, fiir den Unterricht unge-
eignet ist und sie nicht ernahrt. In jenem Jahrhundert,
in welchem auf historischem Gebiet auch im groBen ge-
arbeitet word en ist, dem siebzehnten, gab es bereits Be
rufsarbeiter, die sich ganz ihrer Spezialaufgabe widmen
konnten und sich in die Hande arbeiteten, das waren die
Mitglieder der klosterlichen Kongregationen.
So sind die grofien wissenschaftlichen Sammelwerke
entstanden, die wir bewundern. Eine ahnliche Einrichtung
haben auch wir heute notig, und unsere Akademien miissen
die Mittelpunkte werden, um die sich nichtlehrende Ge-
lehrte, die grofie wissenschaftliche Aufgaben verfolgen,
scharen. An den Universitaten mufi der Unterricht re-
gieren; sie werden hoffentlich immer zugleich der For-
schung dienen, aber sie konnen keinen Gelehrten brauchen,
der nicht lehrt. Wir aber haben auch solche Gelehrte notig,
die nicht lehren, weil das, was sie arbeiten, teils fiir den
Unterricht zu speziell ist, teils noch nicht reif genug. Das
Spezialistentum , iiber welches an unseren Universitaten
nicht ohne Grund geklagt wird, und dessen schadliche
346 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Folgen sich bis in die Organisation des hoheren Prufungs-
wesens erstrecken, ist eine Folge des Ubelstandes , dafi bei
uns jeder Grelehrter des Brotes wegen an die Universitat
gehen mufi, wenn er sein Leben der Wissenschaft weihen
will. Grewifi haben unsere Universitaten dadurch viel ge-
wonnen; aber nachgerade hat sich die wissenschaffcliche
Arbeit so spezialisiert, dafi die Universitaten sie nicht mehr
allein zu umspannen vermogen, ohne ihre oberste Aufgabe
zu schadigen. Der Staat wird somit in der Pflege der
Wissenschaften und der Universitaten einen gewaltigen
Schritt vorwarts tun, wenn er neben diesen ein zweites
Zentrum fiir jene schafft und den Akademien die Mittel
gewahrt, einen Stab von G-elehrten dauernd um sich zu
sammeln, die, materiell sicher gestellt, ihr ganzes Leben
und ihre ganze Kraft einer grofien Spezialaufgabe weihen
konnen. Mit Zuversicht blicken wir auf das preufiische
Unterrichtsministerium , welches, verstandnisvoll und tat-
kraftig , stets den neuen Bediirfnissen der "Wissenschaft
entgegengekommen ist und auch hier berechtigte Forde-
rungen gewifi erfullen wird.
In dem Kreise akademischer Adjunkten mag der For-
scher seine Stelle finden, der auf den europaischen Biblio-
theken die Trammer der koptischen Literatur aufsucht und
wieder erweckt; hier mag ein Kenner des Armenischen die
Schatze dieser Literatur zusammentragen; hier mo gen andere
sich zu lexikalischen Arbeiten vereinigen und die Reste einer
untergegangenen oder untergehenden Sprache und eines
ver sinkend en Volks turns sammeln; hier mogen wieder andere
ein grofies historisches Regestenwerk unternehmen, — alles
Aufgaben, die mit dem Lehrberuf nichts zu tun haben,
oder vielmehr, die durch den Lehrberuf gestort werden
und ihn storen. Das aber ist sicher nicht zu befurchten,
dafi die Universitaten gute Lehrer verlieren oder gar an
ihrem wissenschaftlichen Charakter Schaden leiden werden.
Wefi das Herz voll ist, dem geht der Mund iiber! Wer
tft>er die jtingsten Entdeckungen. 347
von einer hohen Sache innerlich erfiillt 1st und ihre bildende
Kraft schatzt, der wird sie auch lehren wollen und Schiller
werben und deshalb an die Universitaten gehen ! Wir wollen
diese nur vor den j,Mufl-Dozentenu und die nur zum
Forschen berufenen G-elehrten vor dem Vorlesungszwang
schiitzen. Dafl die groflen und vielseitigen Forscher die
Lehrer unserer Jugend sind — dieses herrliche deutsche
Ideal wird uns auch in Zukunft bleiben. Und umgekehrt,
wir wollen keine berufsmafiigen Entdecker oder gar ^Schatz-
graber" in der "Wissenschaft; denn solche Leute sind vom
Ubel. Aber was wir brauchen, sind methodisch. arbeitende
Gelehrte, die in einer historisch-philologischen Spezialwissen-
scliaft allmahlich den ganzen Bestand der Quellen, wie er
auf den europaischen Bibliotheken zerstreut liegt, kennen
lernen und auf planvoll unternommenen Reisen aufarbeiten.
Wie sind denn die reiehen Entdeckungen auf dem Ge-
biete der alten Kirchengeschichte bisher zustande ge-
kommen? Abgesehen von einigen wohlvorbereiteten Unter-
nehmungen, wie sie A ch el is und Bonwetsch fiir Hippolyt,
Caspari fur die Symbole, die Bollandisten und Ehr-
hard fiir die hagiographische Literatur unternommen haben,
und wie sie jetzt von Soden fiir den Text des Neuen
Testaments ausfiihren laflt, ist uns das Meiste durch mehr
oder weniger zufallige Umstande geschenkt worden. Ge-
wifi leitete fast alle Entdecker ein bestimmtes wissenschaft-
liches Interesse — es sind Wenige darunter, die nicht im
Schweifie ihres Angesichts gearbeitet haben, und wir Kirchen-
historiker diirfen auf unsere Entdecker stolz sein — , aber
vereinzelt und zusammenhanglos wird uns das Meiste ge-
bracht, und fast nirgendwo konnen wir sicher sein, dafi
alles das wirklich untersucht worden ist, was an einem be-
stimmten Ort, in einer bestimmten Bibliothek, zu unter-
suchen ware. EToch immer lassen sich sogar in geschriebenen
oder auch gedruckten Katalogen Entdeckungen machen —
v. Gebhardt hat uns das gezeigt! — , und so oft man
348 Erster Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
planvolle Untersuchungen angestellt hat, sind sie auch be-
lohnt worden.
Freilich, das geographische Grebiet, auf welchem man
fur die alte Kirchen- und christliche Literaturgeschichte zu
sammeln hat, ist ein ungeheuer weites. Dire Denkmaler
sind in griechischer, lateinischer, syrischer, koptischer, abes-
synischer, armenischer, slavischer und arabischer Sprache
erhalten. Die Fundorte der Entdeckungen der letzten fiinf-
undzwanzig Jahre sind oben zum Teil angegeben worden:
von Etschmiadzin, Jerusalem und Patmos bis nach Madrid,
und vom Sinai bis nach Moskau und Petersburg und
wiederum nach England und Irland mufi der Forscher
wandern. Dazwischen liegen die grofien Bibliotheken Euro-
pas, die noch immer ungehobene Schatze bergen, und auch
ein Schlettstadt und ahnliche Stadtchen besitzen historische
Unika. Doch das Land unserer Hoffnung ist Agypten!
GrewiB haben wir vom Athos, aus Kleinasien und Armenien
noch manches zu erwarten; aber die altesten und kost-
barsteii Schatze sind aus Agypten gekommen, und Alles
spricht dafiir, dafi wir bisher nicht mehr als die ersten
Proben von dem erhalten haben, was der agyptische Boden
uns aufbewahrt hat. Aber wer in Agypten suchen will,
der mufi zuerst nach Paris, London und Wien gehen, wo
noch viele Hunderte, ja Tausende unentzifferter Papyrus
liegen. Wie konnen die an die Scholle gebundenen Uni-
versitatslehrer diese und ahnliche Schatze aufsuchen und
einsammeln? Was sie vermogen, ist, Untersuchungen vor-
zubereiten und sie methodisch ins Werk zu setzen. Aber
auch diese Tatigkeit hat eine naheliegende Grrenze. Ihr um-
fassendes Lehramt erlaubt ihnen nicht, sich einseitig einem
Zweige der Wissenschaft und einer Gruppe von Denk-
malern zu widmen. Die Starke aber des Grelehrten, der
forscht und sucht, ist die entschlossenste Einseitigkeit und
Beschrankung, nicht auf zwanzig Monate, sondern auf eben-
soviel Jahre, und nicht mit miihsam abgewonnenen Mitteln,
"Clber die jiingsten Entdeckungen. 349
sondern auf gesicherter materieller Grundlage. Wenn uns
planlose Forschungen soviel beschert haben, was werden
uns methodise!), gefiihrte bringen! Eine fragmentarisch er-
haltene Literatur fragmentarisch bearbeiten — nnr Unbe-
friedigendes kann dabei herauskommen, ja Vergeudung der
sparlichen Kraffce! Aber lohnen die Ausgaben den Auf-
wand? Nun, es handelt sich urn die alte Kirchengeschichte,
d. h. um eine Geschichte, welche die Volker Europas ge-
meinsam erlebt haben, und in der der wichtigste Teil der
GKiter beschlossen liegt, die sie gemeinsam besitzen. Aber
von diesem erhabenen Thema abgesehen — alle Q-eschichte,
die sich zwischen dem Euphrat und dem atlantischen Ozean
abgespielt hat, ist unsere Greschichte; wir vermogen aber
unsere eigene Existenz nur dadurch zu vertiefen und zu
erweitern, dafi wir unter den Helden der Greschichte leben
und ihre Kampfe und ihre GroBe nachempfinden.
ADOLF HARNACK
REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND
REDEN UND AUFSlTZE
VON
ADOLF HARNACK
ZWEITEE BAND
ZWEITE AUFLAGE
ALFRED TOPELMANN
(YORMALS J. EICKER'SGHE VERLAGSBUCHHANDLUNG)
GIESZEN 1906
Druck von C. G. lloder, G. m. b. II., Leipzig.
MEINEM FREUNDE
MARTIN RADE
INHALTSVERZEICHNIS DES ZWEITEN BANDES
ERSTE ABTEILUNG: REDEN
Seite
I. Das Christentum und die Geschichte (1896) .... 1
II. Die evangelisch-soziale Aufgabe im Lichte der Geschichte
der Kirche (1894) 23
III. Die sittliche und soziale Bedeutung des modernen Bil-
dungsstrebens (1902) 77
IV. Grundsatze der evangelisch-protestantischen Mission (1900) 107
V. Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus (1896) . 129
VI. Die Aufgabe der theologiscben Fakultaten und die all-
gemeine Religionsgeschichte, nebst einem Nachwort (1901) 159
VII. Die Koniglich Preufiische Akademie der Wissenschaften
(1900) 189
ZWEITE ABTEILUNG: AUFSATZE
I. The present state of research in early church history
(1886) 217
II. Einige Bemerkungen zur Geschichte der Entstehung des
Neuen Testaments (1903) 237
III. Was wir von der romischen Kirche lernen und nicht
lernen sollen (1891) 247
IV. Das Testament Leos XIII. (1894) 265
V. Die Bedeutung der Reformation innerhalb der allgemeinen
Religionsgeschichte (1899) 295
VI. Der evangelisch-soziale Kongrefi zu Berlin (1890) . . 327
VII. Ritschl und seine Schule (1897) 345
VIII. tJber Wissenschaft und Religion. Angeeignetes und Er-
lebtes (1895) 369
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND - ERSTE ABTEILUNG S^
REDEN: I
DAS CHRISTENTUM UND DIE GESCHICHTE
Vortrag
gehalten i. J. 1896 zu Berlin, erschienen bei der J. C. Hinrichs'schen
Buchhandlung iii Leipzig (5. Aufl. 1904).
Es ist in keinem Anderen Heil, ist auch kein anderer
Name den Menschen gegeben, darinnen wir sollen selig
werden, als in dem Namen Jesu Ckristi — das ist das Be-
kenntnis der christlichen Kirche. Mit diesem Bekenntnis
hat sie begonnen; auf dieses Bekenntnis sind ihre Martyrer
gestorben, und aus ihm schopft sie noch heute wie vor
achtzehn hundert Jahren ihre Kraft. Den ganzen Inhalt
der Religion, das Leben in Grott, die Vergebung der Siinde,
den Trost im Leide, bindet sie an diese Person. Sie kniipffc
damit das, was dem Leben Inhalt und Dauer verleiht, ja
das Ewige selbst, an ein (reschichtlich.es und behauptet die
untrennbare Einheit von Beidem.
Aber ist eine solche Verkniipfung haltbar? kann sie
die Priifung des nachdenkenden Verstandes bestehen?
Alles Greschichtliche scheint ein unaufhorliches "Werden
und Vergehen. Ist es da moglich, eine Erscheinung heraus-
zugreifen und an sie das ganze Grewicht der Ewigkeit zu
heften? und zwar eine Erscheinung der Vergangenheit!
Stiinde die Person noch eben mitten unter uns, so ware
es vielleicht anders. Aber wir sind durch viele Jahrhun-
derte und eine verwickelte Uberlieferung von ihr getrennt.
Dennoch sollen wir uns an sie halten, sollen sie fassen,
wie wenn sie eine ewige G-egenwart hatte, und sollen sie
als den Eels unseres Lebens erkennen! Ist das moglich,
ist das wohlgetan? Diese Frage hat die denkenden Christen
aller Zeiten beschaftigt, und sie umschliefit die wichtigsten
Fragen nach dem "Wesen und Recht der christlichen Re
ligion: das Christentum und die Greschichte. Nur das kann
1*
4 Z welter Band, erste Abteilung. Beden: I.
meine Aufgabe sein in dieser fliichtigen Stunde, den Sinn
und den Ernst der Frage an das Licht zu stellen und
einige Gesichtspunkte zu ihrer Beurteilung zu bieten.
Mit einer beruhigenden Tatsaehe kann ich beginnen.
Der grofie Angriff, den das 18. Jahrhundert auf den Zu-
sammenliang von Religion und Geschiehte gerichtet hat,
ist abgeschlagen worden. Dieser Angriff hat seinen prag-
nanten Ausdruck gefunden in dem Lessingschen Satze:
nZufallige Geschichtswahrheiten konnen der Beweis von
notwendigen Vernunftwahrheiten nie werden." Dieser Satz
kann richtig sein — es kommt alles darauf an, wie man
ihn deutet. Aber wie ihn das von Rousseau bestimmte
Zeitalter Lessings verstanden hat, ist er falsch. Die ganze
oberflachliche Philosophic des 18. Jahrhunderts liegt ihm zu
Grunde. Nach ihr ist alles geschichtlich Gewordene ein
Unwesentliches, Zufalliges, ja sogar ein Storendes. "Wert*
voll ist allein, was jenes Zeitalter das nNaturlicheu und die
flVernunft" nannte. Sie galten als ein fur allemal gege-
bene, unveranderliche Grrofien. Aus ihnen allein sollten
daher auch alle wahren Giiter abgeleitet werden. Man
glaubte, dafi jeder Mensch von der Erschaffung her in
seiner ^Vernunft" ein festes Kapital besafie, aus dem er
alles bestreiten konne, was er zu einem tugendhaften und
gliickseligen Leben notig habe. Man glaubte ferner, dafi
der Mensch der ^Natur" harmonisch eingefugt sei und sich
deshalb nur ^naturgemafi" zu entfalten brauche, um ein
herrliches Exemplar seiner Grattung zu werden. Diese
Weltanschauung hatte die Greschichte nicht mehr notig;
denn der Mensch kann aus ihr iiberhaupt nichts empfan-
gen, was er nicht schon besitzt. Folgerecht erschien die
Greschichte denn auch den konsequenten Vertretern dieser
Anschauung als ein seltsames und verkehrtes Spiel, und es
gait die Losung, sich aus der knechtenden Greschichte
herauszuziehen und zur Freiheit der ETatur zuriickzukehren.
Zwar Lessing selbst suchte mit heLCem Bemuhen, der Go-
Das Christentum und die Geschichte. 5
schichte doch ihr Recht zu geben; aber seine unsicheren
Bemuhungen fanden in seinem Zeitalter kein Verstandnis.
Dieses sattigte sich vielmehr an den angeblich ewigen
Vernunftwahrheiten und an der wiederentdeckten ^natur-
lichen Religion" und sah im Besitze dieser Giiter stolz
auf die nzufallige Geschichte" herab. Es zerschnitt das
Band zwischen Religion und Geschichte. Alle geschieht-
lichen Religionen, so lehrte das 18. Jahrhundert, sind im
besten Fall nur Verhiillungen der allein wahren naturlichen
Religion — der Religion, die immer war und immer sein
wird. Diese Religion aber hat keinen anderen Inhalt als
die unveranderliche Vernunft. Auch das Christentum und
sein Stifter konnen daneben nichts Besonderes fur sich in
Anspruch nehmen; denn alles Besondere ist zufallig, iiber-
fliissig und schadlich.
Nun — diese Weltanschauung ist heute zwar nicht
ausgestorben, aber sie ist widerlegt. An keinem anderen
Punkte hat sich der Geist unseres Jahrhunderts so machtig
wider den Geist des vorigen Jahrhunderts gestellt. Das
verdanken wir Herder und den Romantikern ; wir ver-
danken es Hegel und seinem groJJen Schiller Ranke; wir
verdanken es nicht zum mindesten der kraftigen Reaktion
des christlichen Glaubens. Das Wahngebilde einer von
Anfang an fertigen Vernunft wurde gestiirzt; der Abgott
flheilige Natur" wurde entlarvt; das ungeheure Problem,
welches in dem leicht hingenommenen BegrifF der „ natur
lichen Religion" liegt, wurde entschleiert. An die Stella
des seichten Geschwatzes iiber die heilige Natur und die
profane Geschichte, iiber die „ ewigen Vernunftwahrheiten"
und die ^zufalligen Historien" trat die Erkenntnis der Ge
schichte, der Geschichte, aus der wir empfangen haben,
was wir besitzen, und der wir verdanken, was wir sind.
Zwei Begriffe vornehmlich traten dabei mit steigender
Klarheit in den Vordergrund; die Entwicklung und die
Personlichkeit. Sie bestrmmen in der Spannung, die sie in
Q Z welter Band, erste Abteilung. Reden: I.
sich tragen, die Arbeit des Historikers, welcher der Gre-
schichte nachdenkt.
Mit der richtigen Erkenntnis von der Bedeutung der
G-eschichte wurde ihr auch die Religion zuriickgegeben :
sie ist kein fertiges Grebilde, sondern sie ist geworden, ge
worden innerhalb der Greschichte der Menschheit. Die
neuen Stufen in ihr sind nicht nur Schein, sondern "Wirk-
lichkeit; ihre Propheten nnd Stifter sind wahrhaft Pro-
pheten nnd Stifter gewesen: sie haben die Menschheit auf
eine hohere Stufe gehoben. Die Ehrfurcht vor dem Greist
in der Greschichte und der Dank gegen alle die, von denen
wir etwas empfangen haben, ohne die wir armer in unserem
inneren und aufieren Leben waren, mufi daher die Be-
trachtung der Geschichte regieren.
Damit ist eine and ere Stimnmng erzeugt, wie im Zeit-
alter der sog. Aufklarung, und der AngrifF des 18. Jahr-
hunderts auf den Zusammenhang von Eeligion und Gre
schichte ist wirklich zuriickgeschlagen. Allein eine ganze
Schlachtlinie von Angriffen hat sich nun in unserer Zeit
entwickelt. Da begegnen wir zuerst dem Satze: Eben
weil die christliche Religion in die Greschichte gehort und
alles in der Greschichte Entwicklung ist, ist auch sie
lediglich ein Glied in dieser Entwicklung, und ihrera
Stifter darf daher eine besondere, einzigartige Stellung
nicht zugesprochen werden. Grelingt es, diesen Angriff zu
widerlegen, so erhebt sich ein neuer Gregner und ruft: Mag
auch der Stifter der christlichen Religion ein unvergleichlicher
Mann gewesen sein — er hat vor vielen Jahrhunderten
gelebt, und es ist daher unmoglich, mit unseren Sorgen
und Noten zu ihm zu kommen und ihn als den Fels unseres
Lebens zu ergreifen; nicht die Person kann mehr in Be-
tracht kommen, sondern nur die Lehre, das ^Prinzip".
Wird endlich auch dieser Feind zuriickgeschlagen, so folgt
noch ein Angriff. Man ruft uns zu: Ihr mogt von Jesus
Christus sagen, was ihr wollt, und er mag das alles ge-
Das Christentum nnd die Geschichte. 7
wesen sein, was ihr sagt; aber ikr habt dafiir keine Sicher-
heit; denn die geschichtliche Kritik hat sein Bild zmn
Teil aufgelost, zum Teil unsicher gemacht, und ware es
auch noch zuverlassiger als es ist — einzelne geschichtliche
Tatsachen konnen niemals so sicher gewuGt werden, dafi
sie den religiosen Glauben zu begriinden vermogen.
Das sind die drei Mauern, die wider den Glauben der
Kirche aus der Geschichte aufgerichtet worden sind. Um
diese Fragen dreht sich aller Streit; aller heimliche und
offene Zweifel hat vornehmlich hier seinen Grund, und in
irgend einer Form hat auch ein Jeder unter uns diese
Zweifel schon gehegt und erwogen.
I.
Was nun zunachst den ersten Angriff betrifft, so ist
er der weitgehendste, aber auch der schwachste. Gewifi, es
ist die Starke unserer heutigen Geschichtsbetrachtung, daG
wir iiberall darauf bedacht sind, die Entwicklung nach-
zuweisen und zu zeigen, wie eines aus dem anderen ge-
worden ist. Dafi dies die Aufgabe des Historikers ist, ist
eine Einsicht, die niemals mehr unter gehen kann. DaC
ein wahrhaftes Verstandnis der Geschichte nur auf diesem
"Wege gewonnen werden kann, unterliegt keinem Zweifel,
und auch die, welche uber die moderne Geschichtswissen-
schaft schelten, vermogen sich dem Eindruck ihrer Methode
nicht zu entziehen. Sie besorgen die Arbeit nur unvoll-
kommen und schlecht, welche die Gescholtenen besser be
sorgen. Allein nur in der Verblendung kann man be-
haupten, dafi, weil alle Geschichte Entwicklungsgeschichte
ist, sie als ProzeU naturhaften Geschehens dargestellt werden
miisse und konne. Die Versuche, die in dieser Bichtung
gemacht worden sind und noch gemacht werden, tragen
bisher ihre Widerlegung in sich selber. Hochstens in der
Wirtschaffcsgeschichte lafit sich eine gewisse Stringenz der
Erscheinungen nachweisen, wo der Kampf um das materielle
8 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: I.
Dasein regiert; aber auch dort 1st er imrner wieder durch-
brochen durch ideelle Momente, welche in kraftiger Weise
eingreifen. In der Q-eschichte der Ideen und sittlichen
Maximen aber kommt man mit dem plumpen Schema der
Verursachung durch die Umstande vollends nicht aus.
Zwar hat auch hier dieses Schema noch einen weiten Spiel-
raum — einen viel weiteren, als friihere Geschlechter ge-
ahnt haben: aus der zwingenden und treibenden Not ist
so mancher Fortschritt geboren; wir vermogen noch heute
seine Ursachen zu ermitteln und sein Werden zu belauschen.
Allein ohne die Kraft und die Tat eines Einzelnen, einer
Personlichkeit, vermag sich nichts Grrofies und Forderndes
durchzusetzen. Woher aber stammt die Kraft des Kraftigen
und die Tat des Handelnden? Woher kommt es, dafi eine
fordernde Einsicht, ein rettender Gredanke unfruchtbar und
wertlos wie ein toter Stein von einer Generation der anderen
vererbt wird, bis einer ihn ergreift und aus ihm Funken
schlagt? Woher kommt jene Zeugung hoherer Ordnung,
wo ein Gredanke und eine Seele sich vermahlen, um inein-
ander aufzugehen, um ewig einander zu gehoren und den
Willen zu bemeistern? Woher kommt der Mut, den Wider-
stand der stumpfen Welt zu besiegen? Woher kommt die
zeugende Kraft, welche Uberzeugung wirkt? Eine stumpfe
Psychologie sieht nicht, dafi dies die eigentlichen Hebel der
Greschichte sind; sie fragt nur: hat der Mann etwas Neues
gesagt? lafit sich dieses Neue nicht aus dem, was voran-
ging, ableiten? und sie gibt sich zufrieden, wenn sie richtig
ermittelt hat, dafi es nur ,,relativu neu war und daB
eigentlich gar nichts besonderes geschehen ist. Nein — nicht
nur im Anfang war das Wort, das Wort, welches zugleich
Tat und Leben ist, sondern immerfort in der Greschichte
hat in und iiber der treibenden Not das lebendige, mutige,
tatkraftige Wort, namlich die Person, gewaltet. GrewiO,
auch hier gibt es Vermittelungen und Entwicklungen.
Keine Fackel entziindet sich von selber; ein Prophet er-
Das Christentum und die Greschichte. 9
weckt den anderen; aber diese geheimnisvolle Entwicklung
kann von tins nicht durchschaut, sondern nur geahnt
werden.
Was von der Geschichte im allgemeinen gilt, von alien
ihren Linien, auf denen sich iiberhaupt geistiges Leben
abspielt, das gilt im hoehsten Sinne von der Religion, die
das tiefste Thema der Q-eschichte ist. wDer Mensch lebt niclit
vom Brot allein, sondern von einem jeglichen "Wort, das
durch den Mund Grottes geht!" Klarer und einfacher sind
die beiden gmGen Mittelpunkte alles Geschehens niemals
ausgesprochen worden, und unsere Historiker haben an
diesem Worte noch immer zu lernen, um sich niclit zu ver-
lieren. Auch von der Religion aber gilt, dafi sie eine Ent
wicklung durchgernacht hat und in bestandiger Entwick-
lung begriffen ist. Auch an ihrer Geschichte laflt sich
nachweisen, daB die Not getrieben hat, jene Not, die beten
lehrt, und jene Not, die da stumpf macht oder nach Stroh-
halmen greift. Aber eben diese Greschichte zeigt auch, dafi
kein Aufstreben und kein Fortschritt jemals vorhanden
gewesen ist, ohne das wunderbare Eingreifen einer Person.
Nicht was sie sagte, war das iiberraschend Neue — sie
kam, als die Zeit erfullt war, und sie sprach das aus, was
die Zeit bedurfte — , aber wie sie es sagte, wie es in ihr
Kraft und die Macht eines neuen Lebens wurde, wie sie
es fortzeugte in ihren Jiingern, das war ihr Geheimnis
und das war das Neue. Mit Ehrfurcht schaut die Mensch-
heit zu alien den grofien G-eistern auf, die ihr geschenkt
worden sind, den Forschern, den Kiinstlern, den Helden;
aber nur ihre Propheten und Religionsstifter verehrt sie;
denn sie empnndet, dafi hier eine Kraft gewaltet hat, die
von der Welt befreit und iiber das gemeine Geschehen
erhebt.
Aber wenn wir so alle Propheten und Heligionsstifter
in eine Einheit zusammenfassen, so scheint die besondere
Bedeutung des Stifters unserer Religion doch wieder zu
10 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: I.
schwinden. Gewifi niclit. Denn es gibt keinen konkreten
Gattungsbegriff, der die Verschiedenheiten derer, die wir
mit Recht Propheten und Religions stifter nennen, um-
spannen konnte. Ein jeder von ihnen ist eine Grofie fiir
sich und mufi fiir sich beurteilt werden. Es hat heilige
und unheilige Religions stifter gegeben nnd erhabene und
wunderliche Propheten. Eine unerschopfliche Fiille von
Gaben und Kraften ist iiber sie ausgegossen; Mafi, Haltung,
Zweck — alles ist bei ihnen verschieden; alles wiirde ver-
wischt werden, wenn das nicht beachtet wird. Auch ware
es ein torichtes Unterfangen, von vornherein vorschreiben
zu wollen, in welchem Mafie der Geist, namlich der Greist
Grottes, in den Einzelnen gewaltet hat. Das ist allein von
der Erscheinung selbst zu lernen. Nur von Einem aber
wissen wir, dafi er die tiefste Demut und die Reinheit des
"Willens verbunden hat mit dem Anspruch, mehr zu sein
als alle Propheten, die vor ihm gewesen sind: der Sohn
Grottes. Nur von ihm wissen wir, dafi die, die mit ihm ge-
gessen und getrunken haben, ihn nicht nur als ihren
Lehrer, Propheten und Konig gepriesen haben, sondern als
den Fiirsten des Lebens, als den Erloser und Weltrichter,
als die lebendige Kraft ihres Daseins — nicht ich lebe,
sondern Christus lebet in mir — , und dafi bald mit
ihnen ein Chor von Juden und Heiden, von Weisen und
Toren bekannt hat, aus der Fiille dieses einen Mannes
Grnade um Gnade zu nehmen. Diese Tatsache, die am
hellen Tage liegt, ist einzigartig in der Geschichte, und
sie verlangt, dafi das Faktum der Person, die hinter ihr
liegt, als ein einzigartiges respektiert wird.
II.
Damit haben wir auf den ersten Einwurf geantwortet,
dafi der Person Jesu Christi wegen der vorausgesetzten
Form aller Geschichte als Entwicklung keine besondere,
einzigartige Stellung zugewiesen werden diirfe. Allein es
Das Christentum und die Geschichte. H
erhebt sich nun ein schwerer Angriff. Mag auch, sagt
man, der Stifter der christlichen Religion ein unvergleich-
licher Mann gewesen sein — er hat vor vielen Jahrhun-
derten gelebt, und es ist daher unmoglich, ihn in unser
religioses Leben aufzunehmen und als den Fels desselben
zu ergreifen; nicht die Person konne mehr in Betracht
kommen, sondern nur die Lehre, oder wie man auch sagt,
das Prinzip. Ja der Einwurf wird noch scharfer also for-
muliert: in der Religion kommt es lediglich auf das Ver-
haltnis zu Gott an — Gott und die Seele; die Seele und
Gott — ; alles, was sich in dies Wechselverhaltnis ein-
schieben will, hebt seine Ausschliefllichkeit auf und stort
seine Innigkeit und Freiheit.
Ich konnte versuchen, diesem Einwurfe mit dem Hin-
weise auf die kirchliche Lehre von der Erlosung und Ver-
sohnung durch Jesus Christus zu begegnen ; allein ich nmfite
fiirchten, damit ein geringes Verstandnis zu erzielen; denn
wie die Kirche jene Lehre formuliert hat, gehort sie heute
zu den am wenigsten verstandenen und daher am meisten
bezweifelten Stiicken. Das ist eine Tatsache, mag man auch
iiber ihr Recht wie imrner urteilen. Ich will daher einen
anderen Weg zu gehen versuchen. Zunachst — es ist voll-
kommen richtig: die Religion ist ein Verhaltnis der Seele
zu Gott und nichts anderes. DaB der Mensch Gott finde,
ihn habe als seinen Gott, in seiner Furcht atme, ihm ver-
traue, in dieser Kraft ein heiliges und seliges Leben fuhre,
das ist Inhalt und Ziel der Religion. Dariiber hinaus gibt
es nichts anderes und daneben darf nichts Fremdes bestehen:
,,Befiehl du deine Wege und was dein Herze krankt, der
allertreusten Pflege deB. der den Himmel lenkt." Je kraf-
tiger und reiner die Frominigkeit ist, desto sicherer schliefit
sie sich in diesem Wort zusammen. Das bezeugen die
Jiinger Christi aller Zeiten; das bezeugt der Herr selbst,
indem er uns das Vater-Unser beten gelehrt hat, und darum
diirfen wir auch die Theologen nicht schelten, welche den
12 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: I.
Inhalt der Religion also zusammenfassen. Allein es gilt
von der Religion im hochsten Sinne, was von alien sitt-
lichen G-iitern gilt, dafi ein Anderes ist, ihre Wahrheit zu
erkennen, ein Anderes ihre Kraft zu besitzen. "Wir konnen
das Recht der christlichen Religion, den Frieden und die
Schonheit eines frommen Lebens erkennen und anerkennen,
und konnen doch ganz unfahig sein, uns zu ihm zu erheben.
Es kann vor unseren Augen schweben wie ein glanzender
Stern, aber es brennt nicht als ein Feuer in unserer Brust.
"Wir konnen die Schranken, denen wir entniehen wollen,
auf das lebhafteste empfinden und doch vollig aufier stande
sein, uns von ihnen zu befreien. Wir konnen nicht nur so
sein — so sind wir. Wer diese Erfahrung gemacht hat
und immer wieder macht, aber aus ihr gerettet wird, der
weifi es, dafi er gerettet wurde, weil Gott zu ihm gespro-
chen hat. Wer diese Stimme Gottes nicht selbst vernimmt,
der ist ohne Religion. ,,Rede, Herr, dein Knecht horet"
ist die Form, in der es allein religioses Leben gibt.
So verschieden die Fuhrungen eines menschlichen Le
bens sind, so verschieden redet auch Gott. Das aber wissen
wir, dafi diejenigen unter uns selten sind, welche ohne
menschliche Hilfe und Vermittelung in dem geschlossenen
Kreise ihres inneren personlichen Lebens G-ottes Stimme
horen und verstehen. Vielmehr, ein Christ erzieht den an-
deren, an einem Gremut entziindet sich das andere, und die
Kraft, das zu wollen, was man billigt, entspringt aus der
geheimnisvollen Macht, durch die ein Leben das andere er-
weckt. Am Ende dieser Reihe von Boten und Kraften
Gottes steht Jesus Christus. Auf ihn weisen sie zuruck;
von ihm ist das Leben ausgestromt, das sie jetzt als ihr
Leben in sich tragen. Verschieden ist das Mafi der be-
wufiten Beziehung auf ihn — wer konnte das leugnen! — ,
aber sie alle leben von ihm und durch ihn.
Hier stellt sich eine Tatsache dar, die dieser Person, in
der Geschichte fortwirkend, einen unvergleichlichen Wert
Das CJaristentum und die Geschichte. 13
verleiht; aber der Einwurf, um den es sich handelt, ist doch
noch nicht erschopft. Jesus Christus bleibt eine GrroBe der
Vergangenheit, wenn auch eine fortwirkende. Allein so
meint es der christliche Grlaube nicht, wenn er uns auf ihn
verweist. Wir miissen diesen Grlauben tiefer zu erfassen
suchen, um das Recht seiner Meinung, wenn er anders im
Rechte ist, zu verstehen.
Der christliche Grlaube ist nicht, wie manchmal so
gesprochen wird, die sanfte Verklarung des irdischen Le-
bens oder eine gemiitvolle Zugabe zu den Miihen und
Harten desselben. Nein — er ist Entscheidung fur Grott
und wider die Welt. Es handelt sich in ihm um ein ewi-
ges Leben; es handelt sich um die Anerkemmng, dafi es
in und iiber der K"atur und ihrem Greschehen ein Reich
der Heiligkeit und der Liebe gibt, eine Stadt, nicht mit
Handen gebaut, deren Burger wir sein sollen. Und im Zu-
sammenhang mit dieser Botschaft geht an uns die Forde-
rung der Sinnesanderung und der Selbstverleugnung, und
wir empfinden, dafi hier ein Entweder — Oder gilt, welches
iiber unser inneres Leben entscheidet. Ist in diesem Kampf
der Sieg moglich? und handelt es sich in ibm um eine
hohere Wirklichkeit, gegenuber der die Welt nichts gilt?
oder tauschen wir uns etwa selbst iiber unsere Grefiihle
und Ahnungen? sind wir vielleicht doch ganz und gar ein-
geschlossen in den King der unfreien Natur, in den Ring
unseres irdischen Daseins und schlagen uns nur mit unseren
eigenen Schatten und mit Gespenstern jammerlich herum?
Das sind die Fragen der Fragen und die Zweifel der Zweifel.
Nun, seitdem es christlichen Grlauben gibt, werden sie ge-
lost durch den Hinblick auf Jesus Christus — gelost nicht
in der Form philosophischer Demonstration, sondern mit
dem Blick des Vertrauens auf sein Lebensbild. Wenn uns
Q-ott und alles Heilige in den Schatten zu versinken droht,
oder wenn das Grericht iiber uns hereinbricht, wenn uns
die machtigen Eindriicke des unerbittlichen Naturlebens
14 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: I.
iiberwaltigen nnd die Grenze zwischen Gut und Bose zu
zerfliefien scheint, wenn wir selbst stumpf und iiberdriissig
werden, daran verzweifelnd , dafi in dieser dunkeln Welt
Gott erkennbar ist, dann vermag uns seine Person zu retten.
Hier ist ein Leben gelebt, ganz in der Furcht Gottes, fest,
selbstlos und rein; hier schimmert und leuchtet eine Hoheit
und eine Liebe, die uns zu sich zieht. Hier war alles ein
fortwahrender Kampf mit der Welt; stiickweise ging ein
irdisches Gut nach dem anderen verloren. Zuletzt ging
dieses Leben selbst schmahlich unter, und doch — keine
Seele kann sich dem Eindruck entziehen: Wer so stirbt,
der stirbt wohl ; der stirbt nicht, sondern er lebt. An diesem
Leben und Sterben ist der Menschheit die Gewifiheit eines
ewigen Lebens und einer gottlichen Liebe, die alle Ubel,
ja selbst die Siinde iiberwindet, erst aufgegangen. Der
Unwert der Welt und aller irdischen Giiter ist ihr aufge
gangen gegeniiber einer Herrlichkeit, der der Tod niehts
anhaben kann. Achtzehn Jahrhunderte trennen uns von
dieser Geschichte, aber wenn wir uns ernstlich fragen, was
gibt uns den Mut zu glauben, dafi Gott in der Geschichte
waltet, nicht nur durch Lehren und Erkenntnisse, sondern
mitten in ihr stehend, was gibt uns den Mut an ein ewiges
Leben zu glauben, so antworten wir: wir wagen es auf
Christus hin. n Jesus lebt, mit ihm auch ich." Er ist der
Erstgeborene unter vielen Briidern; er verbiirgt uns die
Wirklichkeit der zukiinftigen Welt. Deshalb — durch ihn
redet Gott zu uns. Als der Weg, die Wahrheit und das
Leben ist dieser Jesus Christus bezeugt: als solcher offen-
bart er sich noch eben unserem inneren Sinn, und darin
besteht seine Gegenwart fur uns. So gewifi alles nur darauf
ankommt, dafi die Seele Gott findet und sich mit ihm zu-
sammenschliefit, so gewifi ist er der rechte Heiland, Fiihrer
und Herr, der sie zu ihm fiihrt. Was die christliche Kirche
von ihm verkiindet, dafi er lebt, ist eine Wahrheit, die noch
heute erprobt wird, und auch darin hat sie Hecht, dafi sie
Das Christentum und die Geschichte. 15
uns vor seine Leiden und seinen Tod fiihrt. Aber davon
wollen wir heute nicht sprechen und iiberhaupt nicht so
davon reden, wie oft geredet wird. Dafi das Leiden des
G-erechten das Heil in der Geschichte ist, das empfmden
wir in dem Mafie, als unser Sinn aufgeschlossen ist fur
den Ernst des sittlichen Kampfes und empfanglich fiir den
Eindruck des personlichen Opfers. Aber ,,wir ziehen einen
Schleier iiber die Leiden Christi, eben weil wir sie so hoch
verehren; wir halten es fiir eine verdammungswiirdige
Frechheit, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die
gottliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu feilschen
und zu rechnen oder zu spielen und zu tandeln, und nicht
eher zu ruhen, als bis auch das Wiirdigste gemein und
abgeschmackt erscheint". Und dann — wir sollen nicht
vergessen, dafi aller Glaube an Christus ein bloBes 7)Herr,
Herr" sagen ist, wenn er nicht zur Kraft des Gehorsams
im Guten wird. Er selbst hat nicht die seine Briider und
Schwestern genannt, die ihn schauen oder seinen Namen
in der Welt aufrichten wollten, sondern die den Willen
seines Vaters im Himmel tun. Nach diesen Worten haben
wir alien Christusglauben zu beurteilen.
in.
DaB Jesus Christus trotz der achtzehnhunclert Jahre,
die uns von ihm trennen, eine Stelle haben kann und hat
in dem religiosen Leben des Christen, daB seine Person,
nicht nur seine Lehre, auch heute noch gesetzt ist zum
Auferstehen, das versuchte ich zu zeigen. Aber noch ein
dritter und letzter Angriif steht bevor: ,,Ihr mogtu, ruft
man uns zu, nvon Jesus Christus sagen was ihr wollt, und
er mag das alles gewesen sein, was ihr sagt — aber ihr
habt dafur keine Sicherheit; denn die geschichtliche Kritik
hat sein Bild zum Teil aufgelost, zum Teil unsicher ge-
macht, und ware es auch noch zuverlassiger als es ist —
einzelne geschichtliche Tatsachen konnen niemals so sicher
1(5 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: I.
gewuOt werden, dafl sie den religiosen Grlauben zu be-
griinden vermogen."
Dieser Angriff ist der schwerste, und wenn er in alien
Stricken Recht haben sollte, stande es schlimm: ^Die ge-
schichtliclie Kritik hat sein Bild zum Teil aufgelost, zum
Teil unsicher gemacht." So scheint es bei dem ersten An-
blicke wirklich. Ich sehe von jenen Erzeugnissen der Kri-
tik ab, die heute bliihen und morgen in den Ofen ge-
worfen werden; ich rede nur von dem, was immer wieder
und mit steigender Kraft vorgetragen wird. Blicken wir
zuerst auf die auCeren geschichtlichen Tatsachen: erschiittert
ist die IJberlieferung von den Anfangen der Lebensge-
schiclite Jesu Christi; erschiittert ist die Grlaubwiirdigkeit
so mancher Q-eschichten, die von ihrn erzahlt werden, und
die alten schweren Zweifel, welche die Bericnte iiber die
Vorgange des Ostermorgens erwecken, kann die Kritik
nicht beseitigen. Was aber sein Lebensbild, die Reden
und die Lehre betrifft, so scheint die geschiclitliche Be-
trachtung sie vollig umzugestalten. Der schlichte Bibelleser
ist gewohnt, alle Ziige, die ihm hier entgegentreten, aufier-
und uberzeitlich zu fassen. Er sieht und empfmdet nur,
was er fur den eigentlichen Kern der Erzahlung halt, der
ihn selber angeht, und hiernach ist auch einst von der
Kirche die christliche Lehre festgestellt worden. Aber die
geschichtliche Betrachtung darf und will die konkreten
Ziige nicht iibersehen, in denen Leben und Lehre einst
wirklich gewesen sind. Sie sucht nach den Zusammen-
hangen mit der alttestamentlichen Entwicklung, mit dem
religiosen Leben der Synagoge, mit den damaligen Zu-
kunftserwartungen, mit dem ganzen geistigen Zustande der
romisch-griechischen Welt, und sie findet diese Zusammen-
hange ungesucht. Damit erscheinen die Spriiche und E/eden
des Herrn, erscheint sein Lebensbild selbst nicht nur in
einer ganz bestimmten zeitgeschichtlichen Farbung, sondern
auch in einer bestimmten Beschrankung. Es gehort in
Das Christentum und die Geschiclite. 17
diese Zeit und Umgebung hinein; in keiner anderen konnte
es stehen. Allein es wiirde doch nur dann etwas an seiner
Gultigkeit und Kraft verlieren, wenn sich nachweisen liefie,
dafl nun der Kern der Erscheinung und der Sinn und der
eigentliche Treffpunkt der Reden ein anderer geworden ist.
Ich kann nicht finden, dafi die geschichtliche Kritik daran
irgend etwas geandert hat. Dasselbe gilt von seinem Selbst-
zeugnis. Ja, wenn die geschichtliche Forschung nach-
gewiesen hatte, dafi er ein apokalyptischer Schwarmer oder
ein Traumer gewesen ist, dessen "Wort und Bild erst durch
die Sublimierungen der Folgezeit auf die Hohe reiner Ab-
sichten und erhabener Gedanken gebracht worden sei, dann
stande es anders. Aber wer hat das nachgewiesen und wer
konnte es nachweisen? AuCer den vier geschriebenen Evan-
gelien besitzen wir noch ein funftes, ungeschriebenes, und es
spricht in mancher Hinsicht deutlicher und eindrucksvoller
als die vier anderen — ich meine das Gesamtzeugnis der
christlichen Urgemeinde. Aus ihm konnen wir entnehmen,
was der durchschlagende Eindruck dieser Person gewesen ist
und in welcher Bichtung seine Jiinger sein Wort und
Selbstzeugnis verstanden haben. Grewifi — auch seine
Kleider sind vererbt worden; aber die schlichten und grofien
Grundwahrheiten, fur die er eingetreten ist, das pp.rsoTilir.he
Opfer, das er gebracht hat, und der Sieg im Tode, sie
sind das neue Leben seiner Gemeinde geworden, und wenn
der Apostel Paulus Rom. 8 dieses Leben als ein Leben im
Geist und Kor. 13 als ein Leben in der Liebe mit gott-
licher Kraft geschildert hat, so gab er nur wieder, was
ihm an seinem Herrn Jesus Christus aufgegangen war. An
diesem Tatbestande vermag keine geschichtliche Kritik
etwas zu andern; sie kann ihn nur reiner ans Licht stellen
und unsere Ehrfurcht vor dem Gottlichen, das an einem
Sohne Abrahams inmitten einer engen Welt und unter
Schutt und Trummern aufgestrahlt ist, steigern. Der
schlichte Bibelleser soil nur fortfahren, die Evangelien so
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. II. 2
IS Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: I.
zu lesen, wie er sie bisher gelesen hat; denn auch der
Kritiker vermag sie schliefilich niclit anders zu lesen. Was
jener fur ihren eigentlichen Kern und Treffpunkt halt, das
mufi auch dieser als solchen anerkennen.
Aber die Tatsachen, die Tatsachen! Ich weifi nicht,
wie es eine grofiere Tatsache geben kann als die bisher be-
schriebene. Was will irgend eine geschichtliche Einzelheit
neben ihr bedeuten? Was sie bedeutet, antwortet man,
das liegt am Tage. Nur die aufiere Tatsache, und zwar
die wunderbare, gibt uns die letzte und allein sichere Ver-
biirgung, dafi unserem Grlauben eine Wirklichkeit entspricht,
dafi seine Objekte nicht blofie Gredankengebilde sind, son-
dern dafi Grott selbst die G-eschichte leitet und zum Ziel
fiihrt. Ich kenne das Grewicht dieser Behauptung wohl
und bin weit entfernt, jedem gegeniiber ihr Recht zu be-
streiten. Ach, dafi du die Himmel zerrissest und hernieder
fiihrest, dafi wir dich schauen konnen — ist eine Klage,
die oft geklagt ist. Aber das weifi ich auch, dafi sie nicht
aus der Tiefe und Kraft des Grlaubens geboren ist, den der
Apostel Paulus beschreibt, und dafi sie leicht unter das
Wort des Herrn fallt: wWenn ihr nicht Wunder und Zeichen
seht, so glaubt ihr nicht. " Viel vermag die aufiere Autori-
tat in der Heligion; viel vermogen Wunder und Zeichen;
aber der Grlaube und die Frommigkeit konnen ihre letzte
Sicherheit nur dort haben, wo ihr Inhalt liegt. Ihr Inhalt
ist Q-ott der Herr, ist die Zuversicht auf Jesus Christus,
dessen Wort und G-eist sich als die Kraft Grottes dem Herzen
noch heute bezeugt. Wehe uns, wenn es anders ware, wenn
unser Grlaube auf einer Sum me von Einzeltatsachen beruhen
wiirde, die der Historiker zu demonstrieren und zu ver-
sichern hatte. Nur ein Sophist aus unserer Zunft konnte
sich anheischig machen, diese Aufgabe zu losen; denn es
ist so: keine aufiere Einzeltatsache der Vergangenheit kann
auf den Grrad der Evidenz gebracht werden, dafi man auf
sie Hauser, geschweige die ganze Ewigkeit, bauen konnte.
Das Christentum und die Geschichto. 19
Was wollen alle Zeugnisse, Urkunden und Versicherungen
besagen! Aber es 1st em Unterschied zwischen Tatsache
und Tatsache. Das einzelne auflere Faktum bleibt immer
kontrovers; in diesem Sinne hat Lessing vollkommen
Recht, wenn er davor warnt, ,,zufallige Geschiehtswahr-
heiten" mit dem Wichtigsten zu verkniipfen und an einen
Spinnefaden das ganze Grewicht der Ewigkeit zu hangen.
Aber der geistige Inhalt eines ganzen Lebens, einer Person,
1st auch eine geschichtliche Tatsache, und sie hat ihre Ge-
wifiheit an der Wirkung, die sie ausubt. Das, was uns an
Jesus Christus bindet, liegt in diesem Rahmen. Es ist mit
der Frommigkeit selbst verkniipft, und von diesem Inhalt
gilt das befreiende Wort, welches derselbe Lessing ge-
sprochen hat: wWenn man auch nicht imstande sein sollte,
alle Einwiirfe gegen die Bibel zu heben, so bliebe dennoch
die Religion in den Herzen derjenigen Christen unverriickt
und unverkummert, welch e ein inneres Gtefuhl von den
wesentlichen Wahrheiten derselben erlangt haben."
Aber sollen nun die Uberlieferungen einzelner auBerer
Tatsachen nichts bedeuten? Wer wollte so kurzsichtig
oder so leichtfertig sein, das zu behaupten! Weil sie nicht
das Fundament sein konnen, sind sie noch lange nicht be-
deutungslos. Zuvorderst ist zu untersuchen, ob sie nicht
doch wahr und wirklich gewesen sind. Manches was einst
schnell verworfen wurde, hat sich eindringender Unter-
suchung und umfassender Erfahrung doch wieder erprobt.
Wer diirfte heute z. B. mit den wunderbaren Kranken-
heilungen in der evangelischen Greschichte so rasch fertig
werden, wie fruhere Grelehrte!
Sodann gilt von alien Erzahlungen, dafi sie uns zur
Lehre geschrieben sind. Es ist das ein Gresichtspunkt, der
im Streit um sie oft ungebuhrlich zuriicktritt, wahrend er
doch den Absichten der altesten Erzahler und dem de-
brauch der alten Lehrer entspricht. Es ist das Eigentum-
liche von vielem, was sich in der R/eligionsiiberlieferung als
2*
20 Zweiter Band, erste Abteilung. Keden: I.
gescliiclitlicli gibt, dafi der geistige Inhalt, der darin an-
geschaut wird, die Hauptsache ist. Man verteidigt, indem
man etwas als geschichtliche Tatsache verteidigt, vielmelir
den Grlaubensgedanken, den man damit verbindet. In und
dnrch die Verkiindigung ?,Empfangen vom heiligen deist"
wird die Grottessohnschaft Jesu Christi verkiindigt; in und
mit der Botschaft seiner Himmelfahrt wird verkiindigt, dafi
er bei dem Vater lebt und regiert.
Von hier aus ergibt sich noch eine andere Bedeutung
einzelner aufierer Tatsachen fur die Religion, die mit der
eben genannten nahe verwandt ist. Sie sind dem Grlauben
das gewesen, was der Pfahl dem "Weinstock oder was das
schiitzende Dach der zarten Pflanze ist. Sie haben ihm
Halt und Richtung gegeben oder haben seine Entwicklung
vor "Wind und Wetter geschutzt. Und was sie einst ge-
leistet haben, das leisten sie heute noch Vielen. Die Schwie-
rigkeit besteht nur darin, dafi der Grlaube des einen eines
festen Stabes oder eines schiitzenden Daches bedarf, wahrend
dieser Stab in der Hand des anderen zerbricht und sein
Grlaube nur in der Freiheit des Sonnenlichtes gesund bleibt.
Endlich aber, Vieles und das Ergreifendste, was uns in dem
Neuen Testamente als G-eschichte erzahlt ist, ist uns nicht
nur zur Lehre gesagt, sondern es hat auch in der gegebenen
Form eine tiefe symbolische Bedeutung. Ich weifi kein
Hauptstiick der Erzahlungen, von dem das nicht gilt. Der-
selbe Greist, der uns die Kraft und Herrlichkeit eines gott-
lichen Lebens entschleiert vor Augen gestellt hat, soweit
als wir Menschen es fassen konnen — er hat der "Wahrheit
auch aus sinnvoller Sage und herzergreifender Poesie einen
zarten Schleier gewoben und sie in Bildern und Parabeln
nahe gebracht.
Diese mannigfache Bedeutung erzahlter Tatsachen
offenbart sich Jedem, der der Greschichte der Christenheit
mit aufgeschlossenem Sinn und bescheiden nachdenkt. Sie
ist freilich nicht ohne Gefahr; denn wie sie einerseits leicht
Das Christentum und die Geschickte. 21
dazu verfuhrt, der Geschichte den eigenen Geist unterzu-
schieben, Pfahl und Pflanze zu verwechseln und damit
Krisen heraufzubeschworen , so kann sie andererseits die
Kraft der Greschichte als wirklicher Greschichte und der
Person als wirklicher Person lahmen. Indessen die Schwie-
rigkeiten, die hier entstehen, haben wir nicht selbst ge-
schaffen, und wir vermogen sie nicht eigenmachtig aufzu-
heben. Vertrauen wir vielmehr der gottlichen Leitung, die
da weiB, was uns frommt; verkiindigen wir mit reinem
Sinn und mit Wahrhaftigkeit das, was wir empfangen
haben, und versuchen wir dann das tiefe Wort zu ver-
stehen: Kraffce und Kriicken kommen aus einer Hand.
Ich bin am Ende meiner Ausfuhrungen. Christentum
und Gesehichte: nur den Sinn und Ernst der Frage wollte
ich ans Licht stellen und einige Gesiehtspunkte zu ihrer
Beurteilung bieten. Sie haben vielleicht etwas anderes
von dem Vortrage erwartet; sie wollen vielleicht von den
Veranderungen horen, die das Christentum im Laufe seiner
Geschichte erlebt, oder von den Segnungen, die es ver-
breitet hat. Allein die Erkenntnis der Grundfrage, inwie-
fern Religion und Geschichte verkniipffc sind und wie sie
sich in dem evangelischen Glauben verbunden haben, ist
wichtiger als alles Andere. Dieser evangelische Glaube
braucht eine ernste Prufung nicht zu scheuen. Die strenge
methodische Untersuchung der Tatsachen, die ihn geschicht-
lich begriindet haben, kann er ertragen, ja er muC sie um
seiner selbst willen fordern; denn ihm ist nicht die Pilatus-
frage eingestiftet : wWas ist Wahrheit", sondern ihm ist die
Erkenntnis der Wahrheit als Aufgabe und als VerheiCung
gesetzt.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
S^ ZWEITER BAND . ERSTE ABTEILUNG
REDEN: n
DIE EVANGELISCH-SOZIALE AUFGABE IM
LICHTE DER GESOHICHTE DER KIRCHE
Vortrag
gehalten am 17. Mai 1894 auf dem evangelisch-sozialen Kongrefl zu
Frankfurt a. M.
Erschienen in: ,,PreuB. Jahrbiicher, Bd. 76 (1894) Heft 3" u. in: ,,Evange-
lisch-Sozial von A. Harnack u. H. Delbriiok" 1896 bei H. Walther, Berlin.
Im Jahre 1694 fiel ein "Wort des Apostels Paulus in
die Seele H. A. Franckes: ,,Grott kann machen, dafi ihr
in alien Dingen voile Greniige habt, und reich seid zu
allerlei guten Werken." Es liefl inn nicht mehr los und
wurde die Kraft seines Handelns. Sehr vieles, was seitdem
an christlicher Liebestatigkeit in nnserem Vaterland ge-
leistet worden ist, hat damals seinen Ursprung genommen.
Einiges, was unerreichbar, unmoglich erschien, ist doch er-
reicht worden in der kiihnen Znversicht, die jenes "Wort
des Apostels ausspricht.
Heute, naeh zwei Jahrhunderten, befinden wir uns
wiederum an einem Punkte, wo wir jener Zuversicht in
besonderer Weise bediirfen. Mcht weil wir, wie Francke,
in einer Kirche stehen, die die Aufgabe christlicher Liebes
tatigkeit vernachlassigt, sondern weil sich die Aufgabe
selbst vor unseren Augen verandert hat und so neu und
gewaltig ge worden ist, dafi alle unsere bisherigen Mittel
unzureichend scheinen. Was notig ist, wird, so scheint es,
kein Einzelner mehr tun. Was zu tun ist, das zu beraten
ist die wichtigste Aufgabe unseres Kongresses. Wir beraten
das Einzelne auf verschiedenen Linien; aber es ist un-
erlafilich, dafi wir uns auch das Granze klar machen, die
Ziele fest ins Auge fassen und die Mittel priifen, iiber die
wir verfugen. Nicht um das handelt es sich aber, was
in sozialer Hinsicht iiberhaupt geschehen soil, sondern
um die Aufgabe der Kirche und der christlichen Gemein-
schaft.
26 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: II.
Diese Aufgabe ergibt sich aus der Anwendung des
Evangeliums auf die gegenwartige Lage, und ich kann den
Hadikalismus wohl verstehen, mit welchem Einige jede
weitere Riicksicht abzuschneiden raten. G-ewiO — die
Riicksicht auf die G-eschichte ist nicht immer ungefahrlich.
Der richtige Steuermann mufi vorwarts und nicht ruck-
warts blicken. Der Blick auf die Greschichte vermag jedes
mutige Handeln zu lahmen und Unmoglichkeiten vor-
zutausclien, wo es sich nur um Schwierigkeiten handelt.
Auch beleuchtet die Q-eschich.te niemals den Weg, der vor
nns liegt. Dennoch wird in diesem Kreise kein Zweifel
dariiber herrschen, daC die heutige soziale Aufgabe der
Kirche nur mit Hilfe der Geschichte bestimmt werden
kann. NicLt nur, weil diese stets den Dienst leistet, die
Untiefen und Klippen aufzuweisen, die man zu meiden
hat, sondern vor allem, weil die Kirchen, auch sofern sie
karitative Gemeinschaften sind, geschichtKch gewordene
Grebilde sind. Wenn wir nicht alles gering schatzen wollen,
was sie im Laufe ihrer Geschichte gelernt haben und be-
reits besitzen, werden wir uns entschliefien miissen, an
diesen Besitz anzukniipfen.
Aber bevor ich zur Behandlung der Aufgabe iibergehe,
mochte ich auf eine Tatsache hinweisen, die uns mit Hoff-
nung und Freudigkeit zu erfiillen vermag. Wenn heute
in der ganzen zivilisierten Welt die Frage, die sich um die
Wirtschaftsordnung, um das Verhaltnis von Kapital und
Arbeit bewegt, verhandelt wird, so ist das doch auch ein
Beweis, dafi ein grofies Stuck sozialer Arbeit bereits ge-
leistet ist. Wie lange ist es denn her, dafi es eine Kultur,
Hecht und Menschenwiirde nur fur einige Tausende in
Europa gab, wahrend die grofie Masse unter einem furcht-
baren Druck, in tyrannischem Zwang, Rechtlosigkeit und
Unbildung dumpf dahinlebte und ihre ganze Existenz ein
grofies Elend war? Heute dagegen sind, wenigstens in
unserem Vaterlande, aber auch bei vielen uns verwandten
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 27
Volkern, die Biirger vor dem Gesetze gleich; alle geniefien
denselben Rechtsschutz ; Sklaverei und Horigkeit sind ver-
schollene Dinge; ein respektables Mafi von Kenntnissen
und Bildung wird jedermann zugefuhrt; die Arbeit ist ge-
achtet. Freiheit, Gleichheit und Briiderlichkeit sind in
vieler Hinsicht nicht nur ein leerer Schall, sondern die
wirklichen Formen unserer personlichen nnd gesellschaft-
lichen Existenz nnd die Pfeiler des Gebaudes, das wir aus-
banen. Das Alles ist in wenigen Menschenaltern geleistet
worden. Es ist lacherlich, die Frage des Fortschritts auf-
znwerfen, wo der Fortschritt so unsaglich grofi ist!
Aber ich hore schon die G-egenbemerknng: als was
haben sich denn diese Freiheit, Grleichheit nnd Briiderlich
keit erwiesen? hat nns nicht die Geschichte mit ihnen ge-
narrt? bedrohen sie nns nicht einerseits mit der Herr-
schaft des Unverstandes, nnd sind andererseits doch nnr
Attrappen, denen in Wirklichkeit jeder Inhalt fehlt, sobald
die Arbeit von dem Kapital abhangig ist, das sie nicht
selbst besitzt? In Wahrheit, sagt man, herrschen die alten
Grewaltznstande doch noch immer, wenn auch nnter anderen
Hiillen, aber in verscharfter Grestalt; die schlimmste Lohn-
sklaverei ist eingetreten; die Rechtsgleichheit, vom Kapital
anfierdem stets gefahrdet, ist nnr ein negatives Gut, die
Bildung for die grofie Menge nur eine nicht benutzbare
Moglichkeit! In ,,Formalien" sind wir gleich; aber wie
fruher lebt eine Minoritat auf Kosten der ungeheuren, in
Sorgen sich verzehrenden Majoritat, und diese empfindet
die Rechte, die sie errungen, teils wie eine kiimmerliche
Abschlagszahlung, teils wie einen Spott auf ihre hilflose
Lage.
Die so sprechen, haben nicht ganz Unrecht, aber sie
haben nicht Recht. Alle jene genannten gemeinschaftlichen
Giiter konnen in der Tat blofie Attrappen sein und sind es
zum Teil noch wirklich. Aber man versuche es nur, sie
heute wegzunehmen oder auch nur wegzudenken! Es sind
28 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
doch grofie, bleibende Errungenschaften, die deshalb nichts
an ihrem Werte verlieren, well sie nicht ausreichen. Ja
sie bleiben Griiter, auch wenn ihre Folgen die Not der
wirtschaftlichen Lage zur Zeit steigern. Ruckwarts konnen
wir nicht melir, und Schande dem, der es wollte! So
wollen wir uns dessen freuen, was gewonnen ist, was noch
vor einigen Menschenaltern ein Traum war. Die Gre-
schichte macht Tins nicht mutlos, sondern starkt unsere
Zuversicht.
Nach diesen Vorbemerkungen bitte ich Sie, mir auf
einem geschichtlichen Grange zu folgen. Wir werden aber
zuerst die prinzipiell-geschichtliche Frage aufwerfen miissen,
wie sich das Evangelium zu sozialen Ordnungen iiberhaupt
verhalt. Dann wollen wir die Epochen der Kirchen-
geschichte betrachten und endlich die Frage nach der
heutigen sozialen Aufgabe der Kirche zu beantworten ver-
suchen.
Das Evangelium ist die Botschaft von unverganglichen
Griitern. Es bringt die Krafte des ewigen Lebens; von
Bufie und von Grlauben, von Wiedergeburt und Erneuerung
handelt es; es will nicht ,,verbessernu, sondern eiiosen.
Darum will es den Einzelnen auf einen Standort fiihren,
der iiber den Spannungen von irdischem G^liick und irdischer
Not, Reichtum und Armut, Herrschaffc und Dienst liegt.
So ist es auch von Anfang an und zu alien Zeiten von
den ernsten Christen verstanden worden, und wer dies nicht
zu wiirdigen vermag, wiirdigt das Evangelium iiberhaupt
nicht. Diejenige Indifferenz gegeniiber allem Irdischen,
welche aus der GTewiBheit des ewigen Lebens entspringt,
ist dem Christentum wesentlich. Diese Indifferenz setzt
sich aus einer doppelten Stimmung zusammen. Man kann
sie in folgenden Worten bezeichnen: 7,Fiirchtet euch nicht,
sorget nicht; eure Haare auf dem Haupte sind gezahltu
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 29
und ,,habt niclit lieb die "Welt noch was in der Welt ist".
Dem entsprechend liegen zwei Elemente in ihr. Ich mochte
das eine das ruhende, quietistische und das andere das radi-
kale nennen: das eine leitet dazu an, sieh in den Weltlauf,
wie er auch sein mag und was auch kommen mag, im
Glauben mit Ergebung zu schicken, das andere die Welt
preiszugeben und einem Neuen zu leben. Schon hier er-
scheint also im Evangelium ein Problem gestellt; denn offen-
bar kann das ruhende und das radikale Element in eine
Spannung geraten. Ja das radikale Element selbst kann
sich, wo es sich isoliert geltend macht, in einer doppelten
Form aufiern — entweder als entschlossene Weltflucht, oder
als der Versuch, alle Weltordnungen, die ja samtlich
von der Siinde durchsetzt sind, zu verneinen und eine
neue Weltordnung vorzubereiten. Die Geschichte wird
uns zeigen, wie sich. die Christenheit die Aufgabe verschoben
hat, indem sie einseitig diesem oder jenem Elemente gefolgt
ist, statt sie in sich auszugleichen.
Aber eben dieses Evangelium, welches eine heilige
Indifferenz gegeniiber dem Irdischen verkiindigt, schlieBt
noch ein anderes Element ein. ?,Liebe deinen Nachsten
als dich selbst." Auch das soil eine Grrundstimmung sein,
die das Evangelium schafft. DemgemaB war die urspriing-
liche Grestalt der Christenheit die eines freien Bruderbundes,
und diese Grestalt ist ihr auch wesentlich; denn die Liebe
zu den Briidern ist neben dem Vertrauen auf Grott die
Religion selbst. Zu dem quietistischen und dem radikalen
Element tritt das soziale, treibende. Ich nenne es das
soziale, treibende Element; denn nirgend steht im Evan
gelium, daB unser Verhaltnis zu den Briidern durch die
heilige Indifferenz bestimmt werden soil, die ich bezeichnet
habe. Diese Indifferenz gilt vielmehr der einzelnen Seele
in ihrem Verhaltnis zur Welt, ihren Leiden und ihren
G-utern. Aber wo nur immer der ,,Nachste" in Sicht kommt,
da weiC das Evangelium nichts von jener Indifferenz, son-
30 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
dern predigt nur Liebe und Barmherzigkeit. Auch bindet
und fiicht die irdische- und die Seelen-Not des JSTachsten
untrennbar zusammen. Es macht hier keine sublimen
UnterscMede zwischen Seele und Leib, nein, Krankheit ist
Krankheit und Elend Elend. wlch bin hungrig gewesen
und ihr habt mich gespeiset, ich bin durstig gewesen und
ihr habt mich getranket." Wo die Kennzeichen angegeben
werden sollen dafur, dafi sich die Verheifiungen Grottes jetzt
verwirklicht haben, da heiJBt es: nDie Blinden sehen, die
Lahmen gehen . . . und den Armen wird das Evangelium
verkiindigt", und im Hebraerevangelium lesen wir in der
Greschichte vom reichen Jiingling: ^Siehe so viele deiner
Briider, Sohne Abrahams, liegen im Schmutz und sterben
vor Hunger, und dein Haus ist voll von vielen GHitern,
und doch kommt nichts aus demselben zu ihnen heraus."
Einfacher und nachdriicklicher kann es nicht gesagt werden,
dafi mit alien Kraften der Liebe dem Bediirftigen und
Elend en geholfen werden soil. Dabei geht die ernsteste
Mahnung an die Reichen. Indem vorausgesetzt wird, dafi
Reichtum in der Regel unbarmherzig und weltsiichtig macht,
wird ihnen vorgehalten, daB der gefahrliche Besitz ihnen
die hochste Verantwortlichkeit auferlegt.
Die Welt sah ein neues Schauspiel: wahrend sich die
Religion bisher entweder an das Irdische angeschmiegt und
alle Zustande willig begleitet oder sich Allem entgegenge-
setzt und in die Wolken gebaut hatte, empnng sie nun
eine neue Aufgabe: irdische Not und Elend ebenso wie
irdisches Grliick fur etwas Greringes zu achten und doch
jeglicher Not zu steuern, das Haupt im G-lauben mutig
zum Him m el zu erheben und doch mit Herz, Mund und
Hand auf dieser Erde fur die Briider zu arbeiten.
Die so gestellte Aufgabe ist in der Christenheit nie
vollig untergegangen. Sie hat ihr die Uberzeugung erhalten,
dafi keine Wirtschaftsordnung ihrer Arbeit ein schlechthin
uniibersteigliches Hindernis entgegenstellt, keine Wirt-
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 31
schaftsordnung sie aber auch von ihren Pfl.ich.ten zu ent-
lasten vermag.
Aber enthalt das Evangelium nicht noch vielmehr,
enthalt es nicht eine bestimmte Lehre vom irdischen Gut
und ein bestimmtes sozial-wirtschaftlich.es Programm? Man
hat das wohl gemeint, in der alten Zeit, im Mittelalter
und auch heute wieder, und doch ist es falsch. Allerdings
eine bestimmte Lehre vom irdischen Gut enthalt das Evan
gelium, aber keine, die sich national-okonomisch in Gesetze
fassen liefle, und darum auch kein wirtschaftlich.es Pro
gramm. Nur wenn man das Evangelium oder das Neue
Testament wie ein Gesetzbuch fafit, kann man in ihm
sozial-politische Gresetze finden. Aber das ist ein uner-
laubtes Unterfangen, und man wird zudem bald mit ihm
scheitern. Unerlaubt ist es, weil unser Glaube die Religion
der Freiheit ist, und die Aufgaben dir und mir und jeder
Zeit besonders gestellt sind als ein individuelles Problem.
Scheitern aber wird man, weil man nicht einstimmige
wirtschaftliche Anweisungen aus dem Neuen Testament zu
entwickeln vermag. Soil man nach der G-eschichte vom
reichen Jungling alles verkaufen, was man besitzt, oder
soil man sich wenigstens nicht Schatze sammeln? oder soil
man mit dem Apostel Paulus jede Q-abe, also auch den
Besitz, pflegen, aber in eine Dienstleistung verwandeln?
Soil ein Christ niemals Erbschlichter sein diirfen? hat er
nur das Hecht, fur eine Salbung Aufwand zu machen, oder
auch sonst? darf er eine Kasse haben oder nicht? ^Arbeite
und schaffe mit den Handen etwas Gutes, auf dafi Du
habest zu geben dem Durftigen", das ist doch wohl die
Hauptsache, und mit allem Ernste ist der Versuchung zu
widerstehen, dem Evangelium einen anderen sozialen Ge-
danken unterzuschieben als den: ,,Ihr seid Gott Hechen-
schaft schuldig fur alle Gaben, die ihr empfangen habt,
und so auch fur euren Besitz; ihr sollt sie im Dienste eures
Nachsten gebrauchen." Was in dem Evangelium in eine
32 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
andere Richtung weist, 1st teils scheinbar, teils gehort es
dem individuellen Fall an, teils hangt es mit der unent-
wickelten wirtschaftlichen und der besonderen geschicht-
lichen Lage jener Zeit zusammen. Eine Zeit, in der das
Kapital fast lediglich ein Aufgespeichertes, Totes war, lafit
sich nicht vergleichen mit einer Zeit, in der es die grofite
wirtschaftliche Kraft ist, und eine Zeit, die sich dem Ende
nahe glaubt, lafit sich nicht vergleichen mit einer Zeit, die
es als heilige Pflicht erkennt, fur die Zukunft zu arbeiten.
Aber umgekehrt — daraus, dafi das Evangelium keine
bestimmten wirtschaftlichen Anordnungen enthalt, folgt
ganz und gar nicht, dafi dieses Grebiet fur den Christen
indifferent ist. Vielmehr wo er klar erkennt, dafi ein wirt-
schaftlicher Zustand zur Notlage fur den Nachsten ge-
worden ist, da soil er nach Abhilfe suchen; denn er ist ein
Jiinger dessen, der ein Heiland war. Wer ins Wasser ge-
f alien ist, dem hilft man freilich bereits, wenn man ihn
herauszieht ; aber wer in einem verschlossenen Hause sitzt,
welches brennt, dem kann man nur dadurch helfen, dafi
man den Zustand andert, indem man das Feuer loscht.
Die Frage, ob das eine christlich- wirtschaftliche oder eine
rein christliche oder eine humane Tat ist, mag der Dispu
tant beantworten. Die Liebe weifi, dafi sie uberall so helfen
soil, dafi es wirklich hilft.
Um dem Mitbruder zu helfen und der Not und dem
Elend zu steuern, hat die Kirche von Anfang an von drei
Mitteln Grebrauch gemacht, und es sind heute noch die
drei, die ihr zu Grebote stehen: Erstlich die Scharfung der
Grewissen der Einzelnen, die Erweckung wiedergeborener,
kraftiger und aufopferungsvoller Personlichkeiten. Das ist
das Entscheidende. Der Weg dabei ist ein verschiedener:
bald mag er von innen nach auJBen und bald von aufien
nach innen fuhren, wie wir's in der Padagogik des Herrn
sehen. Aber immer kommt es auf die heilige Personlich-
keit an, und immer darauf, dafi in allem Tun die Kraft
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 33
der Liebe von Person zu Person wirkt und spiirbar 1st.
Das Reich. Gottes wird nicht aus Institutionen gebaut,
sondem aus einzelnen gottinnigen Menschen, die mit
Freude fur andere leben.
Das Zweite ist die Ausgestaltung der einzelnen Ge-
meinde zu einer tatkraftigen, durch Bruderliebe zusammen-
gehaltenen G-emeinschaft; denn ohne solche Verbindung
bleibt alles vereinzelt. Am Anfang der Geschichte ist diese
Verbindung am starksten gewesen. Das Bewufitsein, dafl
sie eine unumgangliche Form der Christenheit auf Erden
ist, ist dieser nie ganz abhanden gekommen; aber wir
werden sehen, wie es geschwacht worden ist.
Nun aber kommt noeh ein Drittes hinzu: die Religion
wachst nicht frei; sie mufi, selbst wenn sie in die Einsam-
keit fiuehtet, in ein Verhaltnis treten zu den weltlichen
Ordnungen, die sie vorfindet, und wie diese Ordnungen
sind, ist nicht gleichgiiltig. Zwar haben die Apostel den
Glaubigen das ^Sorget nicht" zugerufen in einer Zeit, da
Erpressung und Gewalttatigkeit an der Tagesordnung
waren, als Sklaverei und tyrannischer Druck herrschten.
Aber sie haben doch gleich damit angefangen, auf die
irdischen Ordnungen, sofern sie Unordnung und Siinde
waren, einzuwirken. Die Christen sollen durch ihren
Wandel ein Yorbild geben, das beschamt und zur ISTach-
ahmung reizt. Wenige Jahrzehnte spater haben sich die
christlichen Apologeten bereits mit Eingaben an die Kaiser
und die Statthalter und mit Schriften an die Gesellschaft
gewendet und die Abstellung grober offentlicher MiBbrauche
und Frevel verlangt. Aber sie haben, soviel ich sehe, eine
scharfe Grenze gezogen: es kommt ihnen nicht in den Sinn,
auf wirtschaftliche Verbesserungen anzutragen oder Insti
tutionen wie die der Sklaverei anzutasten. Was sie ver-
langen, ist, dafi die Siinden und Schanden aufhoren, die
auch ein griechisches und romisches Gewissen als Siinde
und Schande beurteilen mufite. Sie sind davon iiberzeugt,
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. II. 3
34 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
dafi das Ebenbild Grottes im Menschen auch unter Druck
und Ubel aller Art nicht untergehen kann — nie ist ein
Zeitalter weniger sentimental gegeniiber Not und Elend
gewesen, als das erste christliche — , dafi es aber im
Schmutz der Sinnlichkeit untergeht, dafi daher offentliche
Zustande dieser Art — geduldete und privilegierte Un-
zucht, heimlicher Mord, Kinderaussetzung, Prostituierung
ganzer Stande — unertraglich sind.
Wir sind hier an einem sehr wichtigen Punkte. Man
wirft es in der Neuzeit dem Christentum vor, dafi es nie-
mals in seiner G-eschichte mit wirtschaftlichen Reformen
vorangegangen sei. Selbst wenn die Tatsache in dieser
Allgemeinheit zutreffend ware, ware sie nach der Eigenart
dieser Religion kein Vorwurf.
Grenug, wenn die Religion die Gremiiter fur grofie
wirtschaftliche Veranderungen und Umwalzungen vorbe-
reitet, genug, wenn sie die neuen sittlichen Aufgaben, die
sie bringen, vorher empfindet, genug, wenn sie sich ihnen
anzupassen weifi und den Punkt trifft, wo sie mit ihren
Kraften einzusetzen und zu arbeiten vermag. Eine Religion,
die das Heil der Seele und die Umbildung des inner n
Menschen zum Ziele hat und die der Macht des Bosen
gegeniiber die Umanderung auJBerer Verhaltnisse gering
taxiert, eine solche Religion kann nur hinter dem Wechsel
irdischer Verhaltnisse einherschreiten und ist nicht geschickt,
wirtschaftliche Entwicklungen zu dirigieren.
Aber damit ist freilich nicht alles gesagt. Man kann
es nicht leugnen, dafi die grofite Grefahr fiir die verfafiten
Kirchen stets die gewesen ist, in schlechtem Sinne konser-
vativ und trage zu werden und solche Tragheit mit den
erhabensten Grlaubensgedanken zu decken. Die ,,heilige
Indifferenz", die den Einzelnen in bezug auf sein eigenes
Los auf Erden bestimmen soil, wird dem armen Bruder
gepredigt, statt dafi man ihm hilft. Schon in den Tagen,
da der Jakobusbrief geschrieben worden ist, haben Christen
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 35
zu ihrem Mitbruder, der Mangel hatte, gesprochen:
berate Dich", ihm aber nichts gegeben. Der Charakter der
Religion, der auf das Jenseits weist, wurde so ausgebeutet,
dafi man die Liebe im Diesseits vergafi oder vielmehr das
Diesseits doch nicht vergafl, wohl aber die Liebe.
1st es zufallig, dafl dieser schlechte Quietismus von
Anfang an als sein Gregenstiick den Radikalismus hervor-
gerufen hat? Soil die Indifferenz gegen das Irdische und
nicht die Liebe die Verhaltnisse zum Nachsten regeln, so
ist der Radikalismus mindestens ebenso berechtigt, wie der
Quietismus. Also werfe man alles Irdische ab oder teile
es gemeinsam und nivelliere alle GKiter. Wie ein Schatten,
bald kraftiger, bald schwacher, hat die aus der Antike
stammende phantastische Idee einer kommunistischen G-e-
staltung der Wirtschaftsordnung die Kirche begleitet. Mit
dem Gredanken der Weltflucht oder mit sinnlich eschato-
logischen Hoffnungen verkniipft, gait sie als die beste
Losung der evangelisch-sozialen Aufgabe und erklarte der
tragen Indifferenz den Krieg. Naiv vorgestellt, nie wirk-
lich durchgefuhrt und undurchfiihrbar, hat der Wert dieser
Idee darin bestanden, die faule Christenheit aufzuriitteln,
auf die Fehler der herrschenden Wirtschaftsordnung auf-
merksam zu machen und den starren Eigentumsbegriff zu
erweichen. Aber ihre Nachteile waren grofier. Wo sie
einen Versuch machte, sich durchzusetzen oder sich auch
nur zu Gehor zu bringen verstand, da hat sie den Sinn
fur die nachsten Aufgaben und fur das Erreichbare ge-
blendet, da hat sie das Werk schlichter, personlicher Barm-
herzigkeit stets gering geschatzt gegeniiber ihren vermeint-
lich alles Ubel bezwingenden Institutionen, da ist sie
schliefilich in ihr Gegenteil umgeschlagen und hat die
Religion profaniert durch ihren nHimmel auf Erdenu. Dazu
— die Zeitalter der Kirche, in denen die Theorie dem
Kommunismus am nachsten gekommen ist, waren in der
Religion die selbstsiichtigsten. Denn fast niemals ist die
3*
36 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
Bruderliebe das starkste zum Kommunismus treibende
Motiv gewesen, sondern bald eine Weltflucht, die sich mit
der Sorge fiir die Nachsten nicht vertragt, bald ein Ver-
langen nach irdischer Wohlfahrt, das sich mit der Illusion
selbst betrog, das Jenseits auf die Erde herab zu fiihren. —
Ich habe versucht, in wenigen Strichen die prinzipielle
Stellung der christlichen Religion zu sozialen Fragen an-
zugeben und zugleich auf die Punkte aufmerksam zu
machen, wo durch eine Yerschiebung verhangnisvolle
Entwicklungen eintreten muBten. Blicken wir nun auf
die Geschichte.
n.
"Wer die Stellung der altesten Christenheit in sozialer
Hinsicht beschreiben will, mufi vor allem zwischen den
Predigten, Worten, Exklamationen, ja auch den Theorien
einerseits und den Taten andererseits unterscheiden. Das
geschieht nicht immer. In der Theorie und der Anschauung
ging Konservatives und Radikales durcheinander — gleich-
sam versuchte Ideen — , ja die radikale, von der heiligen
Indifferenz und von der Aussicht auf das nahe "Weltende
beherrschte Stimmung scheint alles zu durchdringen. Daher
Aussagen oft gefunden werden wie nNiemand nenne etwas
sein Eigentum", ^Wir haben alles gemeinsam", nGrebt alle
irdischen Qiiter preis". In Zeiten besonderer Not und
akuter Verfolgung ist auch hin und her dem "Worte die
Tat gefolgt: eine einzelne Gremeinde, von einem fanatischen
Manne gefuhrt, verkaufte wirklich alles oder ging in die
Wiiste. Ja in Kleinasien gelang es ein bis zwei Jahrzehnte
hindurch erregten Propheten, Tausende und ganze Ge-
meinden aus der Welt herauszuziehen und die natiirlichen
Ordnungen zu sprengen. Auch finden sich in kleinen
haretischen Gemeinschaffcen — von dem Versuche in Je
rusalem schweige ich, da wir keinen klaren Bericht be-
sitzen — Ansatze zu kommunistischen Organisationen, die
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 37
deutlich nach Platos Muster unternommen werden. Aber
diese Erregungen sind nicht mafigebend. Im Hauptstrom
der kirchlichen Entwicklung 1st vielmehr alles ruhig, kraftig,
zielbewuflt, sogar niichtern im besten Sinne. In den an-
gesehensten und verbreitetsten Schriftstueken lesen wir
Ausfuhrungen, wie die folgende (Brief der romischen Ge-
meinde an die korinthische) : ,,Heil moge find en unsere
ganze Korperschaft in Christus Jesus, und jeder ordne
sich seinem Nachsten unter, gemafl der Gnadengabe, mit
der der Nachste betraut ist. Der Starke vernachlassige
den Schwachen nicht, der Schwache achte den Starken.
Der Reiche unterstiitze den Armen; der Arme danke Gott,
dafi er ih.ni jemand gegeben, durch den seinem Mangel
abgeholfen wird. Der "Weise zeige seine Weisheit nicht in
Worten, sondern in guten Werken. Der Demiitige lobe
sich nicht selbst, sondern lasse sich von anderen seine
Demut bezeugen. Wer ehelos lebt, prahle nicht damit,
sondern erkenne, dafl ein anderer ihm die Enthaltsamkeit
verliehen hat." Kann man niichterner schreiben?
Aber in einem Stiicke allerdings waren alle Christen,
die des Namens wiirdig waren, radikal — namlich gegen-
iiber der Welt des G-otzendienstes, des Schmutzigen, des
Obsconen, der gemeinen Yergniigungen, der Grausamkeit
und des Unbarmherzigen, die sie umgab. ^Sich enthalten
und rein sein", das war die oberste Losung der altesten
Christen in der nsozialen Frage". Kampfen gegen diese
Welt der Sunde, leiden und sterben, um nicht in sie ver-
flochten zu werden: das war der entscheidende Grundsatz.
In diesem Kampfe sind sie hin und her bis zum Protest
wider alles Sinnliche vorgeschritten. Nun, besser ist es,
der Mensch verachtet sein irdisches Teil als dafi er sich
durch dasselbe schandet. Jene Asketen und Martyrer
haben einen stellvertretenden Kampf fur uns alle gekampft :
sie starben, damit die unsittliche Welt untergehe oder sich
doch wenigstens ins Dunkle zuriickziehe, damit aus der
38 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
Kultur, deren Erben wir nocli eben sind, wenigstens das
Schmutzigste und Niedrigste verschwinde. Von der Wurde
des Menschen hatten treffliche Philosophen in trefflicher
Weise geredet und geschrieben; aber blinzelnd schlichen
sie am Gotzendienst vorbei, und puritanische Kraft besaften
sie nicht, weder gegeniiber den Idolen noch gegeniiber
der offentlichen Unsittlichkeit. Hier aber trat eine Ge-
nossenschaft auf, die das was sie kundete — die Wiirde
der unsterblichen Seele, die Gotteskindschaft — in Kraft
und Tat umsetzte.
Neben der sittlichen Reinheit aber war es die Bruder-
liebe, die sie bestimmte, und hier erscheint alles der Ab-
sicht untergeordnet, die einzelne Gemeinde und die ganze
Christenheit zu einer Bruderschaft zu verbinden, die nach
innen und nach auCen wirksam sei. Die ganze Organi
sation der G-emeinden, sofern sie Biscnofe und Diakonen
umfafite, ist zu diesem Zweck entstanden und entwickelte
sich in wundervoller Geschlossenheit und Mannigfaltigkeit.
Der Bruderbund sollte nicLt nur die gemeinsame Gottes-
verehrung, sondern alle Lebensverhaltnisse umspannen.
Etwas Ahnlich.es kannte man bisher nicht; hochstens die
im Reiche verstreuten Synagogen lassen sich vergleichen;
aber sie waren national beschrankt und zugleich in ihrer
Yerbindung schwacher. Innerhalb der Gemeinde als reli-
gioser waren die Nationen, Stande und Klassen wirklich
ausgeglichen. Welche Gleichheit in dem gemeinsamen Be-
sitz geistlicher, ewiger Giiter liegt, kam hier wirklich zum
Ausdruck. Sklaven wurden mit den einfluOreichsten Mrch-
lichen Amtern betraut. Auch die Ehre und Wiirde der
Frauen wurde geschiitzt. Von welcher Zartheit gegeniiber
Sklavinnen zeugen einzelne Martyrerakten! Keuschheit
war der Hauptzug in der nWeltfluchtu. Aber iiber das
alles — den Armen wurde wirklich das Evangelium ge-
predigt, d. h. zum ersten Male wurde eine geistige Reli
gion alien, auch den untersten Standen, zuganglich gemacht.
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 39
Wenn man ermessen will, was das Leifit, muB man die
Streitsehriften des Heiden Celsus und des Christen Origenes
lesen. Celsus gesteht zu, findet es aber auch in der Ord-
nung, dafi Plato nur fur die G-ebildeten und Reinen ge-
schrieben hat: ein festes Verhaltnis zu den hochsten Fragen
konnen nur die Aristokraten gewinnen. Dem gegeniiber
sehen die Christen das Siegel der "Uberlegenheit und Wahr-
heit ihrer E/eligion darin, dafl sie den Menschen auf alien
Stufen gilt — sie ist nicht nur die Religion der Barm-
herzigkeit, sondern auch der Humanitat. Das 18. Jahr-
hundert hat nur wieder entdeckt, was das zweite christliche
Jahrhundert schon besessen hatte.
Besonders beachtenswert ist es, dafi die Leitung der
Liebestatigkeit mit dem Kultus in die engste Verbindung
gesetzt wurde. Dort, wo man himmlische Gaben empfing,
empfing man auch die irdischen, und dort, wo man sich
verpflichtete , Seele und Leib Qott zum lebendigen Opfer
zu bringen , opferte man auch irdische Gaben fur die
Briider. Welch ein Antrieb zum G-eben, und wer brauchte
sich zu schamen, wenn er aus der Hand Gottes nahm!
Ein Tisch verband als Altar den Ausdruck der Gottes-
und der Nachstenliebe. Das war die Seele des „ Systems",
welches die Heiden bewunderten und das zum starken
Mittel der Propaganda neben der privaten Liebestatigkeit
wurde. ,,In gemeinsamen Angelegenheiten setzen sie sich
iiber alle Kosten hinweg", ,,Wenn einer von ihnen leidet,
sehen sie es als gemeinsame Sache an", bezeugt der „ Spot
ter" Lucian. Noch gab es nichts Anstaltliches ; aber das
Ganze, die Gemeinde, funktionierte als freie Anstalt der
Bruderliebe und Hilfleistung.
Dabei wurde die Arbeit eingescharft. Nicht als ob
man in der Arbeit einen besonderen Segen erkannt hatte,
wohl aber eine selbstverstandliche Pflicht. Eben deshalb
soil dem unbeschaftigten armen Bruder von der Gemeinde
Arbeit nachgewiesen werden. ,,Dem Kranken Unter-
40 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: II.
stiitzung, dem Gresunden Arbeit", heiflt es in einer alten
Schrift. Mcht einen altckristlichen Rechtssatz kann man
darans ableiten, wohl aber eine briiderliche Yerpflichtung.
An allgemeine vorbeugende Maflregeln gegeniiber der Ar-
mut dachte allerdings niemand. Die Armut ist ein Yer-
hangnis, das durch Almosen gemildert werden soil. An-
dererseits fuhrte das tiefe Mifitrauen gegen den ungerechten
Mammon niemals oder fast niemals zu prinzipiellen Mafl-
regeln. Auch der Reichtum ist ein Yerhangnis, dessen
schwere Folgen man durch Liebe zu beseitigen oder doch
zu mildern hat.
Die staatlichen, rechtlichen und wirtschaffclichen Ord-
nungen wurden teils anerkannt, teils geduldet. Den Kaiser
und die Obrigkeit soil der Untertan, den Herrn der Sklave
respektieren; umgekehrt soil der Herr, der christliche, im
Sklaven den christlichen Bruder sehen. Wie sich republi-
kanische Neigungen in der altesten Christenheit nicht
finden, so auch keine Bestrebungen zur Sklavenemanzipa-
tion. Aber — ein Tertullian halt es noch nicht fur mog-
lich, dafi ein Kaiser ein Christ sein konne, und auch die
Sklaverei gehort zu den Einrichtungen, die mit der bosen
Welt verschwinden werden.
Der Christ soil das offentliche und staatliche Leben
moglichst auf sich beruhen lassen — wie weit er sich daran
beteiligen und daran bessern durfe, dariiber gab es ver-
schiedene Meinungen und eine verschiedene Praxis. Was
man innerhalb der Qemeinde abmachen und entscheiden
kann, soil nicht aufs Forum getragen werden, und von
selbst verstand es sich, daJS in Ehe- und Familiensachen
die Kirche dem christlichen G-esetze folgte.
Im Laufe des 2. Jahrhunderts vollzog sich langsam
eine folgenreiche Entwicklung. Hatte es von Anfang an
freie Missionare und Lehrer gegeben, die sich besondere
Entsagungen um ihres Berufes willen aufzuerlegen hatten,
aber auch besondere Eechte und Ehren genossen, so ver-
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 41
schwinden diese, aber an ikre Stelle treten gewaklte, amts-
mafiige Vorsteker. Sie nekmen einen Teil der besonderen
Verpnicktungen jener Lekrer auf sick, und man siekt in
diesen eine kokere Sittlickkeit; aber sie erkalten auck die
Reckte jener und werden in steigendem Mafie die Leiter
der Gemeinden. Die vergrofierten Gemeinden verlieren
ikren alten Ckarakter, der auf dem freien Zusammenwirken
der G-aben der Einzelnen berukte, und wurden zu Gemein-
sckaften von Leitern und Geleiteten; an der Spitze der
Bisckof. Die Entwicklung war eine natiirlicke und not-
wendige; aber sie entfesselte dock zwei bisker gebundene
Eigensckaften, die Tragkeit der einen und die Herrsck-
suckt der anderen, in deren Hande alle Gewalten und auck
das Vermogen der Kircke kam. Sie ricktete auck einen
neuen spezifiscken Untersckied in den Gemeinden auf, der
ganz unabkangig war von religiosen und sittlicken Eigen
sckaften.
Und nock auf etwas anderes ist kinzuweisen: Die
Almosen wurden nickt nur aus Bruderliebe gegeben, son-
dern auck an sick gait es als etwas Gutes, sick seines Be-
sitzes teilweise zu entaufiern. Die "Weltnuckt begann in
das Werk der Nackstenliebe kineinzusprecken. Soil man
sick auck kiiten, dariiber rigoristisck abzuurteilen — der
lebendige G-laube an eine zukiinftige Welt und eine zu-
kunftige Seligkeit ist immer eine sittlicke Tat, und dieser
G-laube liegt kier zugrunde — , so ist dock nickt zu ver-
kennen, daB egoistiscke Absickten und eine falscke Vor-
stellung von ,7Verdienstlickkeitu nickt feklten.
Geken wir weiter — die Kircke, im Laufe des 3. Jakr-
kunderts zu einer grofien vom Klerus bekerrsckten Anstalt
entwickelt, tritt im 4. mit dem Staat in die engste Ver-
bindung und erkalt eine privilegierte Stellung in ikm.
In ikren Tkeorien liber Eigentum und Wirtsckafts-
ordnung wurde die Kircke immer kommunistiscker, okne
42 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: II.
doch den letzten Sckritt, die Forderung allgemeiner Preis-
gabe der Giiter oder des wirkliclien G-emeinbesitzes , vor-
zuschreiben. Fast alle groflen Kirchenvater haben AujBe-
rungen getan wie: ,,Aus dem Privateigentum entspringt
aller Streit", ,,der G-eraeinbesitz , resp. der gleiche Besitz
1st die natiirliche, ursprungliche Ordnung", nWas Einer
iiber das Notwendige besitzt, gehort den Armen", »Der
Luxus der Reichen ist Raub an den Armen", wDie Armen
erbitten nicht das deinige, sondern das ihrige". Aber letzt-
lich will keiner von ihnen das Prinzip der Freiwilligkeit
aufgegeben wissen. Einige, wie Lactantius, bezeichnen den
Kommunisnms Platos ausdriicklich. als einen Irrtum, und
andere tragen kein Bedenken, den Eeichtum, wenn er
recht gebrancht wird, in Schntz zn nehmen.
Indessen, die allgemeine Stimmung scheint doch. zum
bediirfnislosen Kommnnismus zu streben. Wie ist das
motiviert? Die Bruderliebe tritt als Motiv nicht deutlich
hervor; andere Beweggrlinde schieben sich vor. Erstlich
die antike Schatzung des beschaulichen, bediirfnislosen
Lebens gegeniiber dem tatigen, dazu das ?,N"aturrechtu des
Aristo teles und der ,,Staat" Platos, wenn man ihn anch
kritisierte. Sodann die Not der Zeit, die es wie eine Er-
losung erscheinen lieB, von allem mit einem Schlage los-
zukommen. Selbst wer sein Vermogen lieb hatte, konnte
schliefilich, nnter dem entsetzlichen Stenerdruck verzweifelnd,
es wegzuwerfen vorziehen, als sich langsam ruinieren zn
lassen. Dazn, die offentlichen Zustande waren so tjrrannisch
und wiederum so unsicher; die neue Kaste von Reichen,
die sich bildete, haufig so unmenschlich ; die alte Erbsiinde
der R/omer, der nahrige Erwerbstrieb und der Greiz, so ent-
wickelt, dafi es einem nur einigermafien geweckten Qefuhl
unertraglich wurde, in solch einer "Welt zu leben. Bedenkt
man nun dazu das alte christliche Mifitrauen gegen den
ungerechten Mammon, die Schwierigkeit, die Frage zu be-
antworten, wieviel man geben soil, weiter die Uberzeugung,
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 43
dafi alles Weggeben verdienstlich 1st und zum Heile der
eigenen Seele geschieht, endlich das vermeintliclie Vorbild
in der Bibel, der Kommunismus der G-emeinde von Jeru
salem — so begreift man die kommunistisch-weltfluchtigen
Neigungen.
Aber, wie bemerkt, das Ergebnis war doch nur frei-
williges Geben, Schenken, Almosen, nicht der Kommunis
mus, dazu — vielleicht das Wichtigste — eine gewisse
Erweichung des egoistischen romischen Eigentumsbegriffs.
Eigentum ist FideikommiB, das unter bestimmten sittlichen
Bedingungen steht: diese Beurteilung bahnte sich an. Es
ist in der Geschichte wie in der Natur: ein scheinbar nn-
geheurer Kraftaufwand ist notig, um eine neue bescheidene
Frucht hervorznbringen.
Den kommunistischen Theorien entspracli das, was
die Kirche selbst tat, durchaus nicht. Vielmehr erscheint
sie als die groBe konservative Macht, die in ihrer Mitte
alle alten Ordnnngen und so auch die Wirtschaftsordnung
schiitzte. Ja man kann noch mehr sagen: von alien Rechts-
und Wirtschaffcsordnungen des untergehenden romischen
Reichs hat sie als festgefugte Anstalt zuletzt fast allein
noch den Vorteil gehabt. AuBer und neben ihr stiirzte
alles zusammen. So hat sie auch, als die Sklavenwirtschaft
zu teuer wurde, als sich trotz der Bemiihungen des Staates
allmahlich die Umsetzung von Sklaven in Horige vollzog,
vielleicht am langsten selbst Sklaven gehalten, obgleich sie
ihre einzelnen Grlieder zu dem guten Werk der Sklaven-
befreiung anfeuerte. Sie war eben allmahlich die grofite
Grundbesitzerin geworden, weil in den stiirmischen Zeiten
der Volkerwanderung aller Privatbesitz gefahrdet war und
sie grofle Privilegien genoC. Sie schiitzte bei dem allge-
meinen Verfall (,,populus Romanus moritur et ridet") die
alte Kultur, sie leitete als grofie Versicherungsanstalt geist-
licher, geistiger und irdischer Giiter, alles, was noch einer
Dauer fahig war, ohne eigenmachtige Umgestaltung zu
44 Z welter Band, erste Abteilung. Reden : II.
neuen Volkern tiber: das war — so diirfen wir heute sa-
gen — damals ihre soziale Aufgabe. Sie reformierte nicht,
sondern sie konservierte. Seit dieser Zeit hat die verfafite
Kirclie bis heute ihren Beruf mehr darin erkannt, in dem
Alten, Absterbenden die noch vorhandenen guten Krafte
nachzuweisen und zu bewahren, als darin, neue heilsame
Krafte zu entfesseln. An den grofien wirtsehaftlichen Um-
walzungen jener Zeit hat sie einen bestimmenden Anteil
nicht gehabt. Ihrem gewohnlich nicht gehaltenen Zins-
verbot kann man eine besondere Wirkung schwerlich zu-
schreiben.
Wie glich sie nun ihre Theorie und Praxis aus? Erst-
lich durch eine halbe Fiktion, durch den Gredanken, sie
selbst sei mit ihrem Vermogen nichts anderes als eine groile
Armen-Versorgungsanstalt, sodann aber auch durch eine
grofiartige Liberalitat gegeniiber der wachsenden Armut
und in dem 4. — 6. Jahrhundert auch noch durch zahllose
segensreiche Anstalten fur Hilflose aller Art. Diese grofien
Anstalten, die selbst die Bewunderung des Kaisers Julian
erweckt haben, losten allmahlich die Q-emeindearmenpflege
ab ; aber die Gremeinden verschwanden iiberhaupt allmahlich.
An ihre Stelle traten die von den Bischofen geleiteten Pa-
rochien. Auf deutschen Boden z. B. ist ein Gremeinde-
Christentum iiberhaupt nicht gekommen. Jene Anstalten,
so heilsam sie waren, nahmen einen aussichtslosen Kampf
auf mit dem Massenelend; aber das Grefuhl des einzelnen
Christen, dafi er fur die Lage seines Mitbruders verant-
wortlich sei, wurde immer schwacher. Je starker die Kirche
den Laien religios bevormundete, um so egoistischer wurde
er im Religiosen. Eine Kirche, die nur Kirche und nicht
Gremeinde ist, isoliert auch den Frommsten und macht ihn
selbstsiichtig.
Aber man kann von der alten Reichskirche nicht
sprechen, ohne den wichtigen EinfLufi zu erwahnen, den
sie auf die Gesetzgebung des romischen E/eichs, bevor es
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 45
unterging, ausgeubt hat. Hier lag ein grofier sozialer Be-
ruf, den sie erfullt hat. Nicht nur in flagrant! traten edle
und nmtige Bischofe grausamen und ungerechten Kaisern
und Staatsbeamten entgegen und schiitzten die Unschuld,
die Schwachen und Hilf losen — auch auf die Gesetzgebung
haben sie von den Tagen Konstantins an den heilsamsten
Einnufl ausgeubt. Aus dem romischen Gesetzbuch Justi-
nians konnte ich Hmen eine lange Reihe von Gresetzen auf-
zahlen, die sittliche Hebung ganzer miBachteter Stande,
die Heiligkeit der Ehe, den Schutz der Schwachen, Kinder-
fursorge, G-efangenenpflege, offentliche Sittlichkeit, Sonntags-
ruhe, ja auch Eigentumsfragen betreffend, die imter der
Einwirkung der TCirche entstanden sind.
Aber trotz dieses Einflusses — die Verbindung von
Kirche und Welt wurde doch von den Frommsten als ein
libel empfunden. Aus isolierten Asketen bildeten sich aske-
tische Gemeinschaffcen. Das Monchtum wachst seit dem
Ende des 3. Jahrhunderts auf, der Stand des ?,apostolischen
Lebens", der Vollkommenen, zur sicheren Rettung der
eigenen Seele, aber auch im Sinne christlicher Freiheit.
Die "Weltkirche erkennt sie an, und sie las sen die Welt-
kirche als ein christliches G-ebilde zweiter Ordnung gelten.
Damit ist besiegelt, was langst vorbereitet war, der Yer-
zicht darauf, das hochste christliche Lebensideal, wie man
es verstand, wirklich in das Leben der Nationen einzu-
fiihren. Dieses Monchtum, aus der heiligen Indifferenz ge-
boren, ist urspriinglich kein karitativer Faktor und ist auch
lange Zeit hindurch kein solcher geworden; aber ein wirt-
schaftlicher wurde er bald, und zwar in einem ganz anderen
Sinn als man es erwartet.
Die Kirche kommt zu den Germanen, und an die Stelle
der Homer treten die Eomanen. Erst diese Volker sind
die Kinder der katholischen Kirche. Darum kommt auch
erst im Mittelalter die Theorie und die Praxis der Kirche
46 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: II.
zur wirklichen Herrschaft: nicht inehr steht die antike Ge-
sellschaffc neben ihr. Ideen, samtlich im Jenseits wurzelnd,
bestimmen das geistliche und geistige Leben; die Furcht
vor dem Jenseits und dem Fegfeuer und die Hoffnung
regieren. Die heilige Indifferenz gegen die Welt und die
Angst urn das individuelle Seelenheil lassen den Gedanken
des selbstandigen Rechts des Diesseits nicht aufkommen.
Man ist davon durehdrungen, dafl das Irdische nur Mittel,
Form, Hiille, wo nicht Schlimmeres ist. Wer iiberhaupt
sann und dachte, lebte im Jenseits — wie genau kannte
man es! — daneben lebte man mit bosem Gewissen in
naiver Sinnlichkeit.
Alle irdischen Verhaltnisse sind korporativ gestaltet;
der einzelne ist fast nur Reprasentant des Standes, dem er
angehort. Wehe dem fahrenden Volk! Geherrscht wurde
mit Kraft, der Beherrsehte ist in der R/egel auch der Ver-
sorgte und halt seinen Dienst fur Naturbestimmung. Nur
die Ungleichheit des Vermogens und die Willkiir seiner
Verwaltung bringt einen Zug der Freiheit und Mannig-
faltigkeit in die eherne soziale Kastenordnung. Eben des-
halb wird dieses unfugsame Element beargwohnt, zumal
der Handel.
In den langsamen Verlauf der wirtschaftliehen Ent-
wicklung von der primitiven Naturalwirtschaft bis zur
Geldwirtschaft greift die Kirche nicht ein; vielmehr umge-
kehrt — sie wird als grofie Besitzerin durchgreifend von
ihr bestimmt. Selbst vom Monchtum gilt das. Man kann
die grofien Reformen des abendlandischen Monchtums, wie
das Uhlhorn jiingst gezeigt hat, auch als die Exponenten
der wirtschaftliehen Entwicklung auffassen. So bedeutet
das Klosterwesen von Clugny eine grofle wirtschaffcliche
Reform in Frankreich, nachdem das Frankreich der Karo-
linger zerstort war. Nur grofle Monchsunterneh m ungen
konnten als Grofigrundwirtschaften in vielen Teilen des
Reichs der Bevolkerung eine neue Existenz bereiten. Die
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 47
Formen, welche die Bettelorden annahmen, entsprachen
dem aufstrebenden Stadtewesen und der Geldwirtscliafb.
Die groflen Klosterverbande sind fur manche Gegenden
landwirtschaftliclie Ringe gewesen mit patriarchalischer
Fiirsorge for die Eingeborenen. Und iiberall gehoren bis
zum 13. Jahrhundert die Kleriker und Monche zum Herren-
stand. Was sie an Kulturarbeit und Liebestatigkeit ge-
leistet haben, entsprang in der Regel nicht dem Motiv der
Bruderliebe, sondern der Absicht, sich auch wirtschaftlich
als die Herren und Patrone zu behaupten.
Die Kirche, nun vollstandig zu der iiber alien stehen-
den hierarchischen Anstalt entwickelt, bleibt dabei, dem
einzelnen ein ganz anderes Verhalten gegeniiber dem Be-
sitz vorzuschreiben , als sich selber, und sie deckt diesen
Widerspruch noch immer durch die Fiktion, dafi sie die
Caritas selber sei. So lange sie in ihren grofien Papsten
fur Recht und Gerechtigkeit eintrat und wirklich eine
sittigende und erziehende, helfende und schiitzende Macht
war, ertrug* man den Widerspruch.
Durch ihre Theologen laflt sie den Gemeinbesitz als
die naturliche, paradiesische Ordnung verkiindigen, leitet
diesen Gedanken in der Regel zu dem anderen der Besitz-
und Bediirfnislosigkeit iiber, preist das in freiwilliger Ar-
mut beschauliche Leben und sieht in der Arbeit vor aliem
eine Siindenstrafe. Wie kann sie aber in der Praxis der
unfreiwilligen Armut als einem libel energisch begegnen,
wenn sie die freiwillige fur ein Gut erklart, und wenn sie
die unfreiwillige fur notwendig erachtet, damit das ver-
dienstliche Almosen moglich sei! Wie kann sie Arbeit und
Tatigkeit befordern, wenn sie dem Ideal der Beschaulich-
keit noch immer nichts iiberzuordnen weifi! Nur das Al
mosen bleibt iibrig; denn nur die Existenz des Elends in
der Welt verschafft den Tatigen und Besitzenden die Mog-
lichkeit, selig zu werden! Ein Fortschritt hier ist insofern
versucht, als man sich bemuht, nun genau anzugeben, wie
48 Zweiter Band, erste Abteihmg. Reden: II.
weit eine wirkliclie Heehtspflicht des Gebens fur den Be-
sitzenden reicht. Eine solche wird anerkannt, nnd das 1st
hochbedeutsam. Aber die Bestimmnngen , die man traf,
blieben auf dem Papier, fiihrten in eine pharisaische Ka-
suistik und stumpften den sittlichen IsTerv ab. Sie erzeugten
die Illusion, als habe man genug getan, wenn man dem
Naehsten in der aufiersten Not einen kleinen Teil des Uber-
flusses gebe. So batten es jene Scholastiker nicht gemeint,
die in kiihnen Strichen das Bild eines christlich-sozialen
Staates zeichneten; aber so wurde es von vielen verstanden.
Wie lehrreich ist es, dafi der einzige Versuch, den wir in
der Kirchengeschichte kennen, den Umfang der Liebespflicht
und Vermogensentaufierung als Rechtspflicht zu bestimmen,
die Liebe beschrankt und gelahmt hat!
Was sich aus dem alien entwickelte, war eine fort-
schreitende Erweichung des Eigentumsbegriffes , dabei ein
massennaffces Almosengeben, eine unzweckmafiige Q-iiter-
verscHeuderung. DaB durch Almosen dem Pauperismus
nicht abzuhelfen sei, dafur leistet das Mittelalter den Be-
weis. Doch hat die Caritas gerade damals haufig den
Bann der heiligen Indifferenz und der nVerdienstlichkeit"
durchbrochen. limner wieder traten groBe geheiligte und
opferfreudige Personen auf, die nicht nur Bufie predigten,
sondern auch Barmherzigkeit. Eine Kette von solchen lauft
vom 11. Jahrhundert bis zum 15., bis zu Savonarola. Sie
taten das, was heute unsere Opferfreudigen nur selten tun:
sie lebten selbst wie die Armen. Aber doch — die Frommen
und Barmherzigen suchten Wunden zu heilen, die sie selbst
absichtlich offen hielten, und die Hilfleistung von Person
zu Person schob bald wieder einer auf den andern ab, bis
sie bei den Medersten hangen blieb.
Der Umschwung beginnt im 14. Jahrhundert. Dem
Ubergang zur Greldwirtschaft kommt die Kirche mit ihrer
Naturalwirtschaft nicht nach. Die Kloster als grofie Gruts-
wirtschaften verarmen. Die romische Kurie verwandelt
Die evangelisch-soziale Aufgafoe. 49
sicli allmahlich in ein unzweckmafiig geleitetes Finanz-
institut. Hierlier gehort der Aufschwung, den das Ablafi-
wesen nimmt. Die Volker und die Laien entdecken end-
lich den Widerspruch zwischen der Predigt der Kirche und
ihrem wirklichen Verfahren. Als Finanzinstitut kommt die
Kirche in Miflkredit.
Gleichzeitig begannen sich die Anschauungen in bezug
auf Arbeit, Besitz und Armut langsam zu andern — nicht
prinzipiell, sondern unter dem Druck geanderter Verhalt-
nisse. Ein dunkles, aber gebieterisch.es Bewufitsein entsteht
von einer notwendigen sittlichen Aufgabe, die nicht in der
Zelle gelost werden kann. Schon die Bettelmonche sind
keine Monche mehr. Sie stehen und arbeiten in der Welt.
Der Antrieb wirkt weiter. Ein Halbes-, ja ein Viertels-
Monchtum entsteht -- freie fromme Genossenschaften, die
einen Teil der monchischen Regeln auf sich nehmen, aber
fur andere in mannigfaltiger Weise arbeiten: einem Armen
ein Siipplein geben ist besser als tatenlose Beschaulichkeit.
Jetzt dammern auch, indem sich die Staaten und Volker
von der verweltlichten Theokratie Roms emanzipieren, die
besonderen und selbstandigen PfLichten auf, welche Staat
und Stadt fur die irdische Wohlfahrt ihrer Burger haben.
Sogar ein Zweig der scholastischen Theologie geht auf
diese Q-edanken ein. Dazu arbeitet sich aus den Standen
und Kasten des Mittelalters die einzelne Personlichkeit, ihr
E^cht und ihr Wert hervor. Man beginnt in den Stadten
unter dem Segen frischer Arbeit und unter dem Druck der
Notwendigkeit einzusehen, dafi die irdische Wohlfahrt ein
Gut ist, dafi sie einen selbstandigen Wert hat und doch
auch mit dem Sittlichen und Ewigen in Verbindung steht.
Damit bekommt die EQlfleistung wieder ein einfaches Ziel
und fordert neue Methoden. So ist die Reformation auch
auf dieser Linie vorbereitet.
Aber alles ist doch noch niedergehalten durch die
Furcht vor dem Jenseits und die Idee der Verdienstlich-
Harnack, Reden und Anfsatze. 2. Aufl. n. 4
50 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
keit, der man bei allem Suchen und Tasten nichts entgegen-
zustellen vermag. Einige Ansatze zur biirgerlichen Armen-
pflege abgerechnet, 1st noch am Ende des 15. Jahrhunderts
alles in bezug auf soziale Hilfleistung aufierlich so wie
im 13. Jahrhundert. Nbch immer 1st das Betteln ein Stand,
„ Arbeit" und Kunst; noch immer ist die Arbeitsscheu, von
den zahlreichen Feiertagen gleichsam legitimiert, das ver-
breitetste Laster. Das sittliche BewuBtsein hat noch. keine
neue Stellung zu Elend und Not gewonnen. Die grofien
Besitzverschiebungen beim Ubergang zur G-eldwirtschaft,
das ungeheure Schwanken der Preise, der Verfall, in den
ganze Klassen gerieten und wiederum ihr Aufstreben und
Sich-selbst-fiihlen ruft grofie Krisen hervor. Die Aufstan-
dischen ergehen sich in zornigen Miichen liber die Kirche
und sehen in den herrschenden Zustanden in Staat und
Kirche das Reich des Satans und des Antichrists. Aber
das Ideal, das sie dem entgegensetzen, ist besten Falls das
alte kommunistische Ideal, mit dem es die Kirche langst
im Monchtum versucht hatte, in der Eegel aber ein naives
seltsames Gremisch von franziskanischer Bedurfnislosigkeit
und irdischer Begehrlichkeit, das mit Grewalt durchgesetzt
werden soil, weil das Ende nahe ist. Erst am Schlufi der
Periode klart sich einiges zu erfullbaren, zukunftsreichen .
Forderungen ab.
Die Reformation tritt ein. Im Politisch-Sozialen folgt
sie ganz den Zustanden, wie sie sich im Lauf zweier Jahr-
hunderte gebildet hatten. Man kann die sozialwirtschaftlichen
Anschauungen der Reformation fast von dorther konstruieren.
Aber das Neue ist, dafi sie aus dem Evangelium legitimist
werden und dadurch ein religioses Fundament erhalten.
Welches sind die Ideen, und wie gestaltete sich die Praxis?
Die Theorie ist von Luther ausgesprochen in seinem
Sermon von den guten Werken, in der Schrift an den
christlichen Adel, in dem Biichlein von der christlichen
Freiheit und sonst. Erstlich — auch er wiirdigt das G-rund-
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 51
element, was sich in der alten Kirche und im Mittelalter
als ,,heilige Indifferenz" darstellte, aber er fafit es in der
einfachsten, reinsten und kraftigsten Gestalt, namlich als
unerschiitterliche Zuversicht zu Grott, als G-ottvertrauen ;
eben darum erscheint es nicht nnr als ein quietistisch.es,
weltfluchtiges , sondern auch als ein aktives, iiberweltliches
Element: ein Christenmensch ist im Glauben ein freier
Herr iiber alle Dinge. Das ist das eine. Das andere aber
ist die R/uckkehr zur Nachstenliebe aus dem selbstsiichtigen
Raffinement der Almosen. Der BegrifF der Nachstenliebe
wird wieder vereinfacht, aber eben dadurch vertieffc: nein
freiwillig und frohlich Leben dem Nachsten zu dienen um-
sonst". Der Verdienstlichkeit der guten Werke werden die
Wurzeln abgeschnitten; denn Qott will mit uns nicht anders
handeln, denn durch. Gnade und Grlauben. Damit wird
die isolierte Schatzung der Almosen und guten "Werke auf-
gehoben; sie empfangen ihre Stellung in dem stetigen,
gemeinniitzigen Wirken im Beruf , wenn der Mensch nicht
sich selber, sondern Grott und seinem Nachsten lebt. Ein
Christenmensch ist in der Liebe ein Knecht aller Dinge.
Aber auch den untrennbaren Zusammenhang von G-ottes-
und Nachstenliebe weifi Luther zu wiirdigen. Er fafit ihn
nur inniger: jeder weltliche Beruf, im Glauben geiibt und
dem gemeinen Nutzen dienend, ist ein Gottesdienst. Alle
Liebestatigkeit, alle soziale Fiirsorge wird zum Spezialfall
in einem Verhalten, das stetige Gesinnung sein soil und
im Beruf seine Sphare hat. Wie Luther sich iiber die
Menge nutzloser Almosen ereifert, so ereifert er sich auch
gegen die ^Liebe", die die auGerste Not abwartet und sich
auf die Erfullung minimaler Rechtspflichten beschrankt.
Dabei erkennt er irdische Giiter als Giiter an, wenn auch
als geringe ; auch wiirdigt er die Arbeit, wenn sie im rechten
Sinne geschieht, hoher als die mittelalterlichen Theologen.
Sie ist nicht nur negotium, Mangel an otium, sondern ein
frohliches Tun.
4*
52 Zweiter Band, erste Abteilung. Heden: II.
Aus solchen IJberzeugungen mufiten neue Grundsatze
fur die soziale Aufgabe folgen. Ich nenne nur die wichtig-
sten: Erstlich, es soil wirklich geholfen werden, Hilfe ist
das letzte und einzige Ziel; zweitens, es soil nur den Hilf-
losen, nicht den Arbeitsscheuen gegeben werden; drittens,
es soil zweckmafiig und nicht in TJberflufi geholfen werden;
viertens, es soil geregelt geholfen werden; fiinftens endlich,
zu solcher Hilfleistung ist vor allem die biirgerliche Q-e-
meinde, die Obrigkeit, kurzum die irdische Grewalt ver-
pflichtet; denn sie ist von Grott mit der Sorge fur die
irdische Wohlfahrt betraut; aber sie selbst soil sich als ein
christlicher Stand wissen und betatigen.
Mit deni alien ist wirklich in der Reformationszeit ein
gewisser Anfang gemacht worden. Hier und dort wurden
die vorhandenen Mittel konzentriert, wurde ein ^gemeiner
Kasten" errichtet, wurden Armenpfleger eingesetzt, Armen-
steuern auferlegt. Aber — man kann es leider kurz sagen:
es wurde schliefilich nichts Erhebliches geschaffen; ja man
mufi noch mehr sagen: die Katholiken haben Recht, wenn
sie behaupten, nicht wir, sondern sie hatten im 16. Jahr-
hundert einen Aufschwung des karitativen Lebens erfahren.
und im Qebiete des Luthertums sei es mit der sozialen
Fiirsorge bald schlimmer bestellt gewesen, als es vorher
war. Woher diese niederschlagende Erscheinung? "Wie ist
es gekommen, dafi die Bewegung, welche neue und bessere
Grrundsatze aufgestellt hat, faktisch zunachst gar nichts
gebessert hat?
Aus den Antworten auf diese traurige Frage konnen
wir noch heute sehr viel lernen.
Zunachst mufi man sich erinnern, dafi Luther bei aller
hoher Schatzung, die er von Anfang an fur den Staat und
die Obrigkeit gehabt hat, doch ursprunglich die erneuerte
Kirche schlechthin auf der Gremeinde erbauen wollte. Gre-
meindebildung auf genossenschaftlicher Grrundlage, auf den
Prinzipien christlicher Freiheit, Briiderlichkeit und Grleich-
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 53
heit schwebte ihm vor. Das nationale Element — aber
die Nation war das romische Reich, deutscher Nation —
sollte dabei auch zum Ausdruck kommen, und eine Ver-
besserung der gesamten wirtschaffclichen und kulturelleii
Lage, eine Hebung der gedriickten Stande war ins Auge
gefafit. Fiir ihn waren das freilich keine selbstandigen
Ideale; vielmehr war es ihm gewLC, dafi sie sich mit der
Wiederherstellung des Evangeliums wie von selbst ver-
wirklichen wiirden. Er konnte sie daher auch zeitweilig
preisgeben und sich gedulden, wenn's sein mufite: nur das
Evangelium sollte freie Bahn erhalten.
Aber er durfte nicht erwarten, so verstanden zu werden.
Kam doch seine Botschaft groflen Standen entgegen, die
unter Druck und Not seufzten, aber nicht mehr knechtisch
genug waren, sie zu ertragen — der slid- und mitteldeutsche
Bauernstand und der niedere Handwerkerstand. Und grade
damals hatten sich die Anspriiche geklart und schienen
jene Stande wiirdig und stark zu sein, um von den bevor-
zugten Klassen der Gresellschaft etwas fordern zu diirfen —
eine berechtigte Stellung unter ihnen. Damals schien das
Ideal der Verwirklichung nahe, alle Stande zu einer grofien
briiderlichen Yereinigung zusammenzuschliefien , die Privi-
legien der Greistlichkeit, des Adels, der Ziinfte zu verkiirzen
und die Nation auf neuer sozialer Grundlage zu bauen.
Wie muflten die Gredriickten den Schriften Luthers zujubeln,
wie dem Manne, der der geplanten Befreiung die Bestatigung
durch das Evangelium gab! wGrott will es", das lasen sie
aus jenen Schriften heraus.
Sie wissen, wie es endete. Die Schuld liegt bei alien;
aber die grofiere Schuld liegt bei den Fiirsten, Herrn und
Stadten, die die revolutionar gewordene Bewegung in
Stromen von Blut untergehen liefien. Und auch Luther
ist nicht schuldlos. Man mag eine feine Qrenze ziehen
und sagen: er hatte nicht Schuld, sondern er war schuld,
Man mag die Gegenfrage aufwerfen, wie er hatte handeln
54 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
sollen: Eines 1st gewiB — der deutsche Staat, die deutsch-
evangelische Kirclie liaben vom Banernkrieg her noch eine
Schuld einzulosen und eine Yerpflichtung zu erfullen. Ein
grower Moment ist, wenn nicht alles tauscht, damals ver-
absaumt worden.
Das Programm, auf der breiten Basis der Gemeinde
die Kirche zu bauen und die gleichberechtigten Stande in
ihr zu briiderliclier Einheit zu verbinden, fallt dahin: die
weltliche Obrigkeit, die Fursten, und — die Theologen
sollen die neue Kirche, die man plotzlich hatte, einrichten
und leiten.
Aber wenn man die ursprunglichen Ideale auch preis-
gab, wie ist es gekommen, dafi man im Sozialen so bitter
wenig erreichte, ja sogar teilweise ninter der Yergangen-
heit zuriickblieb? Warum haben jene oben bezeichneten
Grrundsatze nicht wenigstens eine sparliche Frucht gebracht?
Eine Reihe von Grriinden hat hier zusammengewirkt. Erst-
lich waren die Theologen einseitig auf die reine Lehre be-
dacht, und ihr Grundsatz, daB alle Werke doch immer
unvollkommen bleiben, stahlte die Kraft und Opferwillig-
keit nicht. Der Gredanke der Verdienstlichkeit war rnit
Recht ausgeschlassen ; aber zu einem hoheren Gredanken
mufite erst erzogen werden. Der Trage und Selbstsiichtige
liefi es sich gern sagen, daB Grott sich aus guten "Werken
nichts mache. Sodann fehlte bald, weil die G-emeinde fehlte,
auch die Genossenschaft; ohne Genossenschaft lafit sich
aber im grofien nichts erreichen. Man gewohnte sich daran,
dafi die hohe Obrigkeit alles zu tun habe, und diese tat
immer weniger. Weiter steigerte sich nach dem Bauern-
krieg wieder die allgemeine Not. Die Masse der freiwilligen
und unfreiwilligen MiiBigganger war ungeheuer, und in
dem unfreien Volk lieB sich keine Freude an der Arbeit er-
wecken. Ferner war die finanzielle Lage der lutherischen
Landeskirchen bald eine sehr kummerliche. Ohne eigenes
Yermogen, bald nur Dependenzen des Staates, mufiten sie
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 55
oft zufrieden sein, wenn nur Pfarrer und Schulen eine
kiimmerliclie Dotation erhielten. Der ,,gemeine Kasten",
wo er bestand, schrumpfte zusammen; die direkte Armen-
pflege, ohne Erfahrung und ohne geschulte Krafte unter-
nommen, wurde wieder von einem zum andern geschoben,
bis sie erlosch. Weiter — mit dem neuen Furstenrecht
und der Rezeption des romischen Rechts dringt auch der
romische Eigentumsbegriff wieder ein und verdrangt die
altere bessere Einsicht. Endlich — geistige Verarmung
und Verkriippelung ist uberall die Signatur der Epigonen
des Luthertums. Sie haben iiberall den engsten Horizont:
wie konnte da in irgend welcher Richtung etwas Bedeutendes
geschehen! Das war der Zustand, als der dreifiigjanrige
Krieg ausbrach, der unsere Nation nahezu um ihre Existenz
gebracht hat.
Aber man darf bezeugen, daB es auf reformiertem
Boden viel besser aussah als auf lutherischem. Die Eefor-
mierten hatten Gremeinden; sie waren im Handeln ener-
gischer, weil sie sich. nicht ausschliefilich auf die Predigt
des reinen Worts beschrankten, und weil sie in der Hegel
nicht in der Lage waren, der weltlichen Obrigkeit zu ver-
trauen. Sie entnahmen dem Neuen Testament auch Gre-
sichtspunkte und Einrichtungen fiir das kirchlich-soziale
Handeln; sie erweckten das echte Diakoneninstitut wieder;
sie suchten im Gregensatz zum Katholizismus wirklich eine
neue christliche Gresellschaft zu erziehen und haben sie
erzogen.
Erscheinungen wie das Leben der reformierten Eliicht-
lingsgemeinden, wie die Presbyterianer in Schottland, die
Hugenotten Erankreichs, hat der lutherische Protestantis-
mus zunachst nicht hervorgebracht. Weit iiber bloBe
Armenpflege und Eiirsorge hinaus ist dort ein evange-
lisches Volk erwachsen, in welchem die Religion die Stande
zu einer briiderlichen Vereinigung zusammenband und
wirklich eine neue gemeinsame soziale Lebensordnung ohne
56 Z welter Band, erste Abteilung. E,eden: II.
Kommunismus scliuf. Ja die Puritaner, die die Neu-England-
Staaten gegriindet kaben, haben Generationen kindurck
den Beweis geliefert, dafi ein Gemeinwesen auf Erden
moglick ist, in welckem Religion und Sittlichkeit so
machtig sind wie das Reckt.
Bei uns in Deutsckland war die nackste Folge des
dreifiigjakrigen Krieges eine ungekeure Steigerung der
Klassen- und Standeuntersckiede und die Durckfukrung
des auf den Adel sick stiitzenden Absolutismus. Vielleicht
koniite nur so das Minimum von Kultur geschiitzt werdeii,
welches man nock besafi. Dann aber zeigte sick, dafi in
der lutkeriscken Kircke dock nock Krafte vorkanden waren,
und dafi sie gleicksam latente Sckatze besafl, die nur ge-
koben zu werden brauckten. Damit sind wir bereits zu
den Wurzeln unserer gegenwartigen Zeit vorgesckritten;
denn nock keute steken wir in der Entwicklung, die mit
dem Aufkommen des Pietismus einerseits, der Aufklarung
andererseits begonnen kat.
Der Pietismus kat das Bewufitsein und die Verpflick-
tung zur Liebestatigkeit im Protestantismus wackgerufen.
Indem er die Religion ernst und personKck nakm und sie
erwarmte, kam auck sofort wieder der Nackste in Sickt.
Die Vater des Pietismus kaben den macktigen Antrieb zur
Liebestatigkeit und Armenfursorge gegeben, sowokl zur
burgerlicken, wie zur privaten und genossensckaftlicken.
Was bis keute an ckristlicker Liebestatigkeit von ckrist-
licken Vereinen geleistet worden ist und nock geleistet
wird, kat zum grofiten Teil dort seine Wurzeln. Aber
seine Grenzen kat sick der Pietismus stets ziemlick enge
gesteckt und auck die Mittel kat er einseitig ausgewalilt.
Mit dem Anstaltlicken wollte er es zwingen. Die G-e-
meindeorganisation , die allerdings nur in kummerlickster
Form bestand, liefi er beiseite. DaB man nickt Virtuosen,
sondern gesckulte Krafte braucke, wurde ikm nickt klar,
Die evangeliscli- soziale Aufgabe. 57
und dafi es gelte, das Volk zu erziehen und zu heben — die
Grofie dieser Aufgabe kam selten in seinen Gresichtskreis ( —
freilich, wo war damals das deutsche Yolk!). Es bedurfte
einer anderen Kraft, um diese Aufgabe hervorzutreiben.
Vielleicht gibt es in der ganzen G-eschichte keinen
merkwiirdigeren Prozefi als die Entstehung der Aufklarung
seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und die Greschichte
ihrer Wandelungen bis zum Sozialismus der Gegenwart.
Das, was man das Umschlagen der Entwicklung nennt,
lafit sich hier mehr als einmal beobachten.
Die Entwicklung setzt ein mit der Idee des absoluten
Staates — zunachst im Sinne der absoluten Fiirstengewalt
— und mit dem Gredanken des souveranen Rechts und der
Pflicht des Staates, fur die Wohlfahrt seiner Burger zu
sorgen. Unter dem Druck dieser Idee wird vollends zer-
rieben, was an standischen E/echten, an geschichtlichen Q-e-
bilden und Formen noch vorhanden war - - nur was zum
Hof gehort, ist ausgenommen. Aber eben aus ihrem Unter-
gang steigt, wie ein Phonix aus der Asche, die Idee des
Menschen hervor. Das was schon antike Philosophen fur
das naturliche System gehalten, was im 15. und 16. Jahr-
hundert erobert zu werden schien, um unter den theologi-
schen Kampfen rasch wieder zu verschwinden , fand jetzt
einen Boden, die Menschenrechte, und ein begeisterter Pro
phet verkiindete sie und legte sie aus, Rousseau. Wie
sie auch immer aufwuchs: die Idee war da, sie setzte sich
durch und sie hob alle Ideale, die bisher in der Religion
gegolten hatten, aus dem Medium der Weltflucht und des
Pessimismus heraus, urn sie mit dem Schimmer des freudig-
sten und zuversichtlichsten Optimismus zu bekleiden; sie
hob sie aus der gewordenen Geschichte heraus, um sie in
einer erst werdenden zu verwirklichen. Nur ein Schritt,
und dann ist's geschehen! Wenn sich der einzelne, wenn
sich die Volker nur auf sich selbst besinnen, wenn sie nur
wollen, so konnen sie mit einem Schlage gliickselig werden,
58 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
kann jeder einzelne sich frei entfalten und die hochste
Wohlfahrt erringen, um dann gern und freudig dem ebenso
frei entwickelten Bruder die Hand zu reichen: Freiheit,
Humanitat, Grliickseligkeit. Dieses Evangelism wurde ver-
kiindigt — und unser Vaterland war bettelarm, die unteren
Stande rechtlos, geknechtet, ungebildet, immerfort dem Ver-
hungern nahe! Zuerst spielte der Adel mit dem neuen
Ideal; aber gleichzeitig griff es machtig in die Literatur
ein, und dann fafite es im Biirgertum Wurzel, um in dem
entAvickeltsten Lande, in Frankreich, sich mit Gewalt durch-
zusetzen und alle Volker allmahlich zu durchdringen.
Man mag im iibrigen urteilen wie man will, ein
Doppeltes wird uns alien gewifi sein: erstlich, dafi uns das
18. Jahrhundert unverlierbare G-iiter gebracht hat, das
Reeht und die Wiirde jedes einzelnen Menscnen und die
Humanitat, Griiter, die auch. das Evangelium enthalt und
die Reformation wiedererweckt hat, ohne daJB sie imstande
gewesen ist, sie durchzusetzen; zweitens aber, dafi die Be-
grdndung jener Griiter, wie sie die Aufklarung gab, hin-
fallig ist, ferner daB sie niemals erworbene sind, sondern
immer eine Aufgabe einschliefien, und dafi ihre Durch-
fuhrung Opfer erheischt, materielle und personliche Opfer,
von denen sich die Aufklarung nicht hat traumen lassen.
Sie verkannte, dafi kein geringerer Widerstand dem ,,gluck-
seligen Menschen" gegeniiber steht, als der Mensch selbst,
namlich der naturliche, selbstsiichtige Mensch.
Wir streiten mit der Aufklarung nicht um das Recht
jener Griiter — im Gregenteil, wir bezeugen dankbar, dafi
sie ihre Anerkennung durchgesetzt hat, und dafi eine Fiille
heute geltender, uns selbstverstandlich diinkender sozial-
politischer Uberzeugungen , Gresetze und Institutionen auf
sie zuruckzufiihren ist. Sie erst hat uns wirklich aus dem
Mittelalter herausgefuhrt; sie hat das Aussehen der Gresell-
schaft geandert vom Palast bis zur Hiitte. Beschamt ge-
stehen wir, dafi etwas Wahres an dem Paradoxon des
Die evangelisch-soziale Atifgate. 59
Dichters 1st, Rousseau habe aus Christen Menschen gemacht.
Aber wir streiten mit dem Geist, in welchem die Auf klarung
gearbeitet hat und noch arbeitet. Wir bestreiten ihr Natur-
recht als eine gefahrliche Illusion — der hilflose Mensch
wird mit keinem Rechte geboren, sondern seine Existenz
hangt davon ab, dafl er Liebe findet. "Wir halten ihrem
einseitigen Interesse an der irdischen Wohlfahrt hohere
Interessen entgegen, die Gesundheit der Seele, den leben-
digen Gott und die ewigen Guter. Wir bekampfen endlich
ihre Blindheit, die nicht sieht, daB alle ihre Ideale zu hohlen
Schemen oder gradezu zu furchtbaren Mitteln einer allge-
meinen Zersetzung werden miissen, wenn nicht die Selbst-
sucht im Menschen gebrochen wird und ihm gewaltige,
freudige Krafte des Guten zugefiihrt werden. Ja wohl —
sagt man — der Altruismus, und der stellt sich von selbst
durch das wohl verstandene Interesse oder durch eine ge-
wisse angeborene Gutmiitigkeit oder durch den Geselligkeits-
trieb ein, wenn nur die allgemeinen Existenzbedingungen
besser werden. Das ist von alien Unwahrheiten die schlimmste
und der argste Betrug. Noch warten wir auf den Entwurf
einer Wirtschaftsordnung, bei dem nicht die Selbstsucht
ihre Eechnung finden konnte oder die die Menschenliebe
erzeugt wie ein Naturprodukt. Das predigt uns doch die
franzosische Revolution und alles, was wir seitdem erlebt
haben, dafi die sich selbst iiberlassene Auf klarung kein
dauerndes Gebilde schafft, und dafi die schrankenlose Frei-
heit nicht baut, sondern zerstort. Erst als man den ge-
schichtlichen Faden wieder aufnahm, an die E/eligion, das
Recht, die Sitte wieder ankniipfte, konnte dem, was be-
rechtigt und wertvoll an den Ideen der Aufklarung war,
Gestalt und Dauer gegeben werden.
Wie das in den ersten zwei Dritteln unseres Jahrhun-
derts geschah, war freilich nicht erhebend. Langsam unter
unendlichen Erschwerungen mufite einer bosen Reaktion
der Fortschritt abgerungen werden. Das Kirchentum stand
50 Zweiter Band, erste Abteilung. Keden: II.
dabei gewohnlich auf der falschen Seite. Die Erinnerung
daran 1st in der Nation noch heute lebendig; sie spielt auch
in die wirtschaftlichen Kampfe der Gegenwart hinein. Es
stiinde heute vieles besser im Verkehr der Stande und mit
den offentlichen Zustanden, wenn dieser schwarze Schatten
nicht auf der nachsten Vergangenheit lage. Selbst der
grofie, herrliche Aufsehwung, den die kirchliche Liebes-
tatigkeit in unserem Jahrhundert extensiv nnd intensiv
genommen hat, vermag ihn nicht zu bannen. Wie vor
dem Banernkriege ist nach den Freiheitskriegen ein grofier
Moment fur unsere Nation verscherzt worden. Das hat
eine ahnliche Stimmung erzeugt wie damals und auch der
Kirche Tausende entfremdet. Unterdessen vollzog sich in
einem Zweige der Aufklarung ein vollkommener Front-
wechsel.
Dafi die schrankenlose Freiheit, solange die Menschen
mit verschiedenen Kraften begabt oder ausgestattet sind,
notwendig zur vollkommensten Unterdriickung des Schwa-
cheren fuhren miisse — diese einfache Wahrheit war end-
lich erkannt worden. Grleichzeitig wurde unter dem Ein-
druck der Naturwissenschaft , die auch die einzige mid
wahre Menschenwissenschaft sei, von den Idealen Rous-
seaus alles vollends abgestreift, was sich nicht auf die
sinnliche Existenz bezieht. Der Kampf urns Dasein wurde
das souverane Schlagwort. Diese Entwicklung fiihrte, in-
dem wie am Anfang die Idee des absoluten Staates noch
einmal Dienste tat, zu einem Umschlag: aus dem Indivi-
dualismus heraus bildete sich die Forderung des Sozialismus
als des einzig moglichen Mittels, die direkt auf dem Wege
der schrankenlosen Freiheit d. h. des Anarchismus nicht zu
erreichenden Anspruche des Individuums zu befriedigen.
Unsere heutige Sozialdemokratie ist — mindestens zu einem
Teile — nichts anderes als eine erniichterte und drapierte
Form des Individualismus des 18. Jahrhunderts , die kein
anderes hochstes Ideal kennt als die irdische Wohlfahrt
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 61
des einzelnen und keine anderen Krafte als den Selbst-
erhaltungstrieb und das allgemeine Stimnirecht. Das wSo-
ziale" ist teils Maske, teils Hebel fur den schrankenlosen
irdischen Grliickseligkeitstrieb des einzelnen. Doch diese
Schlufientwicklung, unter dem Zeichen der Maschine und
des allgemeinen Weltverkehrs rapid verlaufend, ist uns
alien bekannt.
Was ist nun in der Gregenwart unsere Situation und
Aufgabe?
m.
Man darf sagen, dafl die soziale Aufgabe der Kirche
in der Gregenwart neu ist und brennender als in der Ver-
gangenheit: niclit weil Armut und Elend grofler sind als
fruher — • das ist mindestens nicht nachweisbar — ; nicht
weil die kirchliche Liebestatigkeit lassiger ist als fruher —
das Gregenteil ist der Fall — , auch nicht weil opferfreudige
und geschulte Heifer minder zahlreich sind als fruher —
sie sind zahlreicher als je. Aber wie lafit sich dann noch
behaupten, die Aufgabe der Gregenwart sei neu und bren
nender als in der Vergangenheit? Nun — neue brennende
Aufgaben erscheinen in der Greschichte niemals auf den
Tiefpunkten absteigender Entwicklungen. In der Dumpf-
lieit und dem Elend eines solchen Daseins mufi vielmehr
alle Kraft angespannt werden, um wenigstens den Rest
des alten Besitzes noch. zu erhalten. Nur ein irgendwie
fortschreitendes Zeitalter vermag die VerpnicMung eines
hoheren neuen Aufsckwungs zu empnnden. So sind es
auch. in der Gregenwart die Fortschritte , die wir bereits
gemacht haben, die uns neue Aufgaben aufdrangen. Ich
will diese Fortschritte kurz bezeichnen und hoffe, dabei
keinem Widerspruch zu begegnen:
Erstlich, wir haben es nicht mehr mit bevormundeten,
sondern mit gleichberechtigten — zum Teil freilich hilf-
losen — Standen zu tun, und ein gewisses Mafi von Bil-
(J2 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: II.
dung 1st Gemeingut geworden. Dieser Punkt bedarf keiner
weiteren Ausfuhrung. Es stellt sich in ihm der ungeheure
Eortschritt des letzten Jahrhunderts dar. Hilfeleistung in
Form patriarchalischer Fiirsorge der oberen Stande fiir die
unteren ist nur noch in engen, abgelegenen Kreisen oder
unter besonderen Bedingungen moglich. Wie vor dem G-e-
setz die Stande auf dem Fufie der Grleichheit miteinander
verkehren, so hat sich auch im Leben ein solcher Verkehr,
sei es ein freundlicher, sei es ein feindlicher, immer mehr
angebahnt. Die Grleichheit der politischen Rechte und die
Verbreitung der Bildung leisten ihm fortwahrend Vorschub.
Um so einschneidender trennt die Verschiedenheit des Ver-
mogens (Kapitalbesitzer und Arbeiter, die sich gleichsam
unpersonlich gegeniiberstehen), und um so unertraglicher
wird der Zustand, dafl ganze Klasseii der Bevolkerung, die
eine gute Schulbildung genossen und durch sie eine leben-
dige Empnndung fur die Segnungen der Kultur empfangen
haben, wirtschaftlich so beengt sind, dafl sie von jenen
Segnungen nur weniges fur sich zu gewinnen vermogen
und auflerdem die kleinste Storung imstande ist, sie zu
ruinieren.
Zweitens, Pflicht und Q-ewissen in bezug auf die Wohl-
fahrt aller Q-lieder der Gresellschaft sind gescharfter als
friiher — das ist ein unverkennbarer und gewaltiger Fort-
schritt, und wer ihn nicht innerlich mitmachen will, dem
wird er aufgezwungen. Dazu kommt, dafi wir Armut und
Elend in einem anderen Sinne wie friiher fur eine schwere
sittliche Grefahr zu halten gelernt, zugleich aber erkannt
haben, dafi ohne vorbeugende Mafiregeln nichts durch-
greifend gebessert werden kann. Die Verpflichtung, die
uns aus diesen Erkenntnissen erwachst, ist eine ganz neue.
Kein vergangenes Zeitalter hat sie so empfunden. Wie in
der Heilkunde die Hygiene (die vorbeugenden Mafiregeln)
immer mehr in den Vordergrund tritt, so auch auf dem
sozial-wirtschaftlichen Grebiete.
Die evangelisch-soziale Auf gab e. 63
Drittens, wir haben iiberall heute die groBe Macht der
Weltwirtschaft vor uns; sie zielit alles in sich hinein; sie
maclit sick in dem abgelegensten Weberdorf fuhlbar; sie
lost alle iiberkommenen Verhaltnisse auf oder bildet sie um
und bedroht die wirtschaftliche Existenz ganzer Berufs-
klassen mit Unsicherheit. Kein Wunder, daB sie auch in
die kirchliehen Organisationen hineingreift: die Freiziigig-
keit — um nur einen Punkt zu nennen — , die eine Folge
des Weltverkehrs ist, droht auch die Gremeinden zu sprengen.
Innerhalb und auBerhalb der groBen Stadte haben wir eine
nomadisierende Bevolkerung; wie schwierig es ist, unter
einer solchen hokere Sittlichkeit und Religion aufrecht zu
erhalten, lehrt jedes Blatt der Geschichte.
Viertens, wir stenen nicnt mehr bloB naiv-kommunisti-
schen Ideen gegeniiber, sondern wissenschaftHch entwickel-
ten, auf der Grundlage materialistischer Weltanschauung
beruhenden sozialistischen Systemen; diese suchen sich der
Volker zu bemachtigen, und bereits losen sich groBe Grruppen
entschieden und prinzipiell nicht nur von den Kirchen,
sondern auch von dem christlichen Grlauben und der christ-
lichen Sittlichkeit los: der theoretische und praktische
Materialismus wird eine Macht im 6'ffentlichen Leben.
Auch diese Entwicklung ist keineswegs nur unter dem
Gresichtspunkt des ,,Abfalls" und 7,Ruckschritts" zu be-
urteilen. Wer von einem Abfall redet, muB nachweisen,
daB vorher ein lebendiger Zusammenhang vorhanden ge-
wesen ist. Aber weite Ejreise, die heute als ,,abgefallenea
gelten, haben nie einen solchen lebendigen Zusammenhang
besessen. Der Gegensatz tritt heute nur drastischer und
erschreckender hervor, wahrend er friiher verhiillt war.
Allerdings ist eine Hiille unter Umstanden eine fesselnde
und sittigende Macht, und man kann deshalb ihren Unter-
gang beklagen. Allein es ist doch ein Fortschritt, wenn
Weltanschauung deutlich gegen Weltansciiauung steht.
Auch gibt es noch Schlimmeres als prinzifw'eHen Materialis-
(54 Zweiter Band, erste Abteilnng. Reden: II.
mus, namlich die absolute Indifferenz oder den berechnenden
Egoismus, der aus alien Weltanschauungen gleichzeitig for
sich Vorteile zu ziehen sucht und jede Uberzeugung haflt,
die das eigene Wohlbehagen zu storen und Pflichten auf-
zuerlegen droht.
Aus diesen Faktoren vornehmlich setzt sich unsere
Lage zusammen. und sie hat man zunachst ins Auge zu
fassen, wenn man die Frage nach der besonderen sozialen
Aufgabe der Kirche in der G-egenwart beantworten will.
Dem MiBverstandnis aber brauche ich wohl nicht mehr zu
begegnen, als hatte die Kirche die Aufgabe, diese Schwierig-
keiten zu heben oder als besafie sie ein Universalmittel,
welches alle Schaden heilt. Die romische Kirche tut freilich
manchmal so, als ware sie im Besitz dieses Arcanums, und
warte nur darauf, dafi die Volker es einnehmen; allein sie
meint es damit nicht ernsthaft. Als christliche Kirche
kann sie auch schliefilich nicht dariiber hinweg kommen,
dafi der Friede, den das Evangelium verheiOt, ein uber-
weltlicher ist, und dafi die Religion nicht die Aufgabe hat,
wirtschaftliche Zustande zu verbessern. Wenn wir daher
von einer sozialen Aufgabe der Kirche, unserer evan-
gelischen Kirche, sprechen, so kann das keinen anderen
Sinn haben, als festzustellen, wie sich unter den heutigen
Verhaltnissen diese Aufgabe, die im Grrunde dieselbe, in den
Entscheidungsformen aber eine sehr verschiedene ist, zu ge-
stalten hat. Und auch die Mittel, iiber welche die Kirche
verfugt, sind im G-runde nicht wandelbar, wohl aber ist
ihre Anwendung in den verschiedenen Zeiten eine ver
schiedene.
Allem zuvor ist darauf hinzuweisen, dafi die oberste
Aufgabe der Kirche die Predigt des Evangeliums, d. h. die
Botschaft von der Erlosung und vom ewigen Leben, bleibt.
Es ware um das Christentum als Religion geschehen, wenn
dies verdunkelt wiirde und man etwa im Interesse der
Popularitat oder im Ubereifer des Reformers das Evan-
Die evangeliscli-soziale Aufgabe. 65
gelium in ein soziales Manifest umwandelte. Ja man darf
noch mehr sagen — niemand soil letztlich von der Ver-
kiindigung der Kirche etwas anderes fur sich erwarten als
einen festen, trostlichen G-lauben, der die Not des Lebens
liberwindet. ,,Was Mlfe es dem Menschen, wenn er die
ganze Welt gewonne und nehme doch Schaden an seiner
Seele" — diese Uberzeugung und die Botschaft von Jesus
Christus dem Erloser sind der Kern des Evangeliums, und
aus ihm entwickelt sich die Weltanschauung, d. h. die Be-
urteilung von Seele und Leib, Leben und Tod, Grliick und
Ungliick, Reichtum und Armut, welche die Wahrheit ist
und deshalb befreit. Welch eine Macht aber in jeder ge-
geschlossenen Weltanschauung liegt, das zeigt uns in der
Gregenwart die sozialistische Bewegung. In beredten Worten
ist uns auf einem der letzten Kongresse dargelegt worden,
dafi es eben die Weltanschauung ist, welche der Sozial-
demokratie ihre Starke gibt. Diese Tausende, die ihr an-
hangen, wollen nicht nur Brot; sie wissen es vielmehr, daB
sie nicht von Brot allein leben: sie wollen eine Antwort
auf alle Fragen der Welt und des Lebens, und sind bereit
dafur - - fur ihren Grlauben — Opfer zu bringen. Eben
darum hat es die Kirche heutzutage leichter als in irgend
einer der friiheren Perioden. Me hat es eine Zeit gegeben,
in der so viele Menschen nach einer festen selbstandigen
Uberzeugung streben, wie heute. Trotz aller Zersplitterung
und scheinbaren Auflosung gibt es eine Kraft, die uberall
hindringt, zusammenbindet, feste geistige Gemeinschaft
schafft, das ist der G-edanke und das Wort. Und das
starkere Wort wird siegen. Fiir eine Uberzeugung, die
wirklich Uberzeugung ist, fur einen Grlauben, der wirklich
geglaubt wird, ist unser Greschlecht noch eben bereit, das
eigene Leben in die Schanze zu schlagen. So niedrig ist
der Mensch nicht geartet, dafi er Ruhe fande im G-enufi
und im Dienst seines eigenen Ichs. Er sucht nach einer
Lebensuberzeugung. Aber der Grlaube mufi wirklich ge-
H a r n a c k , Reden und Auf satze. 2. Aufl. II. 5
(56 Zweiter Band, erste Abteilung. Keden: II.
glaubt werden. Hier liegt die Aufgabe der Kirche, die
alte und die neue. Sie soil dem heutigen Geschlecht den
lebendigen Gott und das ewige Leben verkiindigen. Sie
soil von dem Herrn und Erloser zeugen, dessen Bild auch
dem Entfremdetsten noch immer Ehrfurcht und Liebe ab-
gewinnt. Sie soil mit allem Ernst predigen, dafi die Siinde
der Leute Verderben und die starkste Wurzel alles Elends
ist, und sie soil das tun in rechter Freiheit, in verstaiid-
licher Form und mit verstandlichen Ausdrucksmitteln. Tut
sie das, so hat sie schon den Hauptteil ihrer ^sozialen
Aufgabe" erfullt. Aber um das zu konnen, mufi sie mit
jeder wirklichen Erkenntnis, mit jeder Wahrheit im Bunde
stehen, sonst diskreditiert sie ihre eigene Botschaft. Zwar
geniigt oft ein Strahl des Evangeliums, um ein Herz zu
erhellen und zu befreien, und der niederste Diener Jesu
Christi kann dem Nachsten ein rechter Heiland werden;
aber im grofien Kampf der Geister, wo Weltanschauung
gegen Weltanschauung steht, kann sich nur durchsetzen,
was ein Granzes ist und sich in jeder Bichtung als wahr
und kraffcig erweist.
Ich habe gesagt, letztlich sollte niemand von der Ver-
kiindigung der Kirche etwas anderes fur sich erwarten, als
einen festen trostlichen Grlauben, der die Not des Lebens
iiberwindet. Der Nachdruck liegt hier auf dem ,,fur sich".
Fiir andere ist es anders. Wir haben in dem geschicht-
lichen Bericht gesehen, dafi die Ausgestaltung der G-e-
ineinde zu einem tatkraftigen Bruderbunde und der Zu-
sammenschluB solcher Gemeinden zu einem hilfreichen
Verbande dem Christentum wesentlich ist, und dafi die
Verkummerung der Gemeinden im Laufe der Geschichte
einen schweren Schaden bedeutete. Die Liebestatigkeit war
im Anfang ein iiberzeugendes Mittel der Propaganda, und
Jesus Christus selbst hat das Evangelium gepredigt, indem
er half. Ist die Siinde die starke Wurzel des Elends, so
erzeugen Elend und Irrtum wieder Siinde und Schande.
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 67
Darum gilt es, einen Kampf wider das Elend zu fiihren.
Soil dieser Kampf aber recht gefiihrt werden, so ist ein
doppeltes no tig: erstlich die Wirksamkeit von Person zu
Person, und zweitens eine wirkliche Gemeinbildung. Tiber
das erstere brauche ich nicht viel zu reden. "Wir alle
wissen es, dafi letztlich nur die Liebe in Betracht kommt,
die der Person nachgeht. Alle Anstalten und hilfreichen
Veranstaltungen sind nur Formen; wirklichen Wert hat
allein was vom Herzen kommt und zum Herzen spricht,
und nur dies fallt auf der Wage der Ewigkeit ins Gewicht.
Nicht uber den Nachsten, dem man helfen will, soil man
sich aber dabei stellen, auch nicht unter ihn, sondern neben
ihn. Briider sollen wir sein, nicht Patrone. Hier hat die
christliche Liebe ihr Feld und ihre eigenste Aufgabe. Und
je unpersonlicher sich durch die Entwicklung unserer Wirt-
schaftsordnung das Verhaltnis der Klassen gestaltet, um so
notwendiger ist diese Arbeit.
Aber ohne den ZusammenschluB zu festen Gemeinden
bleibt alles vereinzelt. Darum miissen wir den Freunden
dankbar sein, die in unseren Tagen wieder daran erinnert
haben, dafi unsere Kirche von der Reformation her noch
die Verpflichtung einzulosen hat, wirkliche Gemeinden zu
bilden und ein kraftiges' Gemeindeleben zu erwecken. Man
wirft uns ein: ^damit kommt ihr zu spat; eine solche Or
ganisation ist heute nicht mehr moglich; weder lafit sie
unsere bureaukratische Kirchenverfassung zu, noch kann
man aus dem Massen- und Staatschristentum lebendige
Gemeinden bilden." Gewifi schwer genug ist es, aber ver-
zweifelt steht es um die Losung der Aufgabe doch noch
nicht. Miifiten wir sie wirklich preisgeben, so wufite ich
nicht, wie uns geholfen werden konnte; denn das, was die
Gemeinde zu leisten hat, kann doch niemals durch allge-
meine soziale Institutionen und Zwangsmafiregeln ersetzt
werden. DaC wir, wenn auch in kummerlichen Formen,
noch eben Gemeinden besitzen, ist ein hohes Gut, und es
5*
(J8 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: II.
ware verhangnis voll , wollten wir es fur unwert erachten,
nm anderen organisatorisclien Zielen nachzulaufen. Diese
Gemeinden sind nocli eben, wie jedermann weifi und em-
pfindet, ihrer Grundform nach Genossenschaften , in denen
die Unterschiede von vornehm und gering, reich und arm
ausgeglichen sein sollen und in welche die Klassengegen-
satze nicht hineinreichen diirfen, d. h. es sind Gebilde, wie
wir sie in der gegenwartigen Zeit besonders notig haben.
Darum sollen wir sie mit alien Kraften ausbilden, beleben
und dabei ruhig abwarten, ob die politische Form unseres
Kirchentums durch. sie allmanlich. umgebildet oder gesprengt
werden wird. Neben der Predigt des Evangeliums ist der
Ausbau der G-emeinde die oberste evangelisch-soziale Auf-
gabe. Dem Kleinmut aber, der an der Losung dieser Auf-
gabe verzweifelt, weil die gegenwartigen "Weltverhaltnisse
eine solche Organisation iiberhaupt nicht mehr zulassen,
halten wir das Beispiel der Sozialdemokratie entgegen. Sie
bringt es fertig, inmitten nomadisierender Scharen unter
Hemmnissen aller Art eine straffe Organisation, stadtisch,
provinziell, national und international, zu schaffen und zu
erhalten — sollten wir es nicht konnen? Man wendet ein,
dort handele es sich wesentlich um einen Stand und um
ein durchschlagendes Interesse, das alle verbinde. Aber
haben nicht auch wir ein durchschlagendes Interesse und
eine Botschaft, die die verschiedenen Stande zur geistigen
Einheit fiihrt? Nicht an den Yerhaltnissen liegt es, wenn
unsere G-emeinden das nicht werden und sind, was sie sein
sollten, sondern an dem Mangel an Glaube und Liebe.
Das ist freilich gewifi, daB wir zu Gemeinden, die
nichts anderes sind als gottesdienstliche Gemeinden, die
Menschen nicht mehr zusammenfuhren werden, und dafi
solche Gemeinden unkraftig bleiben miissen. Aber hier
gibt uns die alteste Kirche ein Vorbild, wie eine rechte
Gemeinde beschafien sein mu.fi, und der Gang, den die Ent-
wicklung der kirchlichen Liebestatigkeit in unserm Jahr-
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 69
hundert genonunen hat, weist uns eben dorthin. Es 1st
doch kein Traum, dafl es eimnal in der Christenheit Gre-
meinden gegeben hat, iibersehbar, wohl geordnet und fest,
in denen neben dem Grottesdienste die Liebestatigkeit den
Mittelpunkt gebildet hat, ja in denen Grottesdienst nnd
Liebestatigkeit zu einer Einheit verschmolzen waren. Diir-
fen wir sagen, dafl das fiir uns nnerreichbar ist? G-ewifS
nicht. Es mufl viebnehr das fest ins Auge zu fassende
Ziel sein, dem wir zustreben. Eben darum sollen alle die
groJBen Arbeiten christlicher Liebestatigkeit nicht nur ge-
pnegt und erweitert, sondern immer fester der Gremeinde
eingegliedert werden. Wo eine einzelne G-emeinde zu klein
ist, um die Aufgaben zu losen, da sollen sich mehrere zu-
sammentun, aufwarts steigend bis zu einem provinzialen
Verbande. Die Kirche soil auch G-emeindehaus sein oder
besser - — neben der Kirche soil ein Gremeindehaus bestehen,
und nicht nur um eine Predigt anzuhoren, soil man zu-
sammenkommen, sondern auch um Hilfeleistungen aller Art
zu beraten. Das rechte christliche Ehrgefuhl soil erweckt
werden, dafi niemand ein Christ ist, der nicht bereit ist,
personlich als Pfleger und Heifer einzutreten, und aufierdem
sollen in jeder G-emeinde berufsmafiige , ausgebildete Dia-
konen und Diakonissen arbeiten. Kein Hilf loser soil sagen
diirfen, dafi sich niemand um ihn kummere. Unsere Zeit
ergotzt sich an Utopien und spielt mit diesem nicht un-
gefahrlichen Spielzeug — das eben Gresagte ist keine Utopie,
sondern kann eine Wirklichkeit werden. Davon dafi es
eine Wirklichkeit wird, dafi Opferscheu, Greiz und Tragheit
gebrochen werden, hangt zwar nicht die Existenz unseres
Kirchentums ab — es kann sich vielleicht noch sehr lange
erhalten ; denn es hat viele Stiitzen — , wohl aber die Existenz
eines wahrhaft evangelischen Christentums und das Recht
unserer Kirche, um das Herz unseres Volkes zu werben.
Aber Recht haben die Qegner, wenn sie sagen, dafi
die Bildung solcher Gremeinden eine lange Arbeit erheischt,
70 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: II.
und daB unsere heutigen Zustande des offentlichen Lebens
noch ein anderes Eingreifen erfordern. Kann und soil die
Kirche — ich meine hier die organisierte Kirche — noch.
etwas anderes tun als das Evangelium verkiindigen und
die G-emeinden ausbauen? Wir stehen hier vor einer wich-
tigen Frage. Die einen beantworten sie mit einem ent-
schiedenen ,,Nein"; sie sind in der Mehrzahl, und sie be-
griinden dieses nNeina sehr verschieden. Die anderen
bejahen die Frage, aber in der Hegel nicht unumwunden,
oder sie entziehen sich ihr durch die Antwort, die Kirche
moge tun oder lassen, was sie wolle, aber die Christen
seien verpflichtet, mit dem Evangelium in die offentlichen
Zustande einzugreifen.
Was der einzelne zu tun hat, mag hier noch auf sich
beruhen — aber unzweifelhaffc scheint mir: da unsere
Kirche noch immer eine groBe einflufireiche Stellung im
Staate und im Volksleben besitzt, so ist sie verpflichtet sie
im evangelisch-sozialen Sinne zu gebrauchen und demge-
maB solche Wege aufzusuchen, auf denen sie sich zu Ge-
hor zu bringen vermag. Sie wird sonst immer mehr dem
Verdachte, dafi sie ein gefiigiges Werkzeug des ^Klassen-
staats" sei, erliegen, und sie wird daran schuld sein, dafl
die sozialen Ordnungen des offentlichen Lebens in eine
immer groBere Spannung mit den christlichen Gresinnungen
geraten. Selbst die alte Kirche hat in einer Zeit, da sie
noch numerisch schwach war, ihre Stimme gegeniiber den
Mifistanden im E/eiche erhoben. Die nachkonstantinische
Reichskirche hat, wie wir gesehen haben, die Yerpflichtung
gefuh.lt, ihren EinnuB zur Abschaffung sittlicher ISTotstande
geltend zu machen. Auch im Mittelalter sind die Papste
der Gewalt und Tyrannei sowie der offentlichen Unsittlich-
keit entgegengetreten und verzichten noch heute nicht
darauf, ihr Urteil in grofien sitth'ch- sozialen Fragen abzu-
geben. Allerdings besteht nun gerade in diesem Punkte
ein tiefer Unterschied zwischen dem Katholizismus und
Die evangelisch-soziale Aufgaloe. 71
Protest antisnras. Jenem 1st die „ Kirche" nur das hierar-
chische Kircheninstitut, welches deshalb alles tun mufi;
dieser sieht den christlichen G-eist nicht nur in die verfafite
Kirche gebannt, sondern vertraut darauf, dafi er auch in
den irdischen Berufen und Ordnungen der Christenheit zu
finden ist. Eben deshalb vertraut er auch, dafi Regierung
und Obrigkeit, wenn sie recht ihres Amtes walten, sich
mit den christlich-sittlichen Gresinnungen in Einklang be-
finden werden, und iiberlafit ihnen daher gerne die Ord-
nung der irdischen Dinge. Allein das schliefit nicht aus,
dafi auch die Kirche gegeniiber sittlich-sozialen Notstanden
ihre Stimme erhebt und auf die offentliche Meinung und
die Leitung des Staatslebens einwirkt. Ja es wird das
ihre Pnicht, wenn jene lassig oder stumpf sind. Unsere
Kirchen sind jetzt miindiger, als sie es noch vor dreifiig
Jahren waren. Wozu haben sie ihren Mund, ihre Gre-
meindevertretungen , ihre Kreis-, Provinzial- und General-
synoden und wiederum ihren Oberkirchenrat und Kon-
sistorien, als um in sittlich-sozialen Fragen auch offentlich
zu bezeugen in der Gremeinde, in der Stadt, in der Pro-
vinz, im ganzen Lande: ,,das soil sein und das soil nicht
sein"? Sollen sie nur iiber Kirchensteuern, Kirchenformeln
und Quisquilien verhandeln? Eine Zeit lang ertragt man
das, aber auf die Dauer ist es unertraglich und wiirde bald
Mitleid und Schlimmeres wider die ganze kirchliche Orga
nisation erregen; denn dieser ungeheure Apparat hat nur
ein Existenzrecht, wenn er dem G-anzen wirklich etwas
leistet — nicht durch Deklamationen, sondern durch evan-
gelisch-soziales "Wirken, eine jede Ordnung auf ihrer Stufe.
Aber je bestimmter dies zu fordern ist, um so be-
stimmter ist auch das G-ebiet abzugrenzen, auf das sich
diese Wirksamkeit der Kirche zu beschranken hat. Wirt-
schaftliche Fragen gehoren nicht in diesen Kreis. Mit all
den sozial - wirtschaftlichen Bestrebungen wie Verstaatli-
chungen, Bodenbesitzreform, Arbeitstag, Preisregulierungen,
72 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
Steuer- und Versicherungswesen u. dergl. hat sie gar nichts
zu tun; denn die Entscheidung in diesen Fragen fordert
eine Sachkenntnis , die auflerhalb Hirer Grenzen liegt, und
sie wiirde dazu in die schlimmste Verweltlichung geraten,
wenn sie auf diese Fragen einginge. Aber wo sie in den
offentlichen Zustanden schwere sittliche Schaden als ge-
duldete bemerkt, da soil sie eintreten. 1st es recht, dafi
die Kirche achselzuckend und schweigend an der Pro
stitution vorubergeht, wie der Priester an dem, der unter
die Morder gef alien war? Greniigt es, dafi man Hire Be-
kampfung christlichen Vereinen iiberlaUt und fur Magda-
lenen-Asyle sammelt? Hat die Kirche nicht die Pnicht, dem
Unwesen des Duells entgegenzutreten? ferner, darf sie
schweigen, wenn sie Zustande sieht, welche die Ehe und
Familie auflosen und die elementarsten Bedingungen fur
ein sittliches Leben vermissen lassen? darf sie ruhig zu-
sehen, wenn es dem Schwachen und Grefahrdeten unmoglich
gemacht wird, sich zu behaupten? darf sie es ohne zu riigen
anhoren, wenn im Namen des Christentums der Friede im
Lande gestort und HaJS und Verachtung ausgesat wird?
1st sie wirklich nur ein bureaukratisches Grehause oder hat
sie nicht auch als verfafite Kirche die Pnicht, den Frieden
im eigenen Lande und unter den Volkern zu erhalten, die
verschiedenen Klassen sich naher zu bringen und verderb-
liche Standesvorurteile brechen zu helfen? Man wendet
wohl ein, es geniige, wenn die Kirche das Wort Q-ottes
verkundige und die Sakramente verwalte. Allein denselben
Einwand hat man auch gemacht, als man forderte, die
Kirche solle aufiere und innere Mission treiben. Auch da-
mals verschlofi sich die Kirche zunachst dieser Forderung
und behauptete, das sei nicht ihres Amtes; aber sie hat
dann einzusehen gelernt, dafi sie ihren Beruf vernachlassigt,
wenn sie jene Aufgaben dahingestellt sein lafit. Erheb-
licher erscheint der Einwand, dafi die Organe der Kirche
in Fragen wie die oben angedeuteten nicht die Macht
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 73
haben, ikrem "Wort ISTachdruck zu geben, und dafi bei
der eigentumlichen Zusammensetzung kirchlicher Korper-
schaften Vorschlage zu befiirchten seien, die ohne Riick-
sicht auf die Durchfuhrbarkeit gemacht werden, also ins
Leere verlaufen wiirden, ferner dafi Ubergriffe und Em-
mis chungen in fremde Angelegenheiten zu erwarten seien.
Diese Befurchtungen sind gewifi nicht grundlos; allein
voraussichtliche Mifigriffe konnen nicht wider eine an sich
notwendige und gute Sache ins Feld gefuhrt werden. Die
kirchliclien Korperschaften werden das Mafi ihrer Krafte
und das Grebiet ihrer Arbeit in der Arbeit selbst kennen
lernen, und dafi die Baume nicht in den Himmel wachsen,
dafiir ist durch das eigentiimliche und wohlberechtigte Ver-
haltnis, in welchem die deutschen evangelischen Kirchen
zum Staate stehen, gesorgt.
Die soziale Aufgabe der Kirche habe ich bisher an-
zugeben versucht. Uber diese Aufgabe hinaus liegt eine
Reihe von groCen Aufgaben, deren Losung nicht Sache
der Kirche ist, die aber den Christen nicht gleichgiiltig
sein konnen. Rein wirtschaffcliche Fragen sollen allerdings
nur nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt und
entschieden werden; aber viele von ihnen greifen tief ein
in die sittlichen Zustande des Volkes. Darum soil es die
Kirche nicht hemmen, dafi diese Fragen — wie wir es
hier auf unseren Kongressen tun — auch in ihrer Mitte
aufgenommen werden; denn es liegt in ihrem Interesse,
dafi sich Christen mit warmem Herzen und hellem Blick
finden, welche zukunftsreiche Bestrebungen dieser Art von
pliantastischen zu unterscheiden lernen, ihren Zusammeii-
hang mit den sittlichen Fragen, soweit er vorhanden ist,
nachweisen und mit Opferfreudigkeit fur gesunde soziale
Fortschritte eintreten. Allerdings bezeugt die ganze Kir-
chengeschichte , dafi wannherzige Christen, wenn sie wirt-
schaftliche Fragen auf greifen, zu radikalen Vorschlagen
74 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: II.
geneigt sind. Sie stellen ihre nationalokonomischen Forde-
rungen unter die Fahne des Evangeliums und versuchen
diesem ein sozialistisches Programm abzugewinnen. Dafi
diese Grefahr auch nnter uns heute vorhanden ist, kann
nicht geleugnet werden. Auch. der Protestantismus ist
nicht dagegen geschutzt, dafi niclit eines Tages in ihm ein
neuer Arnold von Brescia auftritt, dafi eine Pataria sich
bildet, dafi nationalokonomische Kleriker versuchen, den
anderen im Namen des Evangeliums als Gesetz vorzu-
schreiben, welche Stellung sie in wirtschaftlichen Fragen
einzunekmen haben, um ferner nock Christen zu sein. Das
Liebaugeln mit der Sozialdemokratie , das schon jetzt hin
und her wahrzunehmen ist, ist wahrlieh nicnt ungefahrlich.
Solange ihre Fuhrer und ihre Zeitungen ein Leben ohne
Religion, ohne Pnichten, ohne Opfer, ohne Resignation
lehren — was haben wir mit solch einer Lebensauffassung
gemein? Mehr als bedenklich ist es auch, wenn man die
,,Reichenu und ganze Stande von vornherein preisgibt und
davon traumt, man werde von unten herauf allmahlich
ein ganz neues christliches Gremeinwesen schaffen. Das
alles wetterleuchtet ja heute nur erst oder wird in Bruch-
stiicken produziert. Noch ist wohl niemand unter uns, der
nicht daran festhalt, dafi im Namen des Evangeliums nur
solche Anspriiche an den einzelnen gestellt werden diirfen,
die sich an sein G-ewissen, seine Freiheit und seine Liebe
richten; noch weiG man, dafi es sich im Evangelium um
die Beseitigung einer anderen Not handelt als der irdischen ;
aber die Dinge haben ihre eigene Logik, und wer Wind
sat, wird Sturm ernten.
Aber diese Warming erhebe ich nicht, um abzumahnen,
daft sich der evangelische Christ als Christ, ferner der
Pfarrer und Theologe iiberhaupt mit wirtschaftlichen und
sozialen Fragen beschaftige und sich ein eigenes Urteil
in ihnen bilde — ganz im Q-egenteil. Das Christentum
soil sich mit jeder erprobten Lebens- und Welterfahrung
Die evangelisch-soziale Aufgabe. 75
verbinden, und es soil gegeniiber alien grofien Fragen auf-
geschlossen sein. Jahrhundertelang hat es in der engsten
Verbindung mit der Philosophie, speziell der Metaphysik
gestanden, in der sich alles geistige Leben zusammenfaflte.
Niemand war ein gebildeter Christ, der nicht auch ein
Philosoph war. Heute stehen im geistigen Leben die Gre-
schichte und die sozialen Fragen im Vordergrund, und wer
an diesem Leben iiberhaupt Anteil nehmen will, der kann
sich ihnen gar nicht entziehen.
Vor allem aber — die Not und das Elend der Mit-
briider in unserem Volke brennt auf unserer Seele und
treibt dazu, zu untersuchen, zu forschen und zu lernen,
wie der soziale Korper zusammengesetzt ist, welche Leiden
unvermeidlich sind und welche durch Opfersinn und Tat-
kraft geheilt werden konnen. Gregeniiber der Grrofie und
dem Ernst dieser Aufgabe treten heute alle anderen Auf-
gaben, die wir auf dieser Erde und fur diese Erde zu
leisten haben, zuriick — wie konnten wir als Christen an
ihr voriibergehen, und wenn Selbstsucht, Tragheit und
Indolenz immerfort unsere Lage erschweren und bedenk-
licher gestalten, wie diirfen wir uns dariiber wundern, wenn
wir von der anderen Seite mit radikalen Vorschlagen uber-
rascht werden?
Grestatten Sie mir noch ein Schlufiwort. Die Zeichen
der Zeit scheinen darauf hinzuweisen , dafi sich unsere
6'ffentlichen und wirtschaftlichen Verhaltnisse immer mehr
in der staatssozialistischen Richtung entwickeln werden,
Viele begriifien das mit ungeteilter Freude, ich vermag
mich ihnen nicht riickhaltlos anzuschlieCen. Gewifi ist es
eine Freude, wenn Quellen der Armut und Not verstopft
werden, wenn dem Elend vorgebeugt wird. Aber man
soil nicht vergessen — jede Neuordnung dieser Art wirkt
auch als ein Zwang, der die freie Entwicklung niederhalt,
eine jede notigt uns daher, auf Mittel und Wege zu sinnen,
76 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: II.
um die Bedingungen for die Erziehung freier selbstandiger
Personlichkeiten aufrecht zu erhalten. Wenn wir bei einer
gesetzmafligen Sklaverei endigen wiirden, wenn wir, von
Jugend auf eingeschniirt in Zwangsmafiregeln, alle eigen-
tiimliche Bildung verloren — welch ein Ende ware dies!
Drei grofie Aufgaben sind uns anvertraut, fur nns
selbst und for die kommenden Greschlechter: den evange-
lischen Grlauben zu bewahren, der Not unserer Mitbriider
nach Kraften zu steuern und unsere Bildung und Kultur
zu bescMtzen. Letzteres wird in den heiflen wirtschaftlichen
Kampfen und in den Vorschlagen zu ihrer Milderung nur
zu leicht vergessen, und dock wurde der sittliche und wirt-
schaftliclie Ruin dem Verfall der Kultur auf dem FuCe
folgen. Die Pflege der Bildung aber steht unter eigentum-
licLen, festen Bedingungen, die nicht willkurlich geandert
werden konnen, und sie begrenzen zum Teil die sozial-
wirtschaftliche Arbeit.
Die Bildung lafit sich nicht schematisieren, so wenig,
wie die "Wahrheit, aus der sie stain nit, sich nivellieren lafit.
Die evangelische Kirche aber wiirde von sich selbst abfallen,
wenn sie ihren Bund mit der Wahrheit und der Bildung
aufgebe und wenn sie das Ziel preisgebe, freie, selbstandige
Christen zu erziehen. Hier liegt auch eine evangelisch-
soziale Aufgabe vor, und wir haben alien Grund, urn sie
besorgt zu sein, da wir starken bildungsfeindlichen Machten
gegeniiberstehen.
Evangelischer Q-laube, ein warmes Herz fur die Not
des Nachsten und ein aufgeschlossener Sinn fur die Wahr
heit und die geistigen Griiter — das sind die Machte, die
unsere Kirche und unser Yolk bauen und erhalten. Bleiben
wir ihnen treu, dann wird sich immer mehr verwirklichen,
was das mutige Q-laubenslied als Verheifiung ausspricht:
,,Nun ist grofi Fried ohn UnterlaU; all Fehd hat nun ein
Ende."
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND - ERSTE ABTEILUNG
REDEN: in
DIE SITTLICHE UND SOZIALE BEDEUTUNG
DES MODERNEN BILDUNGSSTREBENS
Vortrag
gehalten am 22. Mai 1902 auf dem evang.-sozial. KongreJB zu Dortmund.
Erschienen in den ,,Verhandlungen des Ev.-soz. Kongresses" 1902 bei
Yandenhoeck & Kuprecht in Gottingen.
Der evangelisch-soziale KongreC hat sich die Aufgabe
gestellt, alle grofien Erscheirmngen der Gregenwart, welche
fordernd oder hemmend, aufbauend oder umgestaltend in
das sittlich-soziale Leben eingreifen, zu beurteilen. Wie
sie beschaffen sind, was sie wert sind nnd in welchem Sinne
sie geleitet werden sollen, will er untersuchen. Es bedarf
nun wohl nicht vieler Worte, um zu beweisen, dafi das
moderne Bildungsstreben eine der hervorragendsten sozialen
Erscheinungen innerhalb unsrer Gregenwart ist. Zu keiner
Zeit kann der, welcher das Granze des Zustandes eines
Volkes studieren will, an dem Stande der Bildung voruber-
gehen; er mufl feststellen, wie hoch derselbe ist, wie stark
die Interessen sind, die an der Bildung haften, und wie
grofi die Opfer, die fur sie gebracht werden. Aber in unserer
Zeit sind diese Fragen von doppelter Bedeutung; denn der
fLiichtigste Blick lehrt uns, in welchem Mafie sich das
Streben nach Bildung unter uns gesteigert hat. Der Ab-
stand von friiheren Zeiten, selbst wenn man nur um 30 Jahre
zuruckgeht, ist so grofi, dafi man gradezu behaupten kann,
dafi das Streben nach erweiterter und vertieffcer Bildung
ein wesentliches Merkmal unsrer gegenwartigen Epoche ist.
Wollte ich anfangen, Ihnen zu schildern, in welchen Hervor-
bringungen und Einrichtungen sich dieses Bildungsstreben
liberal! zeigt, so wiirde ich in vielen Stunden nicht zu Ende
kommen. Nur an einige Tatsachen, die Ihnen alien bekannt
sind. will ich erinnern.
8Q Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: III.
I. .
Betrachten wir eine groJBere deutsche Stadt; wir finden
zahlreich besuchte Volksbibliotlieken; wir finden Fort-
bildungsschulen jeder Art, obligatorische und freie, sowie
Fachschulen. Vorlesungen aus alien Gebieten der Wissen-
schaffc werden for weite Kreise gehalten; die Vorlesungen
werden belebt und verdeutlicht durch Experimente und
bildliche Darstellungen von hoher Vollendung, die das
Schwierigste erlautern und das Fernste gegenstandlich
machen. Befindet sich an dem Ort eine Universitat oder
sonst ausreichende Lehrkrafte, so horen wir, dafi Hoch-
scliulkurse abgehalten werden, in denen besondere Zweige
oder die Grundziige der einzelnen Wissenscnaffcen — nicht
nur ihre Ergebnisse, sondern auch. ihre Metnoden — solchen
zuganglich gemacht werden, welcne der gymnasialen Vor-
bildung entbehren. Dieselben Universitaten richten Ferien-
und Fortbildungskurse ein; durch sie werden die neuesten
Errungenschaften der Wissenschaft denen zugetragen, die
die Universitat seit Jahr und Tag verlassen haben. Daneben
stenen praktisch-wissenschaftliche Kurse, Samariterkurse,
Unterweisungen fur den Dienst bei plotzlichen Unfallen,
EinfuLrung in das neue biirgerliche G-esetzbuch, sozial-
politische und padagogische Kurse, zusammenhangende Be-
lenrungen oder Diskussionen iiber ethische und religiose
Grundfragen. Weiter aber: dort fordert ein Anschlag zum
Besuch der Schauspiele auf, in denen zu billigen Preisen die
Meisterwerke unsrer Dichter aufgefiihrt werden; hier wird
zu Volkskonzerten eingeladen, sei es in die Kircne, um Bach
und Handel, sei es in den Saal, um Beethoven und Wagner
zu horen. Die Museen sind unentgeltlich geoffnet, und fur
sachverstandige Erlauterung der Sammlungen und Kunst-
werke daselbst wird gesorgt. Noch am spaten Abend und
bis in die Nacht hinein wird gearbeitet, um solche, denen
es in der Jugend nicht vergonnt war, sich eine griindliche
Das moderne Bildungsstreben. 81
Bildung zu erwerben, nachtraglich zu fordern oder den
aufstrebenden Arbeiter mit den tieferen Grundlagen, den
Zusammenhangen und den Fortschritten seines Arbeitsge-
biets bekannt zu machen. Grundrisse, Lehrbiicher und
dazu die besten "Werke aus den Literaturen aller Kultur-
volker weiden zu den wohlfeilsten Preisen verkauft. AVer
es versteht, kann sich bereits fur zehn Mark eine wertvolle
Bibliothek anschaffen, fiir die er noch vor einem Menschen-
alter das Zehnfache zu zahlen hatte. Auch auf das Land
hinaus — wenn diese Arbeit auch erst begonnen hat — werden
Fachmanner geschickt, welehe in der Ackerwirtschaft, im
Obstbau und anderen landlichen Unternehmungen unter-
richten. Uberall sehen wir, dafi leicht und systematisch
heute zuganglich. gemacht wird, .was franer nur wie zu-
fallig diesem oder jenem zuflog, oder was der Eifrige muh-
sam selbst aufsuchen und mit vielen Opfern sich erwerben
mufite. Schliefilich ist noch des ungeheuren Bildungsstoffs
zu gedenken, den die Zeitungen fast in jedes Haus tragen,
die politischen Zeitungen und die Fachzeitschriften. Ein
jedes Handwerk, ein jedes Grewerbe und jeder Fabrikzweig
besitzt solche. Sie enthalten genaue Ausfuhrungen iiber
jeden Fortschritt auf dem betreffenden Gebiet und werden
von Mannern redigiert, die neben der genauesten Kenntnis
des besonderen Zweiges auch die der wirtschaftlichen Zu-
sammenhange ihres Faches mit anderen Fachern, Produk-
tions- und handels-statistisches Wissen und allgemeine
Kenntnisse der verschiedensten Art besitzen. Ein Blick
z. B. in die Kellner-Zeitung, den ich jiingst getan, belehrte
mich, mit welchem Ernst und welcher Umsicht ein solches
Blatt geleitet wird, und wie viele Ratschlage und wieviel
Einsicht es seinen Abonnenten ubermittelt.
Um aber den Kontrast des heutigen Zustandes zu dem,
was vor einem Menschenalter war, vollstandig zu machen,
mufi man auf die Trager blicken, die jetzt vornehmlich an
dem Aufschwung beteiligt sind, wahrend sie damals noch
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. II. 6
82 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: III.
kaum sick regten — ich meine die Arbeiter und die Frauen.
Das Bildungsstreben beider driickt unsrer Epoche recht
eigentlich den Stempel auf.
"Was die Arbeiter betrifft, so beschamen grofie Gruppen
unter ilinen alle anderen Stande. Noch jiingst ist es tins
wiederum aus Hamburg bezeugt worden, dafi die dortigen
grofiartigen Veranstaltungen von Vorlesungs-Kursen haupt-
sachlich von den sogenannten nkleinen Leuten" besucht
werden.
Mit Anteil nnd Bewundernng sehen wir, welchen Eifer
diese ,,kleinen Leute" und Arbeiter entwickeln und welche
Opfer sie bringen, nicht nur Tim ihre materielle Lage zu
verbessern, sondern auch um intellektuell in die Hone zu
kommen und an den geistigen Errungenschaften teilzu-
nehmen. Abgesehen ist es dabei keineswegs auf rasche
Befriedigung eines vorubergehenden Bediirfnisses , sondern
sie streben unzweifelhaft nach "Wissenschaft. Ein brennendes
Verlangen, ein Hunger nach. wirklichen Kenntnissen, nach
einer wissenschaftlichen Weltanschauung ist vorhanden.
Mag auch das Urteil dariiber, was die "Wissenschaft ver-
mag, oftmals ein ausschweifendes , ja phantastisches sein,
mogen die Schwierigkeiten des Wegs tausendmal unterschatzt
werden — das feste Zutrauen zur Macht und freiheitstiften-
den Kraft der Wissenschaft hat etwas Imponierendes und
die Freudigkeit zu der Reise in das unbekannte Paradies
etwas Ruhrendes.
Noch gewaltiger aber, fast mochte ich sagen elemen-
tarer und universeller ist das Bildungsstreben der Frauen.
Die G-eschichte erzahlt uns von grofien Volkerschaften, iiber
die plotzlich der Wandertrieb gekommen ist und die nun
ihre Wohnsitze verlassen, um auszuziehen in ein femes
Land, wo der Himmel blauer ist, die Erde fruchtbarer und
das Leben lebendiger. Hieran fuhlt man sich erinnert,
wenn man die heutige Frauenbewegung betrachtet. Aber
wie bei jenen Volkerwanderuugen, sieht man naher zu,
Das moderne Bildungsstreben. 83
niclit ein unerklarliches Etwas zum Aufbruch getrieben
hat, sondern die Not verbunden mit Tatenlust, so 1st auch
tier die Not das Treibende, verbunden mit dem Drang,
sich aus der Enge zu befreien, und mit dem Gefiihle der
Kraft. Alle Schichten der Frauen hat dieser Trieb heute
durchdrungen. Es sind keineswegs nur die wirtschaftlich
Bedrohten, die sich in die Reihen der strebenden Frauen
stellen, weil sie fur ihre Existenz kampfen miissen; nein,
auch diejenigen, deren materielle Lage gesichert ist, treten
hinzu, und von Jahr zu Jahr — mit jeder neuen Madchen-
generation, die die Schule verlafit — wachst die Bewegung
in geometrischer Progression. Sie wollen teilnehmen an
allem, was die geistige Entwicklung der Gregenwart bietet;
sie wollen ihren Greist schulen und befreien und nach
Kenntnissen, Bildung und Selbstandigkeit den Mannern
ebenbiirtig sein. Es gilt dem Wissen und der Wissenschaft,
und sie verlangen, dafi man sie zulasse, wo nur immer
Wissen gelehrt wird und Rechte auf Grrund desselben er-
worben werden. Der Spott iiber ein Korps von Blau-
strumpfen oder von Amazonen ist langst nicht mehr am
Platze, verstummt auch immer mehr; denn die Bewegung
ist viel zu machtig geworden und sie hat sich so tief auch
mit dem inneren weiblichen Sinn verbunden, dafi man mit
Recht von der Frauenbewegung spricht.
Lassen Sie mich, bevor ich diese kurze Ubersicht
schlieUe, nur noch einen fliichtigen Blick auf die Stellung
des Staates zu dieser ganzen Bewegung werfen. Da bei
uns in Deutschland der Staat, wenn auch nicht das Unter-
richts- und Bildungsmonopol, so doch nahezu ein Monopol
auf sie besitzt, so ist sein Verhalten hier von hochster Be-
deutung. Im allgemeinen darf man urteilen, dafi er mit
Wohlwollen, Weisheit und tatkraftiger Hilfe dem modernen
Bildungsstreben auf den meisten Linien entgegenkommt.
Ein nicht geringer Teil der wissenschaftlichen Einrichtungen,
von denen wir soeben gesprochen haben, ist auf ihn zuriick-
6*
84 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: III.
zufuhren; andere hat er gerne und mit Anteil verwirklicht
gesehen und leiht ilinen seine Unterstiitzung. Es ist nnr
zu billigen, wenn er sich bei der Initiative zuriickhalt und
lieber freien Vereinen oder den Kommunen oder Privat-
personen die Anfange und die Durchfuhrung iiberlafit.
Dafi er raschem Drangen Widerstand entgegenstellt und
im allgemeinen nicht das Tempo beschleunigt, sondern zu
riickhalt, ist so lange nicht gefahrlich, als er gesunde Be-
wegungen nicht unterdriickt. Auf seinem eigensten Gre-
biete, dem des Volksschulunterrichts, hat er soeben einen
bedeutenden und besonders dankenswerten Schritt vorwarts
getan. Die neuen Regulative fur den Unterricht auf den
Lehrer-Seminarien sind vortrefflich und jeden Lobes wert.
Zwei Bestimmungen sind es namentlich, die fur sie nun
maBgebend sind: erstlich, dafi ein stufenmaBiger Grang von
der untersten bis zur letzten Klasse eingehalten wird, so
dafi an die Stelle eines unermiidlichen und geistlosen Eepe-
tierens und Einpaukens desselben Pensums ein wirkliches
Fortschreiten in der Ausbildung erzielt wird, zweitens dafi
auf den obersten Stufen sowohl ein Einblick in die Haupt-
resultate gewisser den Lehrern nahe liegender wissenschaft-
licher Disziplinen als ein Sinn fur die Methode und Arbeit
der "Wissenschaft erweckt wird. Durch beides sind lang
gehegte Wiinsche der Lehrerwelt selbst befriedigt worden,
und es steht zu erwarten, dafi mit dem abgeschafften Drill
die Untugenden allmahlich schwinden werden, die unzer-
trennlich von ihm sind, und dafi dann auch der Volksschule
die neue Ordnung der Dinge einen neuen Aufschwung
bringen wird. Der Staat ist mit den Vertretern eines ge-
sunden Fortschritts darin einig, dafi Veraltetes und Falsches
nicht gelehrt, Recht und Pflicht zu denken aber alien
Biirgern eingepragt werde. Die Volksschule soil und kann
davon keine Ausnahme machen.
Das moderns Bildungsstreben. 85
n.
In einer kurzen Uberschau haben wir es gerechtfertigt,
dafi wir von einem modernen Bildungsstreben sprechen
und in ihm ein wesentliches Merkmal unsres Zeitalters
selien. Unsere Frage gilt aber dem sittlichen und sozialen
"Wert dieses Bildungsstrebens. Bevor wir ihn untersuchen,
haben wir das "Wesen der Bildung und das besondere
Wesen der modernen Bildung ins Auge zu fassen. Nicht
um das, was man Zivilisation nennt, handelt es sich hier.
Freilich stehen Bildung und Zivilisation in einem sehr
nahen Zusammenhang. Allein wir sind mit Recht gewohnt,
unter Zivilisation etwas Aufleres zu verstehen, an welchem
auch der teilnehmen kann, der von wirklicher Bildung
wenig beriihrt ist. Tins ist es nur um die letztere zu tun.
Wesensbestimmungen der Bildung gibt es zahlreiche,
und ihre Mannigfaltigkeit beweist, wie verschiedene Seiten
sie hat und wie verschieden sie betrachtet werden kann.
Fafit man den Menschen seinen Anlagen nach, so wird
Bildung die voile Ausgestaltung aller der Kraffce sein, die
im Innern schlummern: man wird durch die Bildung, was
man ist oder vielmehr was man sein kann; die voile Ent-
faltung der Individualitat ist hier das hochste Ziel der
Bildung, und mit dieser vollen Entfaltung auch die Frei-
heit gegenuber der Aufienwelt, eine gleichsam wiederge-
wonnene Naivitat. Sie ist das sicherste Zeichen der ge-
schlossenen befreiten Personlichkeit.
,,Doch er stehet mannlich an dem Steuer,
Mit dem Schiffe spielen Wind und Wellen,
Wind und Wellen nicht mit seinem Herzen."
Fafit man den Menschen innerhalb der Natur, so wird
die Bildung eine doppelte Aufgabe haben: einerseits wird
sie eine Waffe sein gegen die Natur, eine Schutzwehr gegen
ihre alles zu verschlingen drohende Grewalt — Naturbeherr-
schung, soweit nur iminer moglich — , ein Ablauschen und
86 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: III.
Abtrotzen der G-eheimnisse der Natur, um sie zu zwingen
und dienstbar zu machen. Andererseits soil sie durch Ver-
standnis mit der Natur versdhnen, soil den Zusammenhang
mit allem Lebendigen aufdecken und den Zusammenschlui],
wo er heilsam, befordern. Auch liier ist Kraft und Freiheit
das hochste Ziel, welches winkt.
Fafit man den Menschen aber innerhalb der G-eschichte
und als Q-lied der Menschheit, so ist Bildung das Vermogen,
alles Menschliche mit Verstandnis und Teilnahme aufzu-
nehmen und wieder zuriickzustrahlen, die eigene Seele offen
zu halten und die anderen Seelen zu offnen, Verstand und
Herz zu feinen Organen auszubilden, die dort sehen und
horen, wohin die Sinne nicht mehr reichen, sich an vielen
Orten heimisch zu machen und sich doch nirgends einzu-
schliefien, innerhalb des Wechsels der Dinge das Leben
dauerhaft und wiirdig zu gestalten und inmitten des Ein-
formigen und Abstumpfenden ihm Grehalt zu geben, Selbst-
beherrschung und G-eduld zu gewinnen gegeniiber dem
Allzumenschlichen und Ehrfurcht zu behaupten vor dem
Menschlichen und Gottlichen.
FaCt man endlich die Bildung im engsten Sinne in
bezug auf den besonderen Beruf jedes einzelnen, so ist sie
die Summe der Kenntnisse und Fertigkeiten, die notig sind,
um diesen Beruf wirklich auszufullen und sich frei in ihm
zu bewegen. Auch hier ist Freiheit das letzte Ergebnis:
gebildet ist in seinem Beruf und fur denselben, wer durch
ihn nicht niedergedriickt wird, sondern des sen Kennen und
Konnen zur zweiten Natur geworden ist. Niemals darf
diese Bildung im engeren Sinn, die Fachbildung, unter-
schatzt werden; denn der "Weg zur allgemeinen Bildung
fuhrt regelmaCig durch die spezielle und ist anders schwer
oder iiberhaupt nicht zu finden.
Es ist ein hohes Lied von der Bildung, welches wir
gesungen haben, und mancher hat vielleicht gelachelt oder
ist gar unwillig geworden. Ihm ist etwa der 7,Bildungs-
Das moderne Bildungsstreben. 87
philister" eingefallen und alles das, was man mit GTrund
von demselben gesagt hat. Allein wer die Bildung so fafit,
wie ich sie zu bestimmen versucht habe, wird der ent-
schiedenste Feind jener Spottgestalt sein. Der Bildungs-
philister neben dem Gebildeten 1st "Wagner neben Faust,
eine Gliederpuppe neben dem Lebendigen, lebendig nur
durch ihre Selbstgefalligkeit. Der Bildungsphilister ist ohne
Duldung und Geduld, ohne Freiheit und ohne Ehrfurcht,
ohne Personlichkeit und ohne Liebe; jede Frucht ver-
schwindet in seiner Hand, und nur die Hiilsen bleiben ihm
iibrig, die er fur den Kern der Dinge halt.
Aber je und je sind auch ernste, wirkliche Gegner der
Bildung aufgetreten, nicht Barbaren, sondern Feinde der
Bildung unter den G-ebildeten. Das ist freilich paradox
genug, und eigentlich konnte man sie einfach ihrem Selbst-
widerspruch uberlassen. Es waren und sind hochgebildete
Romantiker, die, nachdem sie einen reichen Bildungsstoff
aufgenommen, aber nicht alle Friichte erhalten haben, die
sie erwarteten, auf die Bildung schmahen und ihr gegen-
uber die Natur oder das Leben oder etwas Undefinierbares
ausspielen. Das Altertum kannte solche, das 18. Jahrhun-
dert hatte seinen Rousseau, und wir haben unsre kleinen,
aber nicht einflufilosen Rousseaus. Soweit sie nicht die^
Bildung bekampfen, um das Triebleben zu empfehlen, oder
um sich von der Sorge fur ihre Mitmenschen und von aller
Verantwortung fur den Gang der Dinge zu befreien, be-
fehden sie nicht eigentlich die Bildung iiberhaupt, sondern
eine falsche, engherzige verrottete Bildung. Dies war in
hohem Mafie bei Rousseau der Fall, und daher sind wir
ihm zu Dank verpflichtet und konnen eine weite Strecke
Wegs mit ihm gehen. Nicht aber konnen wir mit ihm
gehen, wenn er einfach die Natur gegen die Bildung aus-
spielt. Wird hier kein tauschendes Spiel mit Worten ge-
trieben oder in den Begriff wNatur" etwas hineingelegt,
was ihm gar nicht zukommt, so kann die Formel: ,,Riick-
gg Z welter Band, erste Abteilung. Reden: III.
kelir zur JSTatur" niclit gebilligt werden. Grewifi, wahrhaftig
sollen wir sein, nicht geziert und niclit heuchlerisch, auch
sollen wir uns niclits aufreden lassen, was unserem innersten
Wesen widerspricht, aber die RTatur kann niclit iiberall unsre
Lehrmeisterin sein; denn ihr fehlen zwei Elemente, welche
wir niclit entbehren konnen, das ist die geschlossene Per-
sonlichkeit und die G-ute. Yon der Natur konnen wir sie
niclit lernen. Aus dera geschichtlichen Leben empfangen
wir sie.
Aber es gibt endlich noch Gregner, die mit Mifitrauen
das unbedingte Lob der Bildung horen, und wir finden sie
in den Reihen unsrer Freunde. Ernste Christen sind es,
die niclit nur vor Uberschatzung der Bildung warnen, son-
dern ihr iiberhaupt nur einen bedingten Wert beilegen.
Ihre Stellung ist wohlverstandlich ; denn erstlich ist in alien
hoheren Dingen die sichere Kenntnis des Ideals etwas so
Bedeutendes, dafi sie viele Mangel ersetzen kann, und so
wird der wahrhaft religiose Mensch iminer auch ein ge-
bildeter Mensch sein, so wenig Bildung im einzelnen er
auch haben mag. Zweitens, alle tiefere Bildung wird nur
aus einem schmerzlichen Widerstreit und hartem Kampf
geboren; sie wird nicht miihelos erworben und auch nicht
muhelos festgehalten. Sofern dieses Element aber von ober-
flachlichen Menschen oft iibersehen und Bildung einfach
mit Kenntnissen verwechselt wird, sofern weiter iibersehen
wird, dafi Bildung nur langsam reift und eine Bildungs-
schicht und -Greschichte voraussetzt, ist das Mifitrauen der
Ernsten gegen das Schlagwort 7,Bildungu wohl berechtigt.
Allein die Bildung ist nicht daran schuld, dafi sie auch
oberflachlich aufgefafit wird; darum ist jedes Wort, welches
gegen sie gesprochen wird, bedenklich. Bedenklich ist es
auch, von dem Standpunkt der Griiter, welche die Religion
gewahrt, abschatzig iiber die Bildung zu urteilen. Grewifi
wird ihr Mangel dort am wenigsten empfunden, wo wahr
haft religioses Leben ist, und dieses kann in sich geschlos-
Das moderne Bildungsstreben. 89
sen sein und die ganze Personlichkeit verklaren. Aber
ohne Bildung wird sie nur in ganz bestimmten Berufen
nach auBen wirksam sein konnen, die zahlreichen anderen
werden ihr verschlossen sein, und diese Erde zu bebauen
und zu bewahren, wird sie anderen uberlassen miissen.
So bleibt es dabei, dafi gegen die Bildung feindselig ist
nur wer sie niclit kennt oder verkennt, und der, welcher
gegen sie eifert, befindet sich in der Regel in einer merk-
wiirdigen Selbsttauschung: er denkt mit ihren Gredanken
und redet mit ihren Worten. Mag auch, wo immer gegen
die Bildung gesprochen wird, dies ein Zeichen sein, dafi
im herrschenden Bildungsbetriebe etwas Ungesundes oder
Faules ist — der Bildung selbst den Krieg erklaren oder
sie fur etwas Unbedeutendes darstellen, ist ein wahnsinniges
oder freches Unterfangen. Der verwirrt und schadigt alle
gesunden Begriife und ladet eine schwere Verantwortung
auf sick, der, sei es in geistreicher, sei es in welcher Rede
auch. immer gegen die Bildung streitet und sie dem Volke
verachtlich oder iibernussig zu inachen sucht. In dies em
Sinne mufl ich auch die Wirkung, welche die Schriften
Tolstois ausiiben, fur bedenklich halten und kann mich
nur mit dem leidigen Troste trosten, dafi die meisten, die
sie lesen, gar keine anderen Wirkungen aus ihnen em-
pfangen als die einer vorubergehenden Emotion. Im gro-
fien und ganzen diirfen wir sagen, dafi der machtige Trieb
und das Streben nach Bildung unter uns durch diese und
andere Hemmungsversuche nicht aufgehalten werden. Sie
sind kraffciger und lebendiger als zu irgend einer Zeit.
Wer kann sich daruber wundern? Ist doch die Erde erst
in unseren Tagen ein einziger Schauplatz geworden. Der
moderne Verkehr hat alle Zaune niedergerissen. Tausend
wechselnde Eindriicke treffen uns heute; alles steht im
Lichte der Offentlichkeit. Alles spielt sich auf dem Markte
ab. Konkurrenz in jedem Sinn des Wortes beherrscht
alles, und zugleich greift jede Frage in eine andere ein.
90 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: III.
Hilflos steht der Ungebildete diesem Zustand gegeniiber.
Einen stillen Winkel, in den er sich retten kann, gibt es
bald nicht mehr. N"ur durch Bildung vermag er sich. zu
wappnen. Hier liegt die letzte Ursache des modernen
Bildungsstrebens.
m.
Aber fragen wir Tins nun, in welcher Richtung haupt-
sachlich das moderne Bildungsstreben sich bewegt; denn
obgleich alle Bildung nur eine ist, so treten doch zu alien
Zeiten verschiedene Momente in ihr hervor und gewinnen
die Oberhand. Sehe ich recht, so lassen sich in unserem
modernen Bildungsstreben folgende Hauptziige erkennen.
Erstlich, es zeigt eine energische Richtung auf die wirkliche
Wissenschaft, zweitens, es zeigt die ernsteste Absicht, Un-
abhangigkeit und wirtschafth'che Selbstandigkeit zu erringen,
drittens, es zeigt den Trieb, das Lebensgefdhl zu steigern
und groBeren Anteil am Leben, extensiv und intensiv, zu
gewinnen.
Das moderne Bildungsstreben zeigt eine energische
Richtung auf die wirkliche Wissenschaft; ich konnte dafur
auch sagen, auf die Erkenntnis des Wirklichen. Der
grofiere Teil aller der Einrichtungen und Unternehmungen,
von denen wir gesprochen haben, gilt diesem. Es ist fur
den Mann der Wissenschaft eine Freude, zu sehen, mit
welchem inneren Drang und Eifer wissenschaftliche Er
kenntnis heutzutage aufgesucht wird. Mit schonen Worten
und unterhaltenden Erzahlungen ist nicht mehr gedient;
man will die Welt des Wirklichen erkennen und will die
Fortschritte der Erkenntnis studieren. Darum tritt heut
zutage der einzelne popular- wissenschaftliche Vortrag immer
mehr zuriick gegeniiber der zusammenhangenden Unter-
weisung. Wie das Wirkliche gefunden und erkannt wird,
dafiir ist der Sinn aufgegangen oder wenigstens das Ver-
langen, den Tatsachen ins Gresicht zu sehen und sich vor
Das moderne Bildungsstreben. 91
Schein und Tauschung zu hiiten. Vor allem aber sind es
die zwei leitenden Ideen der modernen Wissenschaft, die
sich weiter Kreise bemachtigt haben und bereits Bichtlinien
fur sie geworden sind, die Erhaltung und Umformung der
Krafte und der Entwicklungsgedanke. Wir freuen uns,
dafi dem so ist, und diejenigen tauschen sich, welche
meinen, dafi dieser Schritt je wieder zuruckgenommen
werden konne. Die Einsicht, dafi die einzelne Kraft ein
integrierender Bestandteil eines Kraftesystems ist und nur in
ihm seine Statte hat, und dafi die einzelne Erscheinung nur
als Glied einer Entwicklungsreihe eine Tatsache ist, diese
Einsicht wird, einmal gewonnen, nie wieder verschwinden;
denn sie ist die Bedingung, soviel von der Welt urn uns
zu erkennen und zu durchschauen, als uns zu erkennen ver-
gonnt ist. In diesem Sinne ist das Urteil, dafi der Zug der
Zeit ein realistischer ist, vollberechtigt; aber wir fallen es
nicht im Sinne einer Klage, sondern freudig. Wir freuen
uns, in einer Zeit leben zu durfen, in welcher — Stumpfsinn
und Aberglaube gibt es freilich genug — der Zug zum Wirk-
lichen so machtig ist. Ehrlichkeit und Redlichkeit liegt
darinnen, ehrliche Arbeit und redliches Bemuhen, und ich
stehe nicht an, diesem Zug eine hohe sittliche Bedeutung
beizumessen. Yon seiner Schranke werden wir noch horen;
aber wer der Erkenntnis des Wirklichen unbestochen nach-
geht, der steht dadurch in sittlicher Tatigkeit, und wer
Opfer an Kraft und Mitteln fur sie bringt, bringt sie fur
eine sittliche Aufgabe.
Zweitens zeigt das moderne Bildungsstreben die ernsteste
Absicht, durch Bildung Unabhangigkeit und wirtschaftliche
Selbstandigkeit zu gewinnen. Was treibt die Scharen
bildungseifriger Arbeiter dazu, ihre karglichen Freistunden
der Fachbildung zu widmen und ihre Kenntnisse zu ver-
mehren? Mcht nur der Wissenstrieb als solcher, sondern
auch das lebhafte Verlangen, ihre Lage zu verbessern und
durch Kenntnisse und Fertigkeiten eine gesichertere Stellung
92 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: III.
auf dem Arbeitsmarkte zu gewinnen. Was ist eine der
machtigsten Triebfedern in der grofien Frauenbewegung,
von der wir gesprochen haben? Selbstandig zu werden,
auf eigenen FiilSen zu stehen und durch einen festen Be
ruf eine gesicherte Stellung zu erhalten. Diese Tendenz
ist in jeder Hinsicht beifallswert, ja auch sie ist als eine
sittliche im strengen Sinne in Anspruch zu nehmen. Ohne
Beruf und einen festen Kreis ist der Mensch, ob Mann
oder Weib, ein unniitzes Wesen; der Beruf ist der Halt
und der Hiickgrat des Lebens ; nur in einem festen Pflichten-
kreise und in dem Gefuhl, an seiner Stelle notwendig zu
sein, bleibt der Mensch. gesund. Ist nun die Ehe unzahligen
Madchen verschlossen und ist die hauswirtschaftliche Arbeit,
verglichen mit friiheren Zeiten, auJSerordentlich reduziert,
so miissen andere Berufe von den Frauen gesucht, und sie
miissen ihnen eroffnet werden. Ja, man wird noch einen
Schritt weiter gehen und denen beipnichten miissen, die da
sagen, kein Madchen soil nur fur die Ehe und ausschliefi-
lich als zukiinftige Gefahrtin des Mannes erzogen werden,
sondern sie soil so gebildet werden, dafi sie einem tiich-
tigen Beruf vorstehen kann. G-anz mit Recht wird diese
Forderung erhoben, nicht nur, weil eine zukiinftige Ehe-
schliefiung immer unsicher ist, nicht nur, weil es gilt, die
bemitleidenswerte Lage unzahliger "Witwen, die friiher
gleichsam wie eine unabanderliche Schickung betrachtet
wurde, im voraus zu bessern, sondern weil es dem Gang,
den unsere Entwicklung gewonnen hat, entspricht, daB
jedes gesundeWesen fur sich selbst zu sorgen vermag und
es als Pflicht und Recht empfindet, auf eigenen Fiifien zu
stehen. In anderen Zeiten sind die Anschauungen dariiber
andere gewesen — eine neue Zeit ist heraufgestiegen, und
wir freuen uns, ihre Burger zu sein. Wir erwarten auch
von dieser Umgestaltung, in deren Anfangen wir stehen,
eine Versittlichung des weiblichen Geschlechts, wo solche
notig, und eine Versittlichung des Verhaltnisses der beiden
Das moderne Bildungsstreben. 93
G-eschlechter zueinander. Eigentiiniliche neue Grefahren
taucnen freilich auch Iiier auf — wir werden iiber sie
sprechen; ohne Scliatten ist nichts Menschlich.es — , aber
dafi dunkle Nachtseiten in der Lage und dem Zustande
des weibliehen Greschlechts schwinden oder doch abnehmen
konnen, wenn die wirtschafbliche Selbstandigkeit und Un-
abhangigkeit desselben gesteigert^ wird, kann schwerlich
zweifelhaft sein. Es ist z. B. umnoglich, dafi die Prosti
tution, die grobe und die feine, in dem Umfange fort-
dauert, wenn mit der Bildung die Ausbildung zu be-
stimmten Berufen in dem weiblichen Greschlecht gefordert
wird. Auch auf die Manner mu.G notwendig diese Neu-
ordnung der Verhaltnisse einwirken. In dieser Betrachtung
fiihle ich micli eins mit einem der tiichtigsten Yertreter
der Frauenbewegung, mit Herrn Wy digram. Er scnreibt
in dem Vorwort zu seiner neuen Zeitsckrift: J5Frauen-
bildung": „ Die Ford erung des weiblichen Unterrichtswesens
wird, wenn sie unter den richtigen Gresichtspunkten und
mit den rechten Mitteln vollzogen wird, sowohl der Frau
als der Gresellschaft selbst Segen bringen. Denn das sind
die beiden beherrschenden Ru.cksich.ten: indem wir die gei-
stige Bildung der Frau heben, heben wir die Stellung der
Frau selbst, und indem wir dieses tun, glauben wir unserem
Kulturleben neue grofie und frucntbare Werte zuzufuhren.
Wir schaffen der Frau eine hohere und edlere Selbstandig
keit. Dies aber kann und mufi in doppeltem Sinn ver-
standen werden, im ethischen und im wirtschaftlichen. In
jenem, weil die hochstmogliche Ausbildung der geistigen
Krafte dem modernen Menschen, was auch immer dagegen
gesagt werden mag, die wirksamste Vorbedingung einer
ernsten Erf as sung des Lebens und seiner Aufgaben bietet,
und weil solche Erfassung bei jeder tiefer angelegten Natur
wiederum eine nicht versiegende Quelle des Grliicks ist. In
dem andern, dem wirtschaftlichen Sinn aber bedeutet Selbst-
standigkeit die Erhebung iiber jenen traurigen Zustand, da
94 Z welter Band, erste Abteilung. Keden: III.
wir von der Arbeit der anderen leben miissen und eigene
von anderen bewertete Arbeit nicht leisten. Auch dies be-
riihrt sich mit den ernstesten Fragen, und wenn fiir keinen
Verstandigen dariiber Zweifel bestehen, dafi Arbeit, recht
geboten, recht erfaJSt und recht belohnt, Gliick ist, dann
miissen wir die Frauen zu solcher Arbeit hinfiihren."
Drittens zeigt das moderne Bildungsstreben den Trieb,
das Lebensgefuhl zu steigern und grofieren Anteil am
Leben, extensiv und intensiv, zu gewinnen. Damit ist eine
Seite beruhrt, die nicht leicht zu fassen ist. Ich meine
nicht das Streben nach mehr Genufi. Auch dieses enthalt
zwar etwas Gerechtfertigtes , und es ist sehr billig, es zu
schmahen, wahrend sich doch die Schmahenden leicht
hunderte von Geniissen verschaffen, die der Geschmahte
entbehrt. Ich meine auch nicht die allermodernste roman-
tische Neigung, das Lebensgefuhl durch exzentrisehe Phan-
tasien zu steigern und zu berauschen. Diese Neigung ist
rechter Bildung geradezu entgegengesetzt und feindlich.
Das, was ich meine, ist das Bestreben, sich aus jenem ab-
stumpfenden Einerlei des Lebens zu befreien, welches noch
fur Tausende das Leben selbst ist, um den Kreis des Da-
seins reich und kraftig zu gestalten. In vielen ist heute
dieses Streben eine Macht: sie empfinden, dafi der Mensch
nicht nur des Wechsels von Tag und Nacht bedarf, um
gesund zu bleiben, sondern auch eines Wechsels am Tage,
und dafi er sich nur frisch erhalten kann, wenn er iiber
seinen nachsten Beruf hinaus Anteil nimmt am allgemeinen
Menschlichen. Soil dieser Anteil aber iiber rohe Geniisse
hinausfuhren , so ist ein gewisses, ja ein fortschreitendes
Mafi von Bildung unerlaBlich, dazu ein ZusammenschluC
mit Gleichstrebenden, denn der isolierte Mensch gelangt
hier niemals zum Ziele. Das wird auch von den Aufstre-
benden empfunden; denn nicht als etwas AuGerliches oder
Zufalliges tritt das soziale Element im Zusammenhang mit
dem Bildungsstreben, das Leben reicher zu gestalten, auf.
Das moderne Bildungsstreben. 95
Vom sittlichen und vom christlichen Standpunkt aber kann
gegen dieses Bemuhen niclits eingewendet werden; denn
der Zweck des Lebens 1st — urn des ewigen Inhalts willen,
welchen jedes Leben haben soil, — das Leben selbst.
Ich habe versuclit, das moderne Bildungsstreben nach
seinen wichtigsten Seiten zn charakterisieren. Der sittliche
und soziale Wert desselben 1st dabei iiberall hervorgetreten,
ohne daB ich ihn aufdringlich vorgeriickt oder Einzelwir-
kungen genannt hatte. In der Tat liegt auch nicht in den
Einzelwirkungen der Hauptwert, obgleich deren nicht wenige
sind. Ich verweise z. B. darauf, wie durch die erhohte
Bildung die "Wohnungsfrage , dieses so wichtige Problem
des sozialen Lebens, im giinstigsten Sinne beeinflufit wird.
Kann man doch geradezu die Wohnung als einen Grrad-
messer der Bildung in Anspruch nehmen, und iiberall be-
obachtet man, dafi gesteigerte Bildung sich eine bessere
Wohnung erzwingt: die wirtschafblichen Verhaltnisse miissen
hier dem idealen AnstoUe folgen, und folgen ihm nachweis-
bar. Ferner verweise ich auf die Tats ache, dafl durch die
erhohte Bildung ein Ausgleich der Stande stattfindet und
dafi die einzelnen Schichten und G-ruppen der Nation sich
naher treten und innere Fiihlurig miteinander gewinnen.
In diesem Sinne sind namentlich auch die Hochschulkurse
von grofier Bedeutung; ja schon in diesen und ahnlichen
Unternehmungen an sich liegt ein starkes soziales Element,
ein Element der Anerkennung und des Zusammenschlusses.
Endlich mochte ich darauf aufmerksam machen, dafi der
gebildete Mensch in der Regel der besonnene sein wird:
extreme und exzentrische Standpunkte werden verlassen
werden, und ein Sinn fur das Bedingte der Verhaltnisse
wird erwachen. Damit wird der soziale Friede naher ge-
riickt. Aber, wie gesagt, die Einzelwirkungen diirfen hier
nur als Teile der Gesamtwirkung ins Auge gefafit werden.
Diese besteht darin, daB die erhohte Bildung das Individuum
zur Personlichkeit gestaltet und dafi sie dasselbe eben da-
96 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: III.
durch auch sozial wertvoller maclit. Das Ziel einer in
friedlicher Arbeit und in gegenseitiger Anerkenmmg und
Fiirsorge geschlossenen Nation und das Ziel .,eines allge-
mein sittlichen Weltbundes", in dem ,,die Menschen sich
mit alien Kraften, mit Herz und Greist, Verstand nnd Liebe
vereinigen", liegt, wie alle Ideale, hock iiber nns. Aber es
ist gewifi, dafl wir Tins von ihm niclit entfernen, sondern
anf dem rechten "Wege sind, wenn wir das Bildungsstreben
uberall fordern nnd neben der Sorge fur die wirtschaftliche
Hebung die ideale Seite, die doch in Wirkliehkeit etwas
hochst Reales ist, niemals aus dem Auge lassen.
IV.
Des Leichtsinns aber nnd einer gefanrlichen Schnell-
fertigkeit wiirden wir nns schnldig machen, wollten wir
nns einfach bei der These bernhigen, das moderne Bildnngs-
streben sei sittlich und sozial genommen hochst wertvoll
und miisse daher in jedem Sinne gepflegt werden. Wir
haben vielmehr die Pflicht, sowohl die Einwiirfe ins Auge
zu fassen, welche gegen dasselbe erhoben werden, als auch
die besonderen Grefahren zu erkennen, die ihm anhaften.
Eben dadurch werden wir seine sittlich-soziale Bedeutung
tiefer erfassen.
Als erste Gefahr, die uns hier entgegentritt, erscheint
die Grefahr der Halbbildung. Es sind nicht nur ^Reaktio-
nare", sondern auch sozial gesinnte und einen gesunden
Fortschritt begiinstigende Manner, die das moderne Bil
dungsstreben und die Einrichtungen , die fur dasselbe ge-
schaffen werden, mit Besorgnis betrachten. Wir kommen
ihnen auch freiwillig mit dem Zugestandnis entgegen, dafi
die Gefahren der Halbbildung, namlich Unklarheit, Ver-
wirrung und wiederum torichter Hochmut und Unzufrieden-
heit, nicht beseitigt werden konnen, ja sich vielleicht in
einigen Kopfen unter den gegebenen Verhaltnissen noch
steigern werden. Aber deshalb dem modernen Bildungs-
Das moderne Bildungsstreben. 97
streben entgegenzutreten und es niederzuhalten, ware das
Verkehrteste , was wir tun konnten. Mederzuhalten ver-
mogen wir es iiberhaupt nicht; denn es 1st viel zu machtig;
wir warden es nur auf schlechte Belehrung und schlechte
Unterweisung zuriickwerfen. Den Gefahren der Halbbildung
kann man doch nicht durch die Verdamnmng zur Unbildung
entgegentreten , sondern nur durch ,,Ganzbildung". Die
besten Manner miissen in dieses Werk eintreten, und die
besten Biicher miissen fur dasselbe geschrieben werden.
Hit den wichtigsten Ergebnissen der Wissenschaften mufl
der Sinn fur ihre Methoden und fur die unendlichen
Schwierigkeiten einer gesicherten Erkenntnis auf alien Ge-
bieten erweckt werden. Wo er erweckt ist, da ist schon
die Hauptsache gewonnen, da ist die grofite Gefahr der
Halbbildung abgewehrt. Und er kann erweckt werden.
Gewifi, die hochste Stufe" wissenschaftlicher Erkenntnis
kann niemand erfliegen, und einen koniglichen Weg zu ihr
gibt es nicht; die grofien Denker werden immer einsam
sein, und es wird stets eine Wissenschaft geben, die nicht
fiir die Massen ist. Aber wie die Bildung, so hat auch die
Wissenschaft ihre Stufen, und es ist nicht wahr, dafi die
frischere Luft nur auf dem hochsten Gipfel des Gebirges
weht. Der schlechte Klang, den das Wort ,,populare Wissen
schaft" hat — fast lautet es wie Pseudowissenschaft — ,
braucht ihm nicht immer anzuhaften; ich meine, er ist zum
Teil schon verschwunden. Wo das Halbwahre und Triviale
verbannt, wo die Ehrfurcht vor der Wahrheit und ihrer
Erforschung erweckt, wo dem einzelnen der wissenschaft-
liche Stoff geboten wird, der ihn in seinem Kreise wirklich
zu fordern vermag, da ist die populare Wissenschaft eine
gate und rechte Wissenschaft.
Mit dem zuletzt Gesagten bin ich bereits einer zweiten
Gefahr entgegengetreten, die dem modernen Bildungsstreben
anhaftet, der Gefahr der Gleichmacherei. Sie erscheint mir
besonders grofl und verderblich; sie ist es auch vornehm-
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. II. 7
98 Z welter Band, erste Abteihing. K,eden: III.
lich, die zu der schlimmen Halbbildung fiihrt, ja auf die
Dauer die Wissenschaffc selbst zugrunde ricliten mufi. Ihre
Folgen sind in jeder Richtung verhangnis voile. Sie wirkt
antisozial, lost die gegebenen Grundelemente der Gresell-
schaft auf und halt die Entwicklung selbstandiger und
eigenartiger Individuen nieder. Unter Grleichmacherei ver-
stelie ich das Bestreben, ohne R/iieksicht anf die Unter-
schiede des Greschlechts, der Individualitat nnd des Bernfs
ein nnd dieselbe Bildnng und darnm anch einen nnd den-
selben Bildnngsgang moglichst vielen geben oder vorschreiben
zn wollen. "Was dabei herauskommt, lehrt nns der Unter-
gang der antiken Wissenschaft; wir haben es aber selbst
schon in schlimmen Erscheinnngen gesehen nnd werden
wohl noch mehr Lehrgeld zahlen miissen. Verstandlich
scheint es ja wohl, dafi, nachdem viele anfiere Schranken
gefallen sind, nun kurzweg das scheinbar Einfachste ver-
sucht nnd wo moglich alien das Grleiche zuteil werden soil;
aber die oberflachlichste und verderblichste Vorstellung von
Bildung liegt diesen Bestrebungen zugrunde — als ob sie
wie ein anOeres Ding iibermittelt werden konnte, wahrend
sie doch iiberhaupt nur im Zusammenhang mit der Eigen-
art nnd dem Beruf des Individuums besteht. Von ihnen
abgesehen ist sie nichts als ein Firms, ein zaher Schleim,
oder vielmehr, sie ist etwas viel Schlimmeres , ein Grift,
welches die Frische und Gresundheit des Greistes und der
Seele, ja oft auch des Korpers zu zerstoren vermag. Hier
kann ich auch die moderne Frauenbewegung in manchen
Erscheinungen von schweren Vorwiirfen nicht freisprechen.
Entschuldigungen will ich gleich voranstellen : der harte
Kampf um das tagliche Brot und um einen Platz an der
Sonne, das ruhmliche Streben nach wirtschaftlicher Selb-
standigkeit und wiederum das leidige Berechtigungswesen
und die Konkurrenz mit der mannlichen Arbeit, in welche
die Frauen zurzeit ofbmals treten miissen, das sind Ent
schuldigungen genug. Aber wenn heute von verschiedenen
Das moderne Bildungsstreben. 99
Seiten die Parole ausgegeben wird, well die Fran dem
Manne gleichwertig sei, so miifiten ilir auch durchweg die-
selben Berufe und derselbe Bildungsgang eroffnet werden
wie dem Manne, so kann ich darin nur eine Yerirrung
sehen, und wenn vollends hin und her die Miene ange-
nommen wird, als sei die Frage ^cuius generis" in Kinsicht
auf Beruf und biirgerliche Stellung iiberhaupt eine veraltete,
wenn in diesem Zusammenhange sogar an der Ehe geriittelt
wird, so droht uns die Auflosung. Ich nehme nichts von
dem zuriick, was ich in diesem Vortrage iiber das Recht
der Frauenbewegung ausgesprochen habe; aber ich lehne
die Konsequenz ab, dafi die Frauenbildung einfach nach
dem Schema der Bildung des Mannes einzurichten sei und
dafi es ein gesunder Zustand sei, wenn die Frau uberall
mit dem Manne in Konkurrenz tritt. Grleichwertigkeit ist
doch nicht Grleichartigkeit; jene bleibt bestehen, selbst wenn
es sich herausstellen sollte, daft die Frau intellektuell dem
Manne durchschnittlich nicht gewachsen ist. "Was sich aber
langst fiir jeden, der sehen will, herausgestellt hat, ist in
bezug auf viele Berufe die korperliche Minderwertigkeit
der Frau. Die schwierige Aufgabe der Zukunfb wird darin
bestehen, den Frauen die rechten Berufe abzugrenzen und
innerhalb derselben eine Ordnung der Dinge vorzunehmen,
wie sie der geistigen und physischen Organisation der Frau
angemessen ist. Hier sind wir erst in den Anfangen, und
Opfer an gesunden Menschenleben wird es kosten, bis die
Aufgabe gelost ist. Unterdessen ist schon jetzt sorgfaltig
jede Grleichmacherei zu verbannen, wo die Schadlichkeit
einer solchen offen am Tage liegt. Dazu: gewifi ist die
Frau nicht nur fur die Ehe und die Familie, aber sie ist
in erster Linie fur sie zu erziehen. Der Einwurf, dafi man
den Mann doch nicht in erster Linie fur diese erziehe,
stammt bereits aus einer verkehrten Betrachtung der Dinge.
Diese erscheint gesteigert, wenn wir heutzutage wieder, wie
einst im Mittelalter, die Frage erortert sehen, ob denn iiber-
7*
100 Z welter Band, erste Abteilung. E-eden: III.
haupt die Ehe ein einer freien Personlichkeit wiirdiges Ver-
haltnis sei. Es sind nicht nur frivole Weltmenschen, welche
diese Frage aufwerfen — wenn sie anch von den Uber-
zeugnngen, die einst zuni Monchtnm gefiihrt haben, sehr
weit entfernt sind. Dennoch vermag ich in diesen Erwa-
gnngen nnr das Symptom einer ebenso nnevangelischen
wie antisozialen Stimmung zn erkennen, die hochst uner-
freuliche AnBernng eines Egoismus, der dadurch nicht
wertvoller wird, dafi er anch mit dem Bildnngsstreben sich
verbindet. Die ruchlosen Yersuche aber, die Q-rundfesten
der Gresellschaft an diesem Punkte zu sprengen und offen
die Ehe verachtlich zn machen — es gibt leider sclion eine
ganze Literatur dariiber, eine ^schone" Literatur — , lasse
ich grundsatzlich beiseite.
Die gefahrliche Grleichmacherei zeigt sich indessen nicht
etwa nnr in bestimmten Erscheinungen der Franenbewegung
nnd des sexuellen Problems; sie ist anch sonst zn bemerken.
"Was man ihr entgegenznsetzen hat, das will ich an der
Charakteristik dartun, die einst Mommsen in einer wnnder-
vollen Rede von Kaiser Wilhelm I. gegeben hat. Er sagt:
„ Kaiser Wilhelm war, was der rechte Mann sein soil, ein
Fachmann. Eine bestimmte Disziplin beherrschte er voll-
standig; seinem hohen Bernfe entsprechend lebte nnd webte
er in der Theorie wie der Praxis der Militarwissenschaft.
Es werden nicht viele sein, die ihre Jiinglings- nnd Mannes-
jahre mit solchem Ernst wie er ihrer Wissenschaft gewidmet
haben. Also war er kein Dilettant. Er wnfite sich am
Schonen zn erfrenen nnd ist der Erorternng wissenschaft-
licher Fragen oft nnd gern gefolgt." Hier ist das Element
genannt, welches der Grleichmacherei entgegenznsetzen ist.
Fachbildnng mnB znerst geboten werden, nnd sie nmJS der
Ansgangs- nnd Ankniipfungspunkt fur alle fortschreitende
Bildung sein; in konzentrischen, immer weiteren Kreisen
hat sie sich an jene anzusch.lie.Ben. So wird der Dilettan-
tismus, der die Folge aller Grleichmacherei ist, abgewehrt
Das moderne Bildungsstreben. 101
nnd zugleich jene Ehrfurcht vor der Wissenschaffc erzeugt,
die aufgeschlossen und bescheiden zugleich macht.
Aber noch eine dritte Grefahr 1st ins Auge zu £asseny
und sie entspringt aus dem besonderen Charakter des mo-
dernen Bildungsstrebens als ernes Strebens nach Erkenntnis
des Wirklichen. In diesem Streben liegt ein hones Gruty
aber wenn mit ihm nicht eine starke sittliche Bildung ver-
bunden ist, so wird es schadlich. Groethe sagt einmal von
einem seiner Freunde, dafi er menr Talent und Wissen
habe, als er nach dem Mafi seiner Charakterstarke ertragen
konne, und an einer anderen Stelle spricht er das tiefe
"Wort aus: ,,Alles, was unseren Greist befreit, ohne uns die
Herrschaft iiber uns selbst zu geben, ist verderblich." Kurz
und schlagend ist hier formuliert, worauf es ankommt; die
Aufgabe aber, die damit unserem Bildungsbetriebe gestellt-
ist, ist die ernsteste. Wir sollen wissen, dafi wir mit alien
unseren vortrefflichen Einrichtungen zur Verbreitung der"
Kenntnisse und der "Wissenschaffc nur erst die Halfte unserer'
Aufgabe, ja nicht einmal die Halfte, geleistet haben, Wenn
wir es nicht vermogen, auf den sittlichen Zustand derer,
die wir unterrichten , einzuwirken, so betreiben wir eine
gefahrliche Sache. Grewifi liegt in einem ernsten Wahr-
heitsstreben und in der Beschaftigung mit der Wissenschaft
selbst schon ein hohes sittliches Element, aber es mufi auch
hervorgeholt und dem Horenden zur Darstellung gebracht
werden. Es ist vor allem die Personlichkeit des Lehrenden
selbst, die von der sittlichen Kraft der Wahrheit gestahlt
sein und einen Eindruck von ihr hervorrufen muO; denn
auf jeder Stufe des Unterrichts, auch auf den hoheren, ist
die Personlichkeit des Lehrers von entscheidender Bedeu-
tung. Lernen konnen wir alles mogliche aus Biichern und
aus unpersonlichen Uberlieferungen, gebildet werden konnen
wir nur durch Bildner, durch Personlichkeiten, deren Kraft
und Leben uns ergreift. Dafi aber in dieser Hinsicht der
gegenwartige Betrieb der Bildung vieles zu wiinschen ubrig
102 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: III.
lafit, wer kann das leugnen? Zu dem heutigen Betriebe
der Wissenschaft mufi die voile hoffende, liebende, sittlich
starke, glaubende Personlichkeit hinzutreten, reifer ausge-
bildet und lebendiger als je fruher. An ihr mufi es den
Schiilern deutlich werden, dafi alle tiefere Bildung Umbil-
dung 1st, schmerzliche, aber befreiende Umbildung: es mufi
etwas Altes untergehen nnd etwas Neues waclisen und
werden.
Im engsten Zusammenhange damit steht noch ein
anderes, und es 1st die Hauptsache: alle wahre Bildung
stromt aus der Quelle einer geschlossenen Weltanschauung
und hat schliefilich nur soviel Wert als sie eine solche
ausbaut. Eine geschlossene Weltanschauung kann aber
nur eine idealistische sein, d. h. sie mufi in der Uber-
zeugung wurzeln, dafi der Wert des personlichen Lebens
und die sittliche SelbstgewiJBheit allem blofi Naturhaften
iibergeordnet 1st und dafi wir, wie wir in G-ott leben und
weben, so auch ihm Rechenschaft schuldig sind. Aber
durchdringt eine solche Weltanschauung d. h. ein seiner
Sache gewisser Grlaube heute die geistigen Fiihrer unseres
Volkes? Wer kann das behaupten? Seit dem Untergang
der Aufklarung am Anfang des 19. Jahrhunderts haben
wir keine einheitliche , uns hebende und erhebende Welt
anschauung mehr. Weder die Restaurationen des kirch-
lichen G-laubens noch die grofien idealistischen Systeme
haben eine solche fur unser Yolk zu schaffen vermocht.
Dieser Zustand, der schon lange anhalt, die Grlaubens-
losigkeit sowohl wie die Grlaubenszerrissenheit, ist der
tiefste Schade in unsrem heutigen Dasein; er ist die Ur-
sache unsrer Schwache in jeder Hinsicht, unsrer Schwache
auch gegenliber dem politischen Religionssystem des Katho-
lizismus. Den Materialismus haben wir als System so
ziemlich iiberwunden; man kann sagen, die Zeit und der
heilende Einflufi der Natur haben diese Krankheit geheilt;
aber deshalb sind wir noch lange nicht gesund; denn eine
Das moderne Bildungsstreben. 103
solche Heilung schafft keine wirkliche Gesundheit. Es ist
kein Theologe, sondern ein Q-egner derselben, der Philo-
soph John Stuart Mill, der in seiner Selbstbiographie
folgende Worte geschrieben hat: ,.Wenn die philosophi-
schen Geister der Welt nicht langer an ihre Religion
glauben oder nur mit Modifikationen daran glauben konnen,
welche den Charakter derselben wesentlich verandern, so
beginnt eine tJbergangsperiode schwacher Uberzeugungen,
gelahmter Verstandeskrafte, lauer Grundsatze, die kein Ende
nimmt, bis eine Erneuerung bewirkt ist, welche zur Ent-
wicklung eines religiosen oder rein menschlichen Glaubens
fuhrt. Solange dieser Zustand anhalt, hat alles Denken
nnd Schreiben, das nicht auf eine solche Erneuerung hin-
arbeitet, sehr wenig anderen als momentanen Wert.tt
Lassen wir neinen rein menschlichen Glauben", unter
welchem ich mir im Gegensatz zu einem religiosen nichts
vorzustellen vermag, beiseite, so hat Mill den gegen-
wartigen Zustand und das, was zu geschehen hat, sehr
richtig beschrieben. Man erwarte ja nicht, dafi der blofie
Betrieb der Einzelwissenschaften hier etwas andern kann.
Weder die Wissenschaften noch die Wissenschaft vermag
hier etwas. Zur Einkehr in die eigene Seele mufi man die
Menschen aufrufen, damit sie neben den ungeheuren Wirk-
lichkeiten, die durch die Kenntnis der Wissenschaften auf
sie eindringen, die Wirklichkeit der Wirklichkeit nicht
iibersehen oder vergessen. Diese Wirklichkeit aber sind
zunachst sie selbst, ihre Seele, ihr iiber die Natur erhohtes
Dasein. Das ist freilich kein Wissen, sondern ein Glauben,
weil es nur als werdende und strebende Uberzeugung vor-
handen ist; aber es ist die Kraft alles geistigen und schliefi-
lich auch alles sozialen Seins. ,,Das Charakteristische des
Glaubens ist der Antrieb zum Schaffen, das Charakteristische
des Unglaubens ist die Zerstorung der SchaiFensfreudigkeit,
die Leugnung des schopferischen Berufes, das Zuriickwerfen
der Menschheit auf das unmittelbare Sein und den un-
104 Z welter Band, erste Abteilung. Keden: HI.
mittelbaren Trieb, der Uberdrufi an der Vergeistigung des
Daseins und endlicli am Dasein selbst." Weil nun die
heutige "Wissenschaft — und sie kann nicht anders —
iiberall auf die Anfange zuriickgeht und iiberall, der gene-
tischen Methode folgend, die Dinge auf ihre primitivsten
Elemente und auf den niederen Ort, wo sie entstanden zu
sein scheinen, zuruckfuhrt, so vermag sie in der Tat
sclrvvache und haltlose Greister iibel zu verwirren und
scheint solchen, die an ihre eigene Wertlosigkeit schon so
wie so glauben, eben diese noch zu bestatigen. Dieser
Zustand ist gewifi nicht uniiberwindlich — es wird die
Zeit kommen, da man erkennen wird, dafi die Entwick-
lungen in Wahrheit wie fortgesetzte Schopfungen wirken,
in denen neue Grofien und Werte entstehen, — aber er
ruft uns auf, alle unsre Krafte anzuspannen, um ihm zu
begegnen. Nirgendwo diirfen wir es geschehen lassen,
soweit es in unsren Kraften steht, dafi Wissenschaft ge-
lehrt und Bildung verbreitet wird, ohne dafi zugleich das
sittliche SelbstbewuCtsein gekrafbigt, die innere Zusammen-
fassung der Personlichkeit gestarkt und das Leben mit
Ewigkeitsgehalt erfiillt wird. Nirgendwo diirfen wir dies
geschehen lassen, am wenigsten aber dort, wo wir Kennt-
nisse uber den sozialen Aufbau und das soziale Leben
verbreiten. Unter alien Parolen, die ausgegeben worden
sind, ist keine bedenklicher als die, man miisse das soziale
Leben vorherrschend oder ganz ausschliefilich als wirt-
schaftliches betrachten und man miisse das wirtschaftliche
eben nur als wirtschaffcliches ins Auge fassen. Diese
Parole ist erstens bedenklich, weil sie falsch ist, und sie
ist ferner verhangnisvoll , weil sie blinden und trivialen
Vorurteilen entgegenkommt und den sittlichen Aufschwung
lahmt. Die sie ausgeben in gutem Grlauben, durch diese
Betrachtung die Dinge zu vereinfachen und leichter Gehor
zu nnden, wissen nicht, was sie tun; zum Grliick werden
sie selbst durch ihr eigenes Verhalten widerlegt. In der
Das moderne Bildungsstreben. 105
Tiefe aller grofien sozialen Fragen und aller Erkenntnis-
probleme stoJSt man auf das sittliche Element und damit
auf das religiose. Vernachlassigt man sie, so schadigt man
die Wirklichkeit der Dinge und die Menschen. Aber anch
das hilft uns nichts, dafi wir etwa das Weltbild. welches
uns die Kenntnis der aufleren Dinge bietet, durch allerlei
asthetische Gredanken aufzustutzen und zu idealisieren ver-
suchen: bei scharfer Blickenden werden wir damit wenig
gewinnen, und das, worauf es ankommt, wird doch nicht
erreicht. Dem personlichen "Werte der Menschenseele und
ihrem inneren Leben, aber auch jener briiderlichen Ver-
bindung der Menschen, die als Ideal vor uns liegt, ent-
spricht nur der christliche Gottesgedanke : G-ott ist der
Herr und Er ist die Liebe. Wie wir von ihm und zu ihm
geschaffen sind, so soil auch unsre Erkenntnis und Bildung
in ihm begriindet bleiben. Diese Gresinnung erhebt uns
aus dem Verganglichen ins Dauerhaffce und Ewige; sie
adelt auch die geringste Arbeit und vernichtet jeden bloB
scheinbaren "Wert. In dieser G-esinnung sollen wir schafPen
und bilden.
Die sich in diesem Kongresse zusammengefunden haben,
sind allesamt der Uberzeugung, dafi dem so sein soil und
dafi wir in freiem Anschlufi an die IJberlieferungen unserer
evangelischen KJirche, wie es Protestanten gebiihrt, diese
Aufgabe zu erfullen haben. Aber wie viel ist hier zu tun,
und wie gering sind Sorge, Fleifi und Anstrengung! Das
moderne Bildungsstreben hat uns das weiteste Feld ge-
offnet, und niemand kann sich damit entschuldigen , daB
er nicht auf Fels oder unter die Dornen saen wolle. Be-
reitschaft zu horen, zu lernen, auszutauschen und zu er-
wagen ist vorhanden. Mit den sozialen Problemen ist
auch der Sinn fur die tiefsten Fragen des Menschenlebens
lebendig; denn sie hangen aufs engste zusammen, ja sie
sind eins. Unser ist die Schuld, wenn das moderne
10(3 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: III.
Bildungsstreben schliefilich an sich selbst verzweifelt, well
es die Nahrung nicht erhalt, welche es sucht, oder nur
eine Nahrung, die niclit mehr nakrt, wenn es in UberdruB
tmd Skeptizisnms ansmiindet, wenn ihm die Wirklichkeit
schal und die Wissenschaft fruchtlos erscheint. Dahin
darf es nicht kommen. Moge auch der heutige Tag an
seinem Teil dazu beitragen, das G-efiinl der Verantwortung
nnserem Volke gegeniiber zu ernohen und unsre Kraft zu
starken!
Alle Entdeckungen , alles Wissen, im Momente so be-
ranschend, wird rasch. trivial und wirkungslos; wenn es
aber zugleich den inneren Sinn vertieft und belebt, ihn
umbilden hilffc zu einem holieren Sein, so hat es ewiges
Leben in sich.
ADOLF HARNACK - REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND - ERSTE ABTEILUNG
REDEN: IV
GRUNDSATZE DER EVANGELISCH-
PROTESTANTISCHEN MISSION
Vortrag
gehalten am 26. Sept. 1900 auf der Generalversammlung des Allgem.
evang.-prot. Missionsvereins.
Erschienen in: ,,Zeitschrift f. Missionskunde u. Eeligionswissenschaft"
1900; und als Sep.-Abdr. in 2. Aufl. bei A. Haack in Berlin.
In einer bewegten und ernsten Zeit feiert unser Verein
diesmal sein Jahresfest: In Lander, in die sonst nur der Mis-
sionar und der Kanfmann geht, ist ein Teil unsrer Truppen
gezogen, um im Verein mit den Heeren Europas Ordnung
zu schaffen. Das bedeutet, wenn nicht alles tauscht, den
Anfang einer neuen Epoche der nniversalen Volkergeschichte.
Nachdem Amerika europaisch besiedelt, Austr alien eine Pro-
vinz Europas geworden und Afrika aufgeteilt ist, soil der
gewaltige Rest des groBten Erdteils, Asiens, unter euro-
paische Kontrolle gestellt werden. Aussichten, wie nie zu-
vor, haben sich aufgetan — Aussichten und Befiirchtungen.
Die christliche Mission nimmt an ihnen den lebendigsten
Anteil. In dem Herzen jedes Missionsfreundes wogen heute
Hoffnungen und Sorgen. Der Sehleier, der iiber der Zu-
kunft liegt, scheint sich zu heben, und die ehernen Riegel
an ihren Pforten geben nach. Gewaltsam suchen die euro-
paischen Yolker einzudringen in das Dunkel; denn kein
helles Licht bestrahlt den Weg; die Fackel miissen sie selbst
erst hineintragen. Was zu hoffen, was zu wiinschen ist,
was werden soil und was werden wird — diese Fragen be-
wegen aller Herzen.
Aber diese festliche Stunde ware vergeudet, versuchte
ich es, sie zu beantworten; denn nur Ungewisses vermochte
ich zu sagen. Sammeln wir uns vielmehr um das, was klar
und gewiC in unseren Aufgaben ist, suchen wir es uns zu
vergegenwartigen und uns aufs neue sicher einzupragen.
Wie sich auch die Zukunffc gestalten mag — wir stehen
auf festem Grrunde und haben ein unverriickbares Ziel vor
Z welter Band, erste Abteilung. Reden: IV.
Augen. Keine Schwierigkeit der G-egenwart vermag es
umzustofien. Je fester wir es erfassen, um so sicherere
Schritte werden wir tun, und run so gewisser werden wir
alle Hemmnisse iiberwinden. Handeln wollen wir erstlich
von der Pflicht nnd dem Zweck der evangelischen Mission,
sodann von inrem Umfang nnd ihren Beschrankungen,
weiter von den Mitteln der Mission nnd endlich von der
Ruckwirkung, welche sie auf nnser eigenes Christentnm
in der Heimat ausiiben soil.
I.
Mit der ganzen Christenheit aller Zeiten, soweit sie
lebendig war und lebendig ist, ist nnser Allgemeiner evan-
geliseh - protestantischer Missionsverein der Uberzeugung,
dafi das Evangelium alien Volkern verkiindet werden soil.
Warum? Weil Jesns nnd die Apostel es geboten haben?
Das ware an sich noch nicht ansreichend; es konnte sich
auf vergangene Zeiten beziehen. Oder weil die christliche
Religion besser ist als die andern? Aber das Bessere ist
oft genug der Feind des Gruten, und alles frommt nicht
alien. Nein — die unerschiitterliclie Uberzeugung unserer
Missionspflicht fliefit aus der Erkenntnis, dafi das Chris ten-
tum nicht eine Religion neben anderen, sondern dafi es die
Religion selbst ist, dafi daher erst in ihr und durch sie
jedes Volk und die Menschheit das wird, was sie sein sollen.
Nur wo diese Uberzeugung besteht, ist das Recht zur uni-
versalen Mission gegeben und das gute Gtawissen bei ihrer
Ausfuhrung. Nur diese Uberzeugung vermag der tausend
Schwierigkeiten und Bedenken Herr zu werden, die sich
wider die Mission erheben. So haben es schon ihre altesten
Verteidiger, Paulus und die christlichen Apologeten des
2. Jahrhunderts , empfunden. Sie waren nicht der Mei-
nung, dafi sie den Griechen und Romern einen neuen ge-
spenstigen Gott brachten und sie aus dem Geschichtlichen
und Menschlichen in ein unbekanntes Land versetzten, son-
Grundsatze der evangelisch-protestantischen Mission. Ill
dern sie verkiindeten ihnen den Gott, in dem sie unwissend
lebten und webten, und sie zeugten von dem Geist, der
die Natur und die Geschichte, das Erhabene und das Gute
hervorgebracht. Indem sie dann an dem Bilde des leben-
digen und gekreuzigten Jesus Christus die Kraft eines hei-
ligen Lebens und die Macht des Gerichts und der ver-
gebenden Liebe Gottes dartaten, machten sie die Herzen
empfanglich fur den Geist Gottes und erweckten nicht
etwas Unmenschlich.es , sondern Menschen, wie sie sein
sollen, eine Gottesmenschheit. In diesem Sinne, und nur
in diesem, haben auch wir unsere Missionsaufgabe zu be-
tracliten. Nicht etwas Singulares, Fremdes, unvermittelt
tiberfallendes haben wir den Volkern zu bringen, sondern
wir wollen sie aus der innern Sklaverei befreien und durch
das Evangelium zu Gottesmenschen machen, das ist der
voile Gegensatz zu Seelenfang und berechnendem Prosely-
tismus. liber dieses Zerrbild der Mission hat Jesus Christus
selbst das scharfste Wort gesprochen. Er hat den Schrift-
gelehrten und Pharisaern zugerufen: ,,Ihr Heuchler, die ihr
Land und Wasser umziehet, dafi ihr einen Judengenossen
machet, und wenn er es ge word en ist, macht ihr aus ihm
ein Kind der Holle, zwiefaltig mehr, denn ihr seid." Es
ist ein schrecklich.es Bild von Missionaren und Missions-
zoglingen, das der Herr hier mit zwei Strichen entworfen
hat, und leider kennt auch die christliche Missionsgeschichte
solche Bilder. Beachten wir aber auch wohl, dafi Jesus es
iiberhaupt nicht in Anschlag bringt, dafi dieser Judengenosse
statt der Gotzen nun den wahren Gott anruft; das ist ihm
augenscheinlich ganz gleichgiiltig. "Was innerlich aus ihm
geworden ist, darauf allein kommt es ihm an, und da er-
klart Jesus mit furchtbarer Bestimmtheit: Die Mission hat
diesem Menschen nur geschadet; sie hat ein Kind der Holle
aus ihm gemacht; ja, noch mehr: Er sagt, von schlechten
Missionaren schlecht bekehrte Menschen, das ist die
schlimmste Sorte Menschen, die es gibt. Lernen wir dar-
Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
ans, welch, eine Gefahr die Mission umlauert, sobald sie
ihren hochsten Zweck aus dem Auge lafit oder auch nur
mit anderem vermischt: Nicht Tim die Vermehrung von
wJuden-" oder ?,Christengenossen" handelt es sich, sondern
um Gotteskindschaft. Wehe, wenn ein anderer Gesichts-
punkt Mer eingemischt wird! Ehrgeiz, Proselytenmacherei,
Unfriede, auBerlich.es Wesen — dies alles vergiftet die Mis
sion an der Wurzel. Weit besser, man missioniert dann
iiberhaupt nicht. Die Mission darf und soil schlechterdings
kein anderes Ziel haben als Gotteskindschaft.
Damit ist bereits gesagt, welch ein Christentum ver-
kiindigt werden soil. Bedriickend, ja, schmerzlich ist es,
dafi wir diese Erage iiberhaupt aufwerfen mlissen; aber der
Gang, den die geschichtliche Entwicklung des Christen-
tums genommen hat, seine Zersplitterung in Konfessionen
nnd seine Belastung in jeder Konfession zwingt sie uns
auf. Das Evangelium haben wir den fremden Yolkern zu
verkiinden und nichts anderes als das Evangelium, die
frohe Botschaft: nDer Menschensohn ist gekommen, zu
suchen und selig zu machen, was verloren ist", und ,,Der
Geist des Herren ist bei mir, derhalben er mich gesalbet
hat und gesandt, zu verkiindigen das Evangeliom den
Armen, zu heilen die zerstoJBenen Herzen, zu predigen den
Gefangenen, dafi sie los sein sollen, und den Blinden das
Gesicht, und den Zerschlagenen, dafi sie frei und ledig sein
sollen, und zu predigen das angenehme Jahr des Herrn."
Der Missionar muG alles kennen, was das Christentum im
Laufe seiner Geschichbe erlebt und erlitten hat, aber er
mufi von dem alien absehen konnen, er mufi fahig sein,
auf das Einfachste zuriickzugehen und es in seiner urspriing-
lichen Art zu verkiindigen. In den Spriichen Jesu mufi er
leben; aus der Bergpredigt und den Seligpreisungen, den
Gleichnissen und den VerheiBungen mufi er seinen Stoff neh-
men. Vor allem aber, er mufi selbst Christum lieb haben und
in der Welt des Ewigen heimisch sein. Was er bringen will,
Grundsatze der evangelisch-protestantischen Mission. H3
nmfi er erlebt haben; es soil keine Lehre sein, sondern ein
Leben, keine Last, sondem eine Befreiung. Gewifi, er wird
nicht davon absehen konnen, dafl er selbst ein evangelisch-
protestantischer Christ 1st, aber nicht den Protestantisnms
hat er zu verkiindigen, auch nicht orthodoxe oder liberale
Theologie, sondern die Gotteskindschaft. Und eben als
Protestant kann ihm das nicht schwer werden; ja, man
darf kiihnlich sagen: JSTur der protestantische Missionar ist
der rechte Missionar; denn nur er ist imstande, das Evan-
gelium in seiner schlichten Kraft darzustellen und aus seiner
Geschichte zu lernen, ohne sich ihr gefangen zu geben.
DaB Gottesmenschen erweckt werden, Jiinger Jesu, dafi die
Gewiflheit eines ewigen Lebens nnd die Freude an einem
reinen, heiligen Leben erschlossen werde, das ist die Auf-
gabe der christlichen Mission. Je ernster sie es mit dieser
Aufgabe nimmt, desto mehr wird sie auch ihre ubelwollen-
den Gegner zum Schweigen bringen und zugleich das er-
reichen, was nicht ihr nachster Zweck ist und ihr doch
sicher zufallen mufi, — namlich Gesittung und Bildung zu
verbreiten und die neu gewonnenen Briider einzufuhren in
den groflen Kreis der zivilisierten Welt.
Wir wollen hier einen Augenblick verweilen; denn wir
stehen an einem umstrittenen Punkte. Wir horen Stimmen
unter uns, welche sagen, die Verbreitung der christlichen
Zivilisation lassen wir uns gef alien, ja, wunschen sie, aber
den christlichen Missionar wunschen wir nicht; denn er
richtet nur Yerwirrung und Streit an, und seine Predigt
paCt fur die meisten Yolker gar nicht. Ich sehe von denen
ab, die so sprechen und dabei unter der wiinschenswerten
Zivilisation nichts anderes verstehen, als das Mafi von Ord-
nung, das notig ist, um bequem Handel treiben und unge-
stort die fremden Volker ausbeuten zu konnen. Um die Aus-
einandersetzung mit einem so ruchlosen Standpunkt kann
es sich hier nicht handeln. Ich fasse vielmehr die ins Auge,
die unter „ Zivilisation" wirklich eine sittliche Hebung jener
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. II. 8
1 14 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: IV.
Volker und ihre allmahliche Einfuhrung in die cliristliclie
Volkerfamilie verstehen. Im Prinzip kann ich ihnen nur
beistimmen: Es ware in der Tat ein idealer Zustand, wenn
wir keine besonderen Missionare brauchten, wenn jeder
Europaer, der zu fremden Kiisten kommt und in fremde
Lander eindringt, die christliche Gresittung im vollen Sinne
des Worts mitbrachte ; man konnte dann alles iibrige der
Zeit iiberlassen. Aber wie weit wir von diesem Zustande
entfernt sind, dariiber braucht es keiner Worte. Grewifi gibt
es ehrenwerte und treffliche Ausnahmen, aber im grofien
und ganzen macht man sich keiner Ubertreibung schuldig,
wenn man behauptet, daft die Invasion der christlichen
Europaer in fremde Lander den berufsmafiigen Missionar
doppelt notwendig macht. Das haben auch einsichtige Po-
litiker und Nationalokonomen, wie Prof. Rath. gen auf dem
letzten evangelisch-sozialen Kongrefi, anerkannt. Mit dem
Besten, was wir besitzen, miissen wir zu den fremden Yol-
kern kommen, nicht nur um der Gerechtigkeit willen —
denn, wie sie auch. sein mogen, wir nehmen ihnen immer
etwas und sind daher ihre Schuldner — , nicht nur um der
Menschenwiirde und Liebe willen, sondern auch um unserer
eigenen Existenz willen, sonst geht es uns wie den Spa-
niern und Portugiesen mit ihren Kolonien. Aber auch der
Einwurf gilt nicht, dafi mit halb- oder anders zivilisierten
Yolkern anders zu verfahren sei, und dafi der Missionar
hier kein Feld habe. Nun, von dem Anspruche des Christen-
tums, die universale Religion zu sein, ganz abgesehen —
es gibt nur eine Ziviiisation, auf deren Grrunde sich die
Menschheit zu einer Einheit verbinden kann, das 1st die
hier in Europa in unserer Religion und unserer Geschichte
erwachsene. Wir ehren jede andere Gresittung, wo sie den
Menschen uber die Naturstufe erhoben hat, aber auf die
Dauer bestehen lassen konnen wir sie nicht; denn sie ist
minderwertig und die Verbindung der Volker auf der immer
kleiner werdenden Erde wird zu eng, als dafi Ungefuges
Grundsatze der evangelisch-protestantischen Mission. H5
nebeneinander bestehen konnte. Merkwiirdig — dieselben
Leute, welche die fremden Volker nur als Objekte ihrer
Ausbeutung betrachten, tragen nicht selten erne fast senti-
mentale Zartlichkeit for die heimische Kultur derselben zur
Schau. Aber was ist das for eine Kultur, die es z. B. den
Chinesen erlaubt, die geheiligten Volkerrechte mit Fiifien
zu treten, barbarische Martern zu ersinnen und Menschen-
leben fur Spreu zu achten? Diese Kultur verdient nicht,
dafi man sie konserviere. Stellen wir uns daher auf den
prinzipiellen Standpunkt, auf den Standpunkt, den unsere
Religion, unsere Geschichte und die Sorge fur die Zukunft
uns anweisen, so mussen wir sagen: Wir brauchen die
christliche Mission auch deshalb, weil wir die christliche
G-esittung fur alle Volker brauchen, und weil wir diese
ohne die Mission nicht erlangen werden. Das Ziel, eine
grofie gesittete Volkerfamilie zu schaffen, ist uns wie durch
unsere Religion, so auch durch den Gang unserer euro-
paischen G-eschichte vorgezeichnet. Man mufi aber dieWur-
zeln in die Tiefe senken, wenn der machtige Baum werden
und wachsen soil. In die Tiefe aber dringt nur, wer den
einzelnen und den Volkern das rechte Verhaltnis zu Gott
und den ewigen Dingen bringt. Denn die Furcht des Herrn
ist nicht nur der Weisheit Anfang, sondern auch das Fun
dament fur jegliches gesicherte Dasein. Durch Kanonen
konnen wir wohl von heute auf morgen ein Land erobern
und durch Handelsfaktoreien vermogen wir von heute auf
morgen Volker in unsere Netze zu ziehen, aber der wahre
Eroberer ist der, welcher den christlichen Bruderbund er-
weitert und das Beste, was er besitzt, fremden Volkern zu
eigen macht. Neben der gewaltigen Mission, die unsere
Technik und unser Handel auf dem ganzen Erdball aus-
iiben, mufi die Mission der G-otteserkenntnis , der christ
lichen Tugenden und der christlichen G-esittung gehen:
Nur so erfullen die europaischen Volker ihren weltgeschicht-
lichen Beruf ; denn die Mission ist nicht mehr wie vor hun-
8*
Z welter Band, erste Abteilung. Reden: IV.
dert Jahren die Saclie einzelner, sondern eine schlechthin
notwendige Funktion der Christenlieit.
n.
Indem wir von der Aufgabe und dem Zweck der
Mission gehandelt, haben wir es bereits ausgesprochen, dafi
ihrem Umfang prinzipiell keine Sckranken gesetzt werden
diirfen. Aber die Frage wird verwickelter, sobald wir auf
die wirklichen Verhaltnisse blicken. Die Verflechtungen,
die in alien europaischen Staaten, wenn auch in verschie-
dener "Weise, zwischen Kirche nnd Staat bestehen, bilden
fur die Mission eine grofle, stets wachsende Schwierigkeit.
Solange die sog. christlichen Staaten nicht politisch in den
heidnischen Landern interessiert waren, wurde diese Scnwie
rigkeit kaum gespiirt; heute ist es anders. Wir stehen,
vor allem China gegeniiber, vor einem schweren Problem.
Diirfen politische und christliche Missionen zusammengehen?
Wie weit soil und darf die Mission staatlichen Schutz sich
gefallen lassen oder anrufen? In der KJrisis, die hier ent-
standen ist, sind schlimme Anklagen und widerstreitende
Behauptungen lant geworden. Man kann heute horen, dafi
es einen Kreuzzug nach China gelte, und dafi die euro
paischen Truppen zum Schutze und zur Verbreitung des
Christentums dorthin gezogen seien. Man kann aber auch
die unbesonnene Forderung horen, die Missionare sollen
China verlassen; sie hatten das ganze Unheil hauptsachlich
verschuldet, und auf sie konzentriere sich aller HaB. Es
ist nicht meine Aufgabe, in den Streit des Tages herabzu-
steigen und kurzsichtige Verleumdungen oder Mifiverstand-
nisse zu widerlegen — das, was kommen wird, ist zu-
dem, Grott sei Dank, ganz unabhangig von dem verworrenen
und hilflosen Widerstreit der Meinungen. Aber die Frage
ist an und fur sich ernst und schwierig genug, und ich
will daher die Erwagungen, die sich warmen Missions-
freunden hier ergeben miissen und zum Teil schon ergeben
Grundsatze der evangelisch-protestantischen Mission. H7
haben, in Form von Thesen zusammenfassen. Ich hoffe,
dafl sie so einleuchtend sind, dafl sie einer weiteren Be-
griindung nicht bediirfen:
1. Die christliche Mission ist in China seit Q-enerationen
an der Arbeit, und es gibt Hunderttausende chinesischer
Christen. Absichtlich oder ans Unwissenheit verbreitet ein
Teil unserer Presse den Irrtum, als habe die chinesische
Mission erst vor einigen Jahren begonnen nnd damit das
Unheil des Fremdenhasses heraufgefiihrt. Nein, ihre Arbeit
dort blickt bereits auf eine lange, lange Greschichte zuriick;
es ist einfach umno'glich, sie abzubrechen, nnd daher ist
diese Forderung eine torichte. Auch ist es unrichtig, dafi
die Mission als solche fur den Fremdenhafl besonders ver-
antwortlich ist. Sofern sie etwas Fremdes ist und bleibt,
nimmt sie an der Schwierigkeit der allgemeinen Lage teil
und manches ist wohl auch von den Missionaren versehen
worden. Aber gerade unter diesen — ich erinnere nur an
den verewigten D. Faber — hat es solche gegeben, die
den Chinesen naher gekommen sind als irgend ein Fremder.
2. Es liegt uns feme, in dieser Stunde an den katho-
lischen Missionen in China Kritik zu iiben, in einer Zeit,
wo ihre Missionare bluten und das Beispiel edler Hirten-
treue bewahren; aber die Behauptung, dafi die protestanti-
schen deutschen Missionare hinter den katholischen an Weis-
heit zuriickstehen, aggressiver und unbesonnener als jene ge-
wesen seien oder gar in besonderer Weise die politische Krise
verschuldet hatten, diese Behauptung diirfen wir mit allem
Fuge zuriickweisen. Die Zukunft, und ich denke eine nahe,
wird es klar stellen, wer hier zuriickhaltender gewesen ist.
3. Das Eindringen einer neuen Religion in ein Land
hat sich noch niemals ohne schwere Krisen vollzogen, die
um so heftiger sind, je entwickelter das Volk ist. Aber
tun solcher Krisen willen kann die Mission nicht aufgeben,
wer an sie glaubt; denn er ist uberzeugt, dafi die Opfer —
gewifi sind sie oft peinlich und schwer — der Sache wert sind.
118 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: IV.
4. Alles, was nur im entferntesten an die Kreuzzugs-
Idee erinnert, an die Absicht, fiir die christliche Mission
G-ewalt einzusetzen oder Grewalt fiir sie anzurufen, ist zu
verbannen. Vom Missionsstandpunkt aus betrachtet ist
das Eingreifen der christlichen GrroHmachte in die Ver-
haltnisse in der Regel keine Hilfe, sondern schafft bose,
leider unvermeidliche Schwierigkeiten.
5. Der heimische Schutz soil von den Missionaren
nicht gefordert nnd ihnen nicht gewahrt werden run der
christlichen Religion willen, sondern lediglich, wenn ver-
biirgte Staatsvertrage gebrochen werden. Vielleicht ist es
sogar anzustreben, dafl samtliche Missionare in gewissen
Landern und unter gewissen Bedingungen ihr Heimats-
recht zeitweilig verlieren, beziehungsweise aufgeben. Uber
diesen wichtigen Punkt aber, der nicht spruchreif ist, sind
noch eingehende Erwagungen anzustellen.
6. In G-egenden, wo der europaische Missionar in 2ei-
ten der Verfolgung nicht unter alien Umstanden bei seiner
Herde bleiben bezw. sie mit ihm niehen kann, soil er nicht
gehen; ja, die direkte Mission wird besser in solchen Land-
strichen abgebrochen, als das unertragliche Beispiel einer
Fluent der Hirten zugelassen.
7. Damit die Mission moglichst unabhangig bleibt von
politischen V erwicklungen , sollen nicht die Landeskirchen
als solche Mission treiben, sondern, wie bisher, soil die
Mission Sache freier, privater Vereine sein; ja, unter Um
standen ist schon der offentliche Verein eine zu schwer
wiegende Korperschaft. Wir brauchen neben ihm fur ge-
wisse Gebiete, z. B. fiir das tiirkische Reich, Manner als
Missionare, die ganz auf sich selbst stehen und alles, was
sie tun, lediglich auf ihre eigene Verantwortung tun, ohne
Hilfe und ohne Schutz.
8. Die christliche Mission kann und soil so getrieben
werden, dafi die neue Entwicklung, welche fremden Volkern
durch die Kulturstaaten aufgezwungen wird, einen relativ
Grrundsatze der evangelisch-protestantisclien Mission. 119
friedlichen Verlauf nimmt. Die christliche Religion, eben
weil sie die Religion der Menschheit ist , besitzt in der
Tat die Fahigkeit, sich dem, was in jedem Volkstum Wert-
volles ist, anzupassen, es zu veredeln und in Frieden zu
bewahren. Unsere Zeitungen sprechen sehr wenig von dem
Verdienst, welches sich die christliche Mission in dieser
Hinsicht bereits erworben hat; aber es bleibt darum nicht
minder groB. Wo es aber zeitweilig durch den Gang der
politischen Verhaltnisse der Mission unmoglich gemacht
wird, dem Frieden zu dienen, da hat sie zuriickzutreten,
selbst auf Kosten des schon Gewonnenen; denn niemals
darf sie einen Zweifel dariiber lassen, daB sie lediglich eine
geistige Macht ist, niemals darf sie in die G-efolgschaft der
Gewalt treten, nnd niemals darf sie es vergessen, daB sie
nicht die Interessen der Europaer in den fremden Landern
in erster Linie zu vertreten hat, sondern die Interessen
der Eingeborenen, in erster Linie der Bekehrten. Diese
miissen wissen, daB der Missionar zu ihnen gehort, ihr
Hirte und ihr Bruder ist; sie miissen sich unbedingt auf
ihn verlassen konnen. Hier haben wir in dem Apostel
Paulus ein iiber alle Zeiten fortwirkendes Beispiel. Er
hat sich als Missionar mit seinen Kindern identinziert; nur
fiir sie hat er gelebt. Leben und Sterben wiirdigte er nur
im Interesse seiner G-emeinden, und ist den Griechen ein
Grieche, den Juden ein Jude geworden. Er tragt noch
heute alien Missionaren die Fackel voran.
Wenn die Grundsatze eingehalten werden, die ich hier
kurz zu skizzieren versucht habe, werden in einzelnen
Fallen zwar noch immer schwere Gewissenskollisionen ein-
treten konnen, aber in der Hauptsache wird die Mission
vor ihnen bewahrt bleiben. Jene Kollisionen hat sie nicht
selbst geschaffen; sie sind eine Folge der Entwicklung
der Kirchen- und Staatengeschichte in Europa, und nie-
mand vermag sie durch einen Gedanken oder einen Ge-
waltakt zu beseitigen.
120 Z welter Band, erste Abteilung. Keden: IY.
m.
Von der Aufgabe und von dem Umfang der Mission
haben wir gesprochen, aber auch die Mittel der Mission
verdienen in der G-egenwart eine besondere Betrachtung.
Wir konnen drei Formen unterscheiden: 1. die direkte,
personliche Mission, 2. die literarische Mission und 3. die
indirekte Mission.
Heute, wie zu alien Zeiten, ist die direkte, personliche
Mission die Hauptsache, und zwar aus einem doppelten
Grunde: Erstlich weil es gilt, eine gottliche Botschaft zu
verkiindigen, die des Boten bedarf, und zweitens weil die
christliche Religion ein neues Leben in sich schlieflt, das
nur durch lebendige Menschen fortgepflanzt wird. Ist es
sehon schwierig, die Wissenschaft lediglich durch Biicher
fortzupflanzen, weil mit jeder Wahrheit ein Stiick eigen-
tumliches Leben verbunden ist, das nur an der Personlich-
keit des Lehrers wahrgenommen werden kann, so ist es
nahezu umnoglich, die Religion auf diesem Wege zu ver-
breiten. Immer bedarf es hier eines lebendigen Menschen,
genauer eines Zeugen, der in seiner ganzen Personlich-
keit das zum Ausdruck bringt, was er verkiindigt. Der
Missionar, der zu den fremden Volkern geht, mufi wie ein
Apostel vor sie treten, er muC iiberzeugt sein, einen gott-
lichen Auftrag zu haben und eine gottliche Botschaft zu
bringen; diese mufl sein ganzes Wesen ausfiillen. Der
Grlaube kommt aus der Predigt, d. h. aus dem Wort, wie
es entsteht, wenn man sich Auge in Auge blickt, und alle
die Eindriicke der Liebe, der Hingabe, der Selbstlosigkeit
gehoren dazu, damit eine Seele gewonnen wird. Der Apo
stel Paulus nennt sich den Vater der von ihm Bekehrten,
und sie nennt er seine Kinder. Das neue Verhaltnis, in
das sie zu Grott versetzt sind, stellt ihnen eine Fulle neuer
Aufgaben: Ohne eine stetige personliche Leitung geraten
sie bei allem guten Willen doch in Grefahr, den rechten
Weg zu verfehlen.
Grundsatze der evangelisch-protestantischen Mission.
Aber so gewiO das 1st, so wenig darf doch das andere
Mittel der Mission beiseite gelassen werden, welches ich
genannt habe — das literarische. Wilden oder halbwilden
Volkern gegeniiber ist es freilich niclit am Platze; doch ist
auch hier ein hingebendes Stadium der Sprache, der Reli
gion und der Sitten ein notwendiges Erfordernis der Mis
sion. Eben weil die christliche Religion nicht, wie gewisse
methodistische Missionare anzunehmen scheinen, wie ein
Bann und Zauber iiber die Menschen herfallt, sondern weil
sie die Menschheitsreligion ist, mufi sie jedem so verkiindet
werden, dafi sie seine berechtigte Eigenart erhebt und ver-
edelt. Das aber setzt voraus, dafi das fremde Volkstum
wirklich verstanden und liebevoll gewiirdigt wird. Unser
Allgem. evangelisch - protestantischer Missionsverein darf
ohne Selbstuberhebung behaupten, dafi er auf diese Seite
der Aufgabe sein Auge mit besonderer Scharfe richtet; aber
auch die anderen deutschen evangelischen Missionsvereine
haben diese Aufgabe nicht vernachlassigt, und, da sie fast
samtlich alter sind als der unsrige, blicken sie bereits auf
reichere Friichte. Wie viele Sprachen sind von Missionaren
zuerst aufgezeichnet und zu Schriffcsprachen erhoben worden,
welch umfassende Schatze in bezug auf Volkskunde und
Religionsgeschichte hat die Mission gesammelt! Wie oft
hat sie der Wissenschaft die Wege geebnet oder als Pfad-
nnderin gedient! Ja, es wird eine Zeit kommen, wo man
die Sprachen untergegangener Volker aus den Bibeliiber-
setzungen der Missionare schopfen, und wo man die Missions-
zeitschriften, die einst nur von den Stillen im Lande gelesen
worden sind, als wissenschaftliche Quellen verwerten wird!
Doch nicht diese Tatigkeit der Missionare hatte ich in
erster Linie im Auge, wenn ich von literarischer Mission
sprach, obgleich auch sie direkt fordernd sein kann; denn
indem sie Verstandnis schafft, schafft sie Gremeinschaft.
Was mir vor allem hier vorschwebt, ist die literarische
Missionstatigkeit bei solchen Volkern, die auf einer relativ
122 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
hohen Kulturstufe stelien und einer geschichtlichen und
wissenschaftlichen Darlegung zu folgen imstande sind.
Diesen Volkern, wie den Japanern, z. T. auch den Chinesen
und Mohamraedanern gegeniiber, kann man sich nicht auf
die Erweckungspredigt beschranken. Hier mufi vielmehr die
Mission mit dem ganzen Riistzeug der Greschichte und der
christlichen Religionsph.ilosoph.ie eintreten. Verheifiungsvolle
Anfange sind auch in dieser Hinsicht gemacht. Wiederum
darf ich sagen, dafi unser Verein sich diese Aufgabe be-
sonders angelegen sein laflt und in dem von mir schon in
einem anderen Zusammenhange genannten Missionar D.
Faber in China einen christlichen Apologeten von einzig-
artiger Begabung und Sachkunde besessen hat. Er sah in
der literarischen Wirksamkeit geradezu seine Lebensauf-
gabe und war iiberzeugt, dafi sie das notwendige und beste
Mittel sei, um in China Yorurteile zu entwurzeln, den Aber-
glauben zu zerstoren und die christliche Wahrheit als eine
Greistesmacht zu verbreiten. Auch die wissenschaffclich apo-
logetische Arbeit, welche der Verein in Japan geleistet hat
und noch leistet, ist von hoher Bedeutung. Aber, zu un-
serer eigenen Beschamung miissen wir es sagen, wie viel
bleibt noch zu tun! Jene Volker werden mit der materia-
listischen Literatur Europas uberschwemmt; sie erhalten
Jahr um Jahr im Original oder in Ubersetzungen Dutzende
von wissenschaftlichen Werken, die ihnen sagen oder zu
sagen scheinen, die christliche Religion habe in Europa
selbst ausgespielt und sei nur noch eine alte Reliquie oder
ein geschichtliches Symbol. Wie verschwindend gering ist
dem gegeniiber die Literatur, die eigens fur Japaner, Chi-
nesen oder Tiirken geschrieben ist, um ihnen die Wahrheit
und das Recht der christlichen Weltanschauung darzutun
und auf alle die Einwiirfe einzugehen, die sich bei ihnen
erheben. Mit Ubersetzungen deutscher und englischer apo-
logetischer Schriften allein ist es nicht getan; denn abge-
sehen davon, dafi wir selbst nur eine sehr beschrankte Zahl
Grundsatze der evangelisch-protestantisclien Mission. 123
brauchbarer AVerke besitzen, konnen nur solche Arbeiten
durchschlagend wirken, welche mit vollster Kenntnis der
eigentiimlichen Bediirfnisse jener Volker verfafit sind. Frei-
lich, auch sie werden noch immer etwas zu wiinschen iibrig
lassen. Jene Volker miissen letztlich ihre Apologeten selbst
hervorbringen. Der geborene Jude Paulus vermochte den
Griechen und Romern nicht alles das zu leisten, was ihnen
spater Hire christlichen Landsleute, ein Justin, ein Clemens
und ein Origenes geleistet haben. Von einem bestimmten
Punkte an ist der grofie Apostel den Griechen unverstand-
lich geblieben und sie ihm. Vollen Einblick in die Volks-
seele hat doch nur, wer selbst dem Volke angehort. Aber
das schliefit nicht aus, dafi wir europaische Theologen auch
mit unserer Wissenschaffc in die Missionsarbeit eintreten.
Unser Verein, zumal sein hochverehrter Prases, hat schon
seit Jahren in dieser Bichtung Arbeiter geworben, aber
fldie Ernte ist grofi und der Arbeiter sind wenige", mufi
er klagen. Ich selbst empfinde es als eine einzulosende
Schuld, seiner Aufforderung bisher nicht entsprochen zu
haben, und will mich nicht hinter die mangelnde Kenntnis
der besonderen Bediirfnisse verschanzen, obgleich sie eine
empnndliche Schranke bildet. Wenn wir einst an alien
unseren Hochschulen Lehrstuhle fur Missionskunde und
Religionswissenschaft haben, wird vielleicht manches besser
werden. Aber bis dahin konnen wir nicht warten. Schon
jetzt miissen die bescheidenen Anfange einer wissenschaft-
lichen und apologetisch-christlichen Literatur fur die fernen
Volker weiter gepflegt und verstarkt werden. Die Hand-
biicher unserer Naturwissenschaffc und Technik sind bereits
in ihren Handen; geschulte europaische Mechaniker unter-
richten in alien "Weltteilen ; Eisenbahnen und Strafien wer
den gebaut, — dies alles kann nicht zum wirklichen und
dauernden Segen gereichen, wenn wir die fremden Nationen
nicht in das Netzwerk unserer inneren Geschichte einzu-
kniipfen vermogen. Unsere innere Geschichte — sie ist
124 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: IV.
gegeben in der Familie, in dem Rechtsleben, in dem unbeug-
samen Pnichtgefuhl, in der aufopfernden Arbeit und in alle
dem, was nns ehrfurchtgebietend nnd ein sittliches Gut ist.
Damit bin ich zn dem letzten Mittel der christlichen
Mission iibergegangen, zu der indirekten Mission, und hier
ist es, wo ich. Sie alle aufrafen mochte, die Anwesenden
alle und insonderheit die Burger dieser groflen, herrlichen
Stadt, einzutreten in die Missionsarbeit. Ein jeder unter
uns? der hinausgeht in die Feme und seiner heimisehen
christlichen Giiter nicht vergifit, wirkt daselbst bauend,
wirkt als Missionar. Aber auch die, welche daheimbleiben,
arbeiten fur die Mission, wenn sie ehrenfest und treu, wenn
sie in christlichem Geiste in ihrem Berufe stehen; denn die
Erde ist heute ein einziger grofier Schauplatz, und mit
priifendem Blick wird von den Bekennern anderer Religi-
onen unser Handel und Wandel, unser ganzes Leben in
Europa verfolgt. Wenn sie den Eindruck gewinnen, hier
ist mehr und Besseres als bei uns, wenn wir ihnen impo-
nieren nicht nur durch unsere Kanonen, unsere Technik
und unsere verfeinerten Bediirfnisse, sondern auch durch
unseren Geist, unsere sittliche Kraft und unsere Menschen-
liebe, so ist alles gewonnen. Wenn sie aber erkennen
miissen, dafi unser Christentum und unsere Sittlichkeit Ge-
schwatz und Maskerade sind und sich unter ihrer Hiille
nur der ihnen wohlbekannte Egoismus sowie die rohe
Erwerbs- und Genuflsucht verbergen, so ist alle direkte
Missionsarbeit nahezu verschwendet. Mochten sich doch
namentlich die Deutschen, welche sich in fremden Landern
niederlassen , klar machen, welche Verantwortung sie auf
sich laden, wenn sie ein ungebundenes Leben fuhren und
sich von Christentum und Sittlichkeit emanzipieren. Ge-
wifi, sie ziehen hinaus, um zu erwerben, und Handel, Er-
werb und Verdienst unterliegen ihren eigenen strengen
Gesetzen, die der einzelne nicht willkurlich andera kann.
Aber niemand wird behaupten, dafi diese Gesetze unver-
Grundsatze der evangelisch-protestantisclien Mission. 125
traglich seien mit wahrer Humanitat, mit Menschenliebe
und Sittlichkeit. Sofern es aber allerdings bedenklich 1st,
einseitig oder vorherrschend durch den Handel zu fremden
Volkern in Beziehung zu treten, mufl es unsere Sorge sein,
die Elemente drauflen zu verstarken, deren Absicht nicht
blofi auf G-eldverdienen und schleunige Heimkehr mit dem
Verdienst gerichtet ist. Ich darf mich hier wiederum dem
anschliefien, was der Nationalokonom, Prof. Hathgen, aus-
gefuhrt hat: ^Mit jedem wirklich gebildeten Beamten,"
sagt er, wmit jedem Forscher, der zu langerem Aufenthalt
in uberseeische Q-ebiete entsandt wird, mit jedem Arzt,
jeder Diakonissin, jedem Lehrer, die draufien mit sittlichem
Ernst ihrem Berufe nachgenen, verbreiten wir nicht bloB
deutsches Wesen und deutsche Geistesarbeit, wir verstarken
auch die Kulturzusammenhange, an deren Erhaltung alles
liegt. Yor allem handelt es sich um die Pnege der Insti-
tutionen, auf welchen der geistliche und sittliche Zusammen-
hang in erster Linie beruht, um Kirche und Schule;" niit
ihnen im engsten Zusarn m enhang , ja, vor ihnen, um die
Familie und die Frau. Es ist die wichtigste indirekte
Arbeit fur die Mission, dafi die eigenen Volksgenossen im
fremden Lande moglichst zahlreich in einem festen Familien-
verbande stehen, und daC sie ihre Kirche und ihre Schule
haben. ^Unsere Neuheit in der Weltpolitik ist auch daran
kenntlich, wie wenig wir im Vergleich mit anderen Volkern
in dieser Bichtung bisher geleistet haben, wenn man etwa
in Tunis oder Tripolis und in der ganzen Levante die
franzosischen und italienischen Schulen sieht, wenn man
in der ganzen Welt britischen kirchlichen Organisationen
begegnet. Der genialste Kolonialpolitiker unseres Jahr-
hunderts Wakefield ist nicht miide geworden, die Aus-
dehnung der englischen Kirchenorganisation auf alle eng-
lischen Kolonien zu fordern, und er und seine Freunde
haben das durchgefuhrt. Englisches Kirchentum ist gewifi
manchem in seiner aufieren Erscheinung wenig sympathisch,
126 Z welter Band, erste Abteihing. Eeden: IV.
aber eine gewaltige sittigende Kraft fiber ihre Volksgenossen
wird man der englisclien Kirche iiber See nicht abstreiten
dlirfen. Die reiclien Krafte unserer deutsclien evangelischen
Kirchen konnen und miissen ganz anders als bisher der
Gemeindebildung in iiberseeischen Grebieten nutzbar ge-
macht werden." Unser Verein hat das von Anfang an er-
kannt und ist danach verfahren. Er ist sich wohl bewuBt,
dafi durch diese Organisationen auch eigentiimliclie Kon-
flikte zwischen der direkten und der indirekten Mission
entstehen, die nicht immer leicht zu schlichten sind. Aber
doch ist er dariiber nicht im Zweifel gewesen, dafi die
Sorge fur Kirche, Schule und — nicht zu vergessen —
Krankenhaus bei den Landsleuten im Ausland auch in sein
Gebiet fallt, und daB die Starkung ihres Familienlebens
aufierordentlich viel bedeutet. Zudem leiten Schule und
Krankenhaus von den Landsleuten ohne weiteres zur di
rekten Mission iiber, und die ganze Sphare, die durch sie
im Vereine mit der Familie geschaffen wird, mufi zu einer
eindrucksvollen direkten Predigt werden. Die Frau, der
Lehrer, der Arzt — sie sollen gleichsam als Zwischenglieder
zwischen dem Missionar und dem Kaufmann stehen. So
soil im kleinen das heimische Gremeinwesen im fremden
Lande bliihen und seine sittigenden "Wirkungen auf die
weitere Umgebung ausiiben.
IV.
Dies sind Grundsatze, nach welchen unser Missions-
verein sein Werk treiben will und treibt. Er ist ein kleiner
Verein, und er hat im Laufe der sechzehn Jahre, die er
besteht, viel Schweres durchmachen und grofie Hemmungen
von innen und von aufien iiberwinden miissen. Er ist ein
kleiner Verein, und doch hat er das Recht, sich Allgemeiner
evangelisch-protestantischer Missionsverein zu nennen; denn
er richtet sich mit seiner Aufforderung zur Teilnahme an
alle evangelischen deutschen Christen, unbeschadet. ihres
Grundsatze der evangelisch-protestantischen Mission. 127
besonderen theologischen Standpunkts, und er hat seine
Aufgabe von vornherein in der umfassendsten "Weise an-
gelegt: Einzelbekehrung , Sammhmg von Gremeinden, lite-
rarisch-apologetische Arbeit und Pflege der Diaspora sollen
in ihm zusammenwirken. Er will auch nicht die heimischen
kirchlichen und theologisclien Verhaltnisse auf ein neues
Feld einfach iibertragen oder einen bestimmten konfessio-
nellen Typus fortpflanzen, sondern er will das Evangelium
verkiindigen und den Samen des gottlichen Werks aus-
streuen. Er iiberlafit es, wie richtig noch jiingst gesagt
worden ist , der Entwicklung und Fuhrung Grottes , in
welchen kirchlichen Formen sich das evangelische Wesen,
entsprechend der Eigenart der betrefFenden Volker, aus-
pragen wird, und er hofft auf diese Weise die wanre, die
geistige Union der christlichen Kirchen zu fordern. Denn —
wir treiben Mission nicht nur um der Volker willen, deren
Schuldner wir sind, sondern auch urn unsrer selbst willen.
Wie die Mission auf dem Boden der evangelischen Kirchen
in dem Momente entstanden ist, wo diese sich aus dem
Schlafe der Orthodoxie erhoben hat und durch den Pietis-
mus zu einem neuen Leben erweckt wurde, so steht auch
heute noch innere Lebendigkeit des heimischen Christen-
tums und Missionssinn in fruchtbarer Wechselwirkung.
Ein Doppeltes erwarten wir von unsrer Missionsarbeit fur
uns selbst und diirfen es mit Zuversicht erwarten. Erst-
lich, dafi uns die Griiter teurer werden, fur deren Verbrei-
tung wir sorgen, zweitens, dafi wir immer sicherer die
Hauptsache erkennen und so iiber das kirchliche Partei-
wesen, den Streit und Hader im eigenen Lager, erhoben
werden. Es ist um die Ausspendung geistiger Griiter eine
eigentiimliche Sache. Je freigebiger wir sie austeilen, um
so sicherer werden sie unser Eigentum. Das weiC jeder
Lehrer, der mit Ernst und Begeisterung unterrichtet. Im
hochsten Sinne gilt das aber von den geistlichen Griitern,
weil sie alle in der Liebe wurzeln und sich in der Tat
128 Z welter Band, erste Abteilung. Beden: IV.
offenbaren. Die Asketen und Monche haben Unrecht —
es gibt keine einzige christliche Tugend , die in der Be-
schaulichkeit geiibt werden kann, und kein einziges sitt-
liches Gut, das ins Schweifituch gekniipffc werden darf.
Umgekehrt aber wird aus jeder Betatigung auch die Freude
an dem Gut wachsen und sein Besitz fester werden. Die
Geschichte der Wirkungen der evangelischen Mission auf
das heirnische Christentum ist noch von niemandem ge-
schrieben worden, und vielleicht kann sie iiberhaupt nicht
gesckrieben werden; aber daft diese Wirkungen vorhanden
sind, und dafi reiche Strome des Segens aus der Mission
zuriickgestromt sind, ist offenbar. Kann man doch manche
Kirchen, wie die schottische oder die Easier, recht eigent-
lich als Missionskirchen bezeicnnen : Die Mission hat
inrem eigenen innern Leben das Geprage gegeben. Und
dann das Zweite — nicht ungebundener sollen wir in un-
serem Christentum werden, aber freier, nicht verschwom-
mener, aber weitherziger , nicht schwacher, aber fried-
fertiger, nicht armer, aber einfacher. Dazu soil uns auch
die Missionsarbeit verhelfen. Angesichts der Note, wie sie
in Armenien bestehen, angesichts der grauenvollen Bar-
barei, deren Ausbriiche wir in China erleben, angesichts
der ganzen Last von Aberglauben, Irrtum, Gewalttat, die
auf Millionen von Menschen lastet — wenn wir ihnen
gegeniiber es nicht lernen, die Hauptsache zu erkennen,
unter uns Frieden zu halten und in Gemeinsamkeit zu
arbeiten, auf welche Notigungen warten wir noch? Starkere
Mahnungen kann es nicht geben; achten wir also auf die
Zeichen der Zeit! Moge es unserem Verein beschieden sein,
mitzuarbeiten, dafi die Deutschen auch als Christen ihren
Weltberuf erkennen, und erkennen, wie sie ihn treiben
sollen. Aufwarts fuhrt die Geschichte der Menschheitj
sehen wir zu, dafi wir nicht zuriickbleiben. Soli deo gloria!
ADOLF HAENACK • REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND . ERSTE ABTEILUNG
REDEN: V
ZUR GEGENWARTIGEN LAGE DES
PROTESTANTISMUS
Vortrag
gehalten am 6. Okt. 1896 in einem kleinenKreise von Freunden zu Eisenaclu
Erschienen als Nr. 25 der ,,Hefte zur Christlichen Welt" bei J. C. B. Monr
(Paul Siebeck) in Tubingen.
Vorwort.
Urspriinglich war es nicht meine Absicht, diesen Vor-
trag, der am 6. Oktober in Eisenach in einem Kreise von
Freunden gehalten worden ist, zu veroffentlichen. Aber
nachdem er auf Grund unvollstandiger Referate die heftig-
sten Angriffe erlebt hat, scheint es mir urn der Sache
willen Pflicht zu sein, ihn der Offentlichkeit zu iibergeben.
Der Reichsbote (10. Oktober) hat ihm ,,radikale Verwerfung
des Chris tentums, des christlichen Grottesglaubens und G-ott-
vertrauens, die sich auf die geschichtliche Offenbarungs-
tatsache Grottes in Christo griinden" nachgesagt, und er
hat seinen Lesern nahegelegt zu glauben, dafi ich alles
das leugne, was er in einem Eeferat (von funfzig Zeilen!)
iiber den Vortrag nicht gefunden hat. Auf eine solche Pole-
mik zu erwidern, wird mir niemand zumuten. Sie zeigt
nur, dafi ich in meinem Vortrage die Art, in der heute das
,,Bekenntnis" vertreten wird, noch viel zu milde charak-
terisiert habe.
Ich habe den Vortrag acht Tage, nachdem er gehalten
war, wesentlich aus dem Gredachtnis niederschreiben miissen
und mich dabei bemuht, ihn vor iibelwollendem Verstand-
nis zu schiitzen, ohne seinen Inhalt irgendwo zu andern.
Nicht uberfliissig wird es sein, daran zu erinnern, dafi ich
nur zur Lage des Protestantismus habe sprechen wollen.
Diese Lage umfaCt noch andre schwere Probleme, die ich
absichtlich beiseite gelassen habe.
9*
Ich gedenke nicht von der G-egenwart und Zukunft
unsrer protestantischen Landeskirchen zu sprechen, sondern
von der Gregenwart und Zukunft des Protestantismus. Daft
dabei der Zustand der protestantischen Landeskirchen ins
Auge gefafit werden mufi, versteht sich von selbst. Aber
— um gleich meine Meinung zu sagen — ich gehore nicht
zu denen, die unsre protestantischen Landeskirchen in einem
Zustande der Zersetzung sehen und meinen, dafi sie in
Balde untergehen werden oder doch einer gewaltigen Krisis
entgegensteuern. Ich glaube umgekehrt, dafi sie sich zur
Zeit in einer Epoche kraftiger Konsolidierung befinden, daJS
sich diese noch verstarken wird, und dafi somit irgend
welche Anzeichen des Untergangs oder der Zersetzung nicht
vorhanden sind. So wie sie sich teils von ihrem Ursprung
her, teils in besonders kraftiger Weise in unserm Jahr-
hundert an den Staat, die Gresellschaft, den Patriotismus,
die Uberlieferung, die Autoritaten und die populare reli-
giose Stimmung angeschmiegt haben, sind sie sehr feste
und schwer angreif bare Gebilde geworden. Sie haben sich
in der gegenwartigen Zeitepoche eingerichtet, wie sich
einst das alte Christentum im romischen Reich eingerichtet
hat, und nichts deutet darauf hin, dafi sie eine kiirzere
Dauer haben sollten als unsre Epoche. Sind doch um die
Wette E/egierung und Gresellschaft, frommer Sinn und In-
differenz, in gewisser "Weise Freund und Feind bemiiht,
den Kirchen auf der Entwicklungslinie, auf der sie sich
befinden, zu Hilfe zu kommen, damit sie immer mehr das
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 133
werden, was die natiirliche Entwicklung der Dinge sie
werden lafit.
Aber sehr anders gestaltet sich freilicli der Ausblick,
wenn wir statt auf die protestantischen Landeskirchen auf
den Protestantisinus sehen. Die alte Firma ,,protestantisch"
ist allerdings noch immer vorhanden; aber Firmen tauschen
bekanntlich in der G-eschichte. Die weltgeschichtliche Tau-
schung der Firma ,,apostolischa hat die Reformation am
Katholizismus aufgedeckt. Aber sind die protestantischen
Kirchen vielleicht nur noch in dem Mafie protestantisch ,
wie die katholischen apostolisch? Jedenfalls entscheiden die
Worte nicht, nnd eine Garantie dafiir, daB es dem Pro-
testantismus nicht ebenso geht wie alien Konfessionen —
dafi sie namlich teils durch Beharrung, teils durch all-
mahliche Umformungen ihren Charakter verandern — ist
nicht gegeben.
II.
Was war der alte Protestantismus ? Was sind seino
wesentlichen Merkmale?
Eine Kirche, die ausschlieClich auf den aus der hei-
ligen Schrift gewonnenen Articuli fidei ruhte, die Kenntnis
und das Verstandnis derselben alien ihren Gliedern zugang-
lich machen wollte, und die iiberzeugt war, dafi sie alles
Wesentliche getan habe, wenn sie den richtigen Bibel-
glauben verkiindigte.
Im Protestantismus besteht also ein festes, ja aus-
schlieBliches Verhaltnis zwischen Theologie und Kirche.
Die Grlaubenslehre, die im Grunde identisch ist mit dem
Bekenntnis und der Theologia sacra, tragt die Kirche. ISTur
diese Theologia sacra hat die Kirche zu predigen und zu
lehren, alles iibrige wird sich dann von selbst finden. Eifrig;
wachte man gegeniiber j,Schwarmgeistern" und ahnlichen
Leuten, dafi nicht ein Mehreres geschah. Ein strenger
Puritanismus in der Religion und der religiosen Padagogie
134 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: V.
war die Folge. Nur diese bewufite und gewollte Einseitig-
keit schuf die Kraft, um das Grofite zu leisten, was in der
Geschichte geleistet werden kann, eine alte, mit tausend
Wurzeln im Boden haftende Religion zu reformieren. Das
Wort allein, und darum die Lehre allein, und der Glaube
allein! Zugeschnitten war diese ^Lehre" auf einen zwar
tief bewegten, aber einformigen Seelenzustand und auf ein
gedriicktes, immerfort gefahrdetes irdisches Dasein. Dafi
das gepredigte Wort Kraft und Leben wird, ist — das
war eine Grundiiberzeugung — allein das Werk des hei-
ligen Geistes, dem man vertrauen und den man erwarten
soil. Der Kirchenglaube mufi aber als JSTotitia, Assensus und
Fiducia in vollig gleichartiger Weise personlicher Besitz
jedes Einzelnen geworden sein, und ein jeder soil sich von
nichts anderm nahren als von dem Wort, dessen Aus-
gestaltung die Theologia sacra ist.
Diese Theologia sacra im Sinne einer unfehlbaren Bibel-
lehre hat sich aufgelost. Doch lassen Sie mich mit ein paar
Worten des Ursprungs der ?,Theologie" gedenken.
Sie war nicht von Anfang an vorhanden. Urspriing-
lich gab es nur Prophetie und pneumatisches Lehren. Wer
im Namen der Religion eine Erkenntnis vortrug oder eine
religiose Anweisung gab, tat das vom Geiste getrieben, und
die ihn horten, waren uberzeugt, dafi er aus dem Antrieb
des Geistes redete. Aber diese Periode dauerte nicht lange.
Die Prophetie und das pneumatische Lehren horten auf,
und an ihre Stelle trat die verstandesmafiige , nach be-
stimmten Regeln arbeitende Theologie, die in bezug auf
das Alte Testament schon langst vorbereitet war. Diese
Theologie war aber doch Theologia sacra; denn sie hatte
einen heiligen Text — nun einen doppelten, den des Alten
und Neuen Testaments, zur ausschliefilichen Unterlage, und
man behauptete, daJ3 nur ein geheiligter Verstand ihn aus-
zulegen vermag. Doch iiber diesen letzteren Punkt blieb
ein Schwanken bestehen. Dafi bereits der natiirliche Ver-
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. ^35
stand den rechten Sinn der heiligen Schrift, mindestens bis
zu einem gewissen Grade erkennen konne, wurde doch auch
behauptet, und dafi man ein MaU von ,,weltlicher" Wissen-
schaft fur die Auslegung no tig habe, konnte nicht leicht
verkannt werden. Aber eben deshalb wurde die Theolosrie
o
von Anfang an mit Mifitrauen in der Kirche betrachtet.
Bereits der erste grofie Theologe, Origenes, hat das er-
fahren miissen. Ein 7,weltliches" Element war notwendig
in die Theologie aufgenommen, wenn auch seine Ab-
grenzung gegeniiber dem Heiligen, ja iiberhaupt sein Exi-
stenzrecht zweifelhaffc blieb.
In der Kirche der Reformation, dem alten Protestan
tismus, anderte sich das nicht wesentlich. Alles Hei-
lige wird noch ausschlieMcher, als es im Katholizismus
geschehen war, in die Urkunde geschoben, und eben des
halb bleibt die Wissenschaft, die sich mit ihr beschaftigt,
Theologia sacra. Auf diese stiitzte sich der Protestantis
mus noch entschiedner als der Katholizismus, der sich eine
viel kompliziertere , aber dem Leben und seinen Bedurf-
nissen abgelauschte Grrundlage geschafien hat. Der Doppel-
charakter der Theologie blieb iibrigens ungeklart. Einerseits
sprach man so, als sei der ,,reine Verstand" der heiligen
Schrift eine Sache natiirlieher Vernunft und gewissenhafter
Erkenntnis, andrerseits sollte doch nur der den Schriftsinn
treffen konnen, der vom heiligen Geiste erleuchtet war. Als
die "Wiedertaufer die reformatorische Theologia sacra in
pneumatische Intuition (die nfortgesetzte Offenbarung", das
ninnere Licht") und ,,naturliche Wissenschafb" zu spalten
versuchten, wurden sie abgewiesen und verdammt.
Dennoch loste sich die Theologia als sacra (als ein ab
solutes gottliches, weil aus dem inspirierten Bibelkodex ge-
schopftes Wissen) allmahhch auf. Wie das geschehen ist,
das darzulegen wiirde zu weit fiihren. Erst loste sich das
Kirchenrecht ab und ging in die Form einer rein welt-
lichen Disziplin iiber; dann folgte die Kirchengeschichte:
136 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: V.
es wurde anerkannt, im Prinzip allgemein in den protestan-
tischen Kirchen anerkannt, dafl wer semen Standort in der
Greschichte nimmt, ihn nicht zugleich in dem jeweiligen
Zustande des Staats oder der Kirche nehmen kann; es
wurde eine allgemeine Forderung, die Greschiclite der Kirclie
unparteiisch zu erzahlen ohne R/iicksicht auf die vermeint-
lichen oder wirklichen G-rundlagen und Anspriiclie einer
Partikularkirche. Dann folgte der entscheidendste Schritt:
das Verstandnis und die Auslegung des Alten und Neuen
Testaments darf sich weder durch ein ,,Bekenntnis" etwas
vorschreiben lassen, noch darf sie sich um der Heiligkeit
des Textes willen andrer Methoden bedienen, als der all
gemein anerkannten philologischen und historischen. Die
Revolution, die dieser Grundsatz in der Theologie hervor-
gerufen hat, zittert noch in ihrer gesamten Arbeit nach.
Aber im Prinzip wird er zur Zeit nur noch selten im Pro-
testantismus bestritten; selbst die bestreiten ihn in der
Hegel im Prinzip nicht, die seine Durchfuhrung im ein-
zelnen als sakrilegisch brandmarken.
Wie ist das gekommen? "Wer hat das aufgebracht?
Niemand und alle! Es ist die Folge der Entstehung des
historischen Sinnes, die keine geringere Umwalzung in der
Greschichte der Menschheit bedeutet als die naturwissen-
schaftlichen Entdeckungen. Der Begriff der Wissenschaft
ist ein andrer geworden; wir wissen es alle — wer der
Wissenschaft die Ergebnisse, zu denen sie gelangen soil,
vorschreibt, der lost sie damit auf. Und das, was hier
hervorgebrochen ist, kann nicht mehr gehemmt werden.
,,Die Wahrheit ist wie ein Quellwasser, welchem man ent-
weder seinen Lauf lassen oder gewartig sein mufi, daB es
anderweit ausbreche, wo es uns am wenigsten gelegen ist."
Dafi auch seltsame Uberstiirzungen nicht fehlen, wird nie-
manden wundern, der den Lauf menschlicher Dinge kennt.
So wird in einer jiingst erschienenen Abhandlung: rDas
Dogma vom Neuen Testament" alles Ernstes verlangt, man
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 137
solle jedes Werturteil aus der Betrachtung der Urges cL.ich.te
des Christentums ausschliefien, also alles auf eine Flaclie
nebeneinander stellen. Aber aucli in dieser Forderung,
die die (reschichtschreibung der Kritiklosigkeit iiberant-
wortet und auf eine ganz niedrige Stufe zuriickfiihren
wiirde, zeigt sich das gewissenhafte Streben, die wissen-
schaftliche Erkenntnis rein zu erhalten und ihr nichts
Fremdes beizumischen. Dafi iibrigens die Emanzipation
der exegetischen und historischen neutestarnentlichen For-
schung zu immer radikaleren Ergebnissen gefiihrt hat,
kann kein Einsichtiger behaupten. Das Gregenteil ist der
Fall. Nicht nur die Fragen des Ursprungs und der Echtheit
neutestamentlicher Schriften werden mit gro'Berer Vorsicht
und hoherm Respekt gegenuber der Tradition behandelt
als friiher, sondern auch die Eigenart der christlichen Re
ligion und die Eigenart religiosen Lebens iiberhaupt wird
objektiver und scnarfer bestimmt als friiher. Auch ist dar-
iiber kein Zweifel: nur der vermag das Bibelwort wirklich.
zu verstehen, der von seinem Greiste innerlicli beriihrt ist.
Aber freilich — es gibt keine heilige Uberlieferung, vor
der die geschichtliche Forschung einfach kapituliert.
ni.
Also ist es die Wissenschaft gewesen, die die Theo-
logie im alten Sinne des Worts gesprengt und ihr die
..Heiligkeit" genommen hat? Ja — aber sie ist nur der
eine Faktor in diesem Prozefi. Der andre ist in der Kirche
selbst zu suchen, und die, die am lautesten iiber den Ver-
lust der Theologia sacra klagen, sind an ihrer Auflosung
sehr stark beteiligt. Parallel namlich mit der Umbildung
der Theologie geht seit Jahrzehnten eine Umbildung des
Verhaltnisses von Theologie und Kirche. Seit Schleier-
machers Darlegungen iiber das Wesen der Religion und
der Kirche ist in alien Richtungen der deutschen evange-
lischen Kirchen das altprotestantische, ausschliefiliche Ver-
138 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: V.
haltnis von Tlieologie und Kirche gesprengt. Mcht nur
gegen dogmatische Systeme ist man skeptisch und , was
mehr bedeutet, indifferent geworden — das Wort: ndie
Systeme sind das Malheur der Wissenschaften" wird in be-
zug auf die Dogmatik in alien kirchlichen Lagern unter-
schrieben — , sondern auch gegen die Tlieologie als Lehre
nnd geschichtliche Erkenntnis iiberhaupt herrscht eine Ab-
neigung und Greringschatzung, in der hervorragende Fiihrer
der verschiedensten kirchlichen Richtungen zusammen-
stimmen. Einst waren im Protestantismus die Theologen
die Schiedsrichter in alien kirchlichen Fragen, heute sitzt
man nur noch iiber sie zu Grericht. Einst herrschte die
Theologie unbedingt in der Kirche; heute wird sie zuriick-
geschoben oder ihre Arbeit als eine Quantite negligeable,
als unfruchtbar und unpraktisch fur den kirchlichen Dienst
bezeichnet. Das gilt keineswegs nur von der sogenannten
modernen Theologie. Dafl auf die Theologie „ iiberhaupt
nicht soviel ankommt", ist ein Satz, der mir, freilich hau-
figer leise geflustert als laut proklamiert, in Wort und
Schrift unzahlige Male entgegengebracht worden ist. Doch
werden die Bemiihungen der Theologieprofessoren vom
Standpunkt der „ Kirche" allmahlich immer offner als iiber-
flussig und storend bezeichnet. ,,Undogmatisches Christen-
tum" oder Liebestatigkeit oder irgend etwas andres, das
man noch nicht kennt, soil an die Stelle treten. Hit der
Theologie ist nichts mehr zu erreichen; sie stort nur die
lebendige Verwertung der Krafte der Religion. Ich meine
diese TJberzeugung, wenn auch in sehr verschiedner Weise,
sowohl aus dem Reichsboten wie aus den kraftigen Pre-
digten Naumanns und den ernsten Ratschlagen von So-
dens herauszuhoren.
Ich urteile nicht, sondern ich suche einen Tatbestand,
so wie er vorliegt, darzustellen. Dafi dieser Zustand eine
notwendige Reaktion ist gegenuber jener altprotestantischen
Einseitigkeit, Lehre und Religion ausschliefilich miteinander
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 139
zu verbinden, ist gewifi, und dafi hinter der relativen GHeich-
gliltigkeit gegen die Theologie auch das Bestreben wirksam
ist, die Religion aus dem Intellektualismus herauszufuhren
und ihren verschiednen Kraften und Ausdrucksformen ge-
recliter zu werden, ist unverkennbar.
Aber — wendet man ein — wie darf man von Mcht-
achtung der Theologie in einem Zeitalter sprechen, das
den Ruf: R/iickkehr zum Bekenntnis, so laut und sturmisch
erschallen lafit, und wie kann man sich iiber den Mangel
an schuldigem E/espekt vor der Theologie beklagen in einer
Epoche, in der ein so energischer Theologe wie Ritschl
gewirkt und eine so allgemeine Beachtung gefunden hat?
Was den ersten Einwurf betriift, so werden wir iiber
ihn sofort ausfuhrlicher zu reden haben; was aber den
zweiten anlangt, so ist es richtig, dafi in Ritschls Theo
logie das altprotestantische doktrinare Element kraftig
hervortritt. In dieser Hinsicht ist er bis auf weiteres der
letzte lutherische Kirchenvater; denn seine Eigenart be-
stand darin, dafi er die beiden Elemente des Protestantis
mus, das doktrinare und das originalreligiose , verstarkt
und in enger Yerbindung gehalten hat. Aber wie er in
dieser Hinsicht eine Ausnahme bildet, so zeigte auch die
Aufnahme seiner theologischen Arbeit, dafi der Protestan
tismus fur diese seine Haltung keine Sympathie und kein
Verstandnis mehr besafi. Nur einige altlutherische Theo-
logen von striktester und daher undiplomatischer Obser-
vanz erkannten die altprotestantische Haltung seiner Lehre
dankbar an; die iibrigen — von seinen Schiilern abgesehen
— fiihlten sich von seinen energischen theologischen An-
spriichen vielleicht noch mehr abgestofien als von einzelnen
bedenklichen Lehren. Dafi er ganz und gar Theologe war
und von der Theologie aus Vorschriften zu geben wagte,
dafi ihm jeder Zug des Traditionalisten, des Liturgikers,
des Yirtuosen, der mit sich reden lafit, des Latitudinariers,
der andre reden lafit, des Kirchenpolitikers , der mit in-
140 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: V.
direkten Mitteln arbeitet, fehlte — das war das Befremd-
lichste nnd Anstofiigste an dieser kraffcvollen Personlichkeit.
Die Aufnahme, die Ritsehl, der lutherische Theologe,
gefunden hat, ist also nur em neuer Beleg fur die Wahr-
nehmung, dafi die Schatzung der Theologie in der Kirche
reifiend abnimmt. Wahrend sich die Theologie den An-
spriichen der allgemeinen Wissenschaft unterwarf, hat sich
teils infolge hiervon, teils von ganz andern Kraften bestimmt
die Kirche von der Theologie getrennt oder doch das aus-
schliefiliche Verhaltnis von Theologie nnd Kirche gesprengt.
IV.
Welches sind diese „ andern Krafte"? Man kann sie in
einem Worte zusammenfassen : es ist die fortschreitende
Katholisierung nnsrer protestantischen Landeskirchen. Ich
will versuchen, ans dem ungeheueren und weitschichtigen
Material, das for die Begriindung dieser Behauptung zn
Grebote steht, einiges herauszugreifen. Dabei wird anch
deutlich werden, in welchem Sinne das Wort ^Katholi-
sierung" hier verstanden ist.
Allem zuvor hat man den Finger auf den Kirchenbe-
griff zu legen. Der evangelische Kirchenbegriff ist nahezu
verschwunden , und wer an ihn im praktischen Leben zu
erinnern wagt, wird als unpraktischer Traumer verschrieen.
Die Mehrzahl unsrer einfluBreichen Kirchenzeitungen , zu
denen auch ein paar politische Zeitungen zu rechnen sind,
arbeitet mit einem katholischen Begriif der Kirche. Ich
lese seit acht Jahren regelmaCig den Reichsboten und kann
mich nicht erinnern, unter den unzahligen Ausfuhrungen
uber die ?,Kirche" auch nur ein einziges Mai einer Stelle
begegnet zu sein, in der der siebente Artikel der Augs-
burgischen Konfession zu seinem vollen Hechte gekommen
ware. Dagegen wird in der Regel einfach so gesprochenr
als sei die Kirche Jesu Christi das kirchliche Institut mit
seineii Majoritaten, Lehrordnungen und Ausstattungen —
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus.
solange es im Sinne der Kirchenzeitungen arbeitet. Un-
bedenklich werden auf dieses Institut alle Verheifiungen
Christ! iibertragen. Ein Unterscliied zwischen der Kirche
des Grlaubens und der Landeskirclie wird kaum inehr ge-
macht, und alle Ordnungen und Fixierungen der Landes
kirclie, die den Majoritaten genehm sind, werden unter den
Schutz und die Autoritat des Heiligen gestellt. ?,Die Kirche
spricht", ndie Kirche verlangt" — diese "Wendungen werden
wie dem Staate, so Andersdenkenden gegeniiber in einem
Sinne gebraucht, als handle sich's um die Stimme Gottes
gegeniiber der Stimme der "Welt, wahrend es sich sehr
haufig nur um die Wiinsche kurzsichtiger Majoritaten
handelt und zugleich um Fragen, in denen der auf christ-
licher Kultur erwachsene Staat eine sehr viel sichrere Biirg-
schaft bietet. Dieser Prozefi der Katholisierung des evan-
gelischen Kirchenbegriffs vollzieht sich so zielsicher und
siegreich und mit so elementarer Qewalt, dafi die Kirchen-
regierungen augenscheinlich groBe Muhe haben, sich ihm
zu widersetzen. Sie zensurieren ab und zu diese oder jene
nlrrlehre" mit der Umsicht und Weisheit, die eine lange
kirchliche Erfahrung verleiht; aber sie sind fast machtlos
gegeniiber der tiefgreifenden Umbildung des Kirchenbegriffs,
die sich unter ihren Augen vollzieht, weil sie allmahlich
die Autoritat eines neuen Dogmas gewinnt und sich un-
trennbar mit der Religion der Majoritat der Frommen zu
verbinden scheint, die jedes Kirchenregiment respektieren
mufi. DaB wir Evangelische mit diesem katholischen
Kirchenbegriff, der die Kirche des Grlaubens und die em-
pirische Kirche identifiziert, allmahlich auch alle Folgen
des katholischen Kirchenbegriffs mitbekommen — den
Fanatismus, die Herrschsucht, die Ungeduld, die Ver-
folgungssucht, die kirchliche Uniform, die kirchliche Polizei
— liegt auf der Hand und kiindigt sich schon an. Nicht
G-ott der Herr baut sich ja innerhalb der Landeskirchen
seine Kirche der Grlaubigen, sondern die Majoritaten miissen
142 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: V.
sie bauen und tragen die ganze Verantwortung! Da kann
sich niemand wundern, wenn sie unter der Wucht dieser
Aufgabe keinen Mut, keine freudige Zuversicht, keine Ge-
duld mehr besitzen, sondern scheltend und jammernd,
sch.mah.eiid und verfolgend, politisierend und alle Machte
der Welt in Bewegung setzend ihr saures Tagewerk ab-
arbeiten. Selbst die Sprache hat fur jeden Kenner bereits
wieder den Ton Cyprians und der mittelalterlichen Polemiker
erreicht, und der Appell an die Gewalt, der Schrei nach
ITnterdriickung aller Andersdenkenden in der Form der
^Kirehenzucht" ist sehr begreiflich — noch ist nicht abzu-
sehen, wie weit er gehen und ob der Staat ihm etwa gar
seinen Arm leihen wird.
Die Katholisierung des Kirchenbegriffs ist die starkste
Wurzel der tiefgreifenden Umbildungen, die der Protestantis-
mus im neunzehnten Jahrhundert erlebt. Aber mit selbst-
standiger Kraft setzen sich einige ihrer wichtigsten Folge-
erscheinungen durch. Hier ist vor allem die Stellung zum
Bekenntnis zu nennen. Es wurde oben bemerkt, dafi in
den evangelischen Kirchen der G-egenwart die Theologie
zuriickgeschoben wird, weil man nach einer breiteren Basis
sucht und ungestort sein will. Um so lebhafter wird die
Autoritat des Bekenntnisses gefordert. Aber in welchem
Sinne? In demselben Sinne, in dem die katholische Kirche
die Respektierung der Tradition neben der Schriffc verlangt.
In der katholischen Kirche ist die Tradition in erster Linie
Rechtsordnung, die zum Gehorsam und zu Devotion ver-
pnichtet, nicht sowohl Lehre, als die bestimmte, irreformable
Form des Kirchendaseins selbst. Der alte Protestantismus
aber, so ernst er es mit dem Bekenntnis nahm, hat doch
nie vergessen konnen, dafi das Bekenntnis Zusammenfassung
des Heilsglaubens ist, lediglich fur den Glauben besteht
und immerfort gewartig sein mufi, sich aus dem besser
verstandnen Worte Gottes berichtigen zu lassen. "Wer dem
gegeniiber das Bekenntnis, sei es nun das streng Lutherische,
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 143
sei es irgend ein Exzerpt aus ihrn, als irreformable Rechts-
ordnung aufrichtet und allem zuvor verlangt, da£ man sich
Him unterwirft, 3 a in solcher Unterwerfung die Vorbe-
dingung evangelischer Christlichkeit sieht, der denkt in
diesem Punkt katholisch. Aber wie weit sind wir auf dieser
Linie schon vorgesckritten! Die geistige Aneignung und
Vertretung der gesamten sproden altprotestantischen Lehre
wird eigentlich niemandem mekr zugemutet — soweit man
naeh den offentlichen Kundgebungen schliefien kann, ist
die Beschaftigung mit den Bekenntnisschriften eine hochst
geringe; Kirchenzeitungen und Manner, die sich for ortho
dox halten, lassen sich grobe Verstofie gegen die alte Kirchen-
lehre zu Schulden kommen; die evangelischen Lehren von
der Freiheit und G-nade, von der Rechtfertigung, von der
Kirche usw. werden im Namen der Orthodoxie durch Hare-
sien entstellt, ohne dafl sich auch nur eine Stimme da-
gegen erhebt, weil niemand es zu merken scheint; selbst
die altdogmatische Christologie wird haufig in einer so
rohen Verkiirzung reproduziert, dafi man an ein innerliches
Erfassen derselben bei ihren Vertretern nur schwer zu
glauben vermag — ; aber um so lauter wird die Forderung
einer Greltung des Bekenntnisses sans phrase erhoben. Es
mag jedem iiberlassen bleiben, wie er sich innerlich zu den
einzelnen Stiicken verhalt; aber er soil das Bekenntnis in
keinem Punkte anzweifeln oder antasten; denn es soil die
intangible Grundordnung der Kirche sein. Wahrend bei
dem eigentiimlichen Wesen des Protestantismus kirchliche
Kontroversen iiber einzelne Lehren unausbleiblich sind und
als Zeichen des Lebens und des innerlichen Anteils mit
Ruhe und Greduld sachlich ausgefochten werden sollten in
der Grewifiheit, dafi das Licht des Evangeliums nicht er-
loschen wird, wird vielmehr in jeder Kontro verse eine Auf-
lehnung wider ndie Eorche" erkannt. Folgerecht wand ein
sich — wie im Katholizismus — die Lehrprozesse in In-
subordinationsprozesse: der G-ehorsam und die Devotion
144 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: V.
erscheinen als angetastet, und die Entgegnung der herrschen-
den Partei erfolgt aus der erbitterten und angstvollen
Stimmung heraus, die verletzter Autoritat und beleidigtem
Selbstgefuhl eigentumlich ist. Wie der angefochtene Lehr-
punkt sachlich zu verteidigen ist, ist die geringste Sorge
• — nur so nebenbei werden einige apologetisehe Bemerkungen
gemacht, die nirgends rechten Kredit finden; denn man
kommt mit ihnen auf das heikle und unbequeme Gebiet
der Theologie; wenn man notgedrungen dieses betreten
mufi, erfolgt nur ein hilfloses Stammeln und das Aufgebot
wilder Kontraste und Extremitaten — , die Person des
Gegners muB vielmehr niedergeschlagen und ihm deutlich
gemacht werden, dafi seine Haresie in der Auflehnung
wider eine Rechtsordnung besteht. Das Bekenntnis so
handhaben heiGt es katholisch gebrauchen, und folgerecht
wird es damit immer mehr dem innern Leben der Gemeinden
entzogen und zu einem Gesetz fur den geistlichen Stand.
Ich mochte es nicht glauben, dafi neulich einmal das Wort
gefallen sein soil: nTrate doch N. N. aus der tneologischen
Fakultat in die philosophische ! Dann hatten wir statt
eines unglaubigen Theologen einen glaubigen Philosoplien";
aber unmoglich ist es bei der stark vorgeschrittenen
Stimmung nicht. Welcher Glaubensbegriff und welche
Vorstellung von dem Verhaltnis der Geistlichen und Laien
diesem Worte zu Grunde liegt, braucht nicht erst nachge-
wiesen zu werden.
Hand in Hand mit der veranderten Stellung zum Be
kenntnis gehen die Bestrebungen, die gottesdienstlichen
Ordnungen iiberall kirchenpolizeilich zu uniformieren und
die Lehre agendarisch festzulegen. Dem alten Protestan-
tismus waren diese Bestrebungen vollig fremd; wir aber
stehen bereits mitten in einer liturgischen Katholisierung
unsrer Kirchen. Nach evangelischen Grundsatzen soil der
Gottesdienst etwas Freies und Innerliches sein, und so ge-
wiO er Normen braucht, so gewiG sollen diese eben nur
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 145
Normen sein, nach denen sich der einzelne G-eistliche, die
Qemeinde und der einzelne Christ frei bewegen kann. Eine
Gottesdienstordnung als Rechtsordnung auferlegen, den
punktlichen Yollzug eines vorgeschriebnen Rituals fur eine
hochst wichtige, notwendige und heilige Sache erachten,
das Ritual mifibrauchen, um gewissenhafte Christen zu be-
driicken, zu angstigen, die Aussprache ihres Q-laubens zu
zwingen und zu belasten, ist nicht evangelisch. An diesem
Punkte gerade hat die Reformation eingesetzt, und hier
ihren Puritanismus und ihre Freiheit anzutasten, bedeutet
eine Verletzung ihres "Wesens. Aber wie unsicher sind
Tausende von Protestanten an diesem Punkte geworden.
G-eht man doch geradezu so weit, die agendarischen Ord-
nungen der Kirche fur den Q-ottesdienst zu benutzen, urn
durch sie mlGliebige theologische Richtungen zu bekampfen!
Mit vollen Segeln steuert man in das gefahrlichste Fahr-
wasser, und die Indifferenz ist, wie immer, der stille Bun-
desgenosse katholisierender Majoritaten: ,,eine Kirche mufi
doch feste Ordnungen haben" ; 77erst wenn wir das Yorbild
der katholischen Kirche in dieser Beziehung erreicht haben,
wird der Protestantismus eine Kirche und eine Macht sein ! "
Neben diesen prinzipiellen Umbildungen sind Symp-
tome in Fiille vorhanden, die die verhangnisvolle Annahe-
rung an katholische Formen bekunden. Die Sakramente
werden in unevangelischer Weise vom Wort getrennt und
ihnen neben diesem ein besondrer geheimnisvoller Wert
beigelegt. Der Puritanismus des Protestantismus wird
durch Redensarten wie ,,die heiligen Grefafie" und viele
ahnliche sowie durch eine Art von Heiligkeit, die man
gottesdienstlichen Dingen, Formen und Zeiten beizulegen
anfangt, groblich verletzt. Schilderungen von Kirchen-
visitationen und andern kirchlichen Feiern werden in einem
Tone gegeben, als handle es sich um hierarchische Veran-
staltungen. Der geistliche Stand wird in bedenklicher
Weise aus den iibrigen christlichen Standen herausgehoben.
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. n. 10
146 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: V.
Die in jedem geordneten Kirchenwesen nnvermeidliclie Auf-
sicht und Kontrolle und die Abstufungen kirchlicher Amter
erscheinen mit einem Schimmer des Heiligen umflossen.
Von den G-eneralsuperintendenten redet man gern als von
,,0berhirten" und mochte sie in dem Grlanze und derWiirde
katholischer Bischofe sehen; ihr 6ffentlich.es Auffcreten wird
beschrieben, als kame der Bote G-ottes zu den Gemeinden,
und an ihren Grabern ist, wie Zeitungen versichern, schon
gebetet worden: ,,Erhore uns um Deines Knechtes willen."
Wie schwer haben es diese Manner, der unevangelischen
Auffassung entgegenzutreten , die sick an ihr Amt heftet,
und welches voile MaB katholischer Geliiste wird unter dem
Titel ,,Selbstandigkeit der Eorche" zum Ausdruck gebracht!
Vom Kirchenregimente — gewifi dem schwersten Amte,
das es heute gibt — wird verlangt, dafi es iiberall ein-
greife, iiberall Verordnungen erlasse, nichts werden und
wachsen, nichts kommen und vergehen lasse, sondern statt
Greduld, Unparteilichkeit und indirekte Pflege zu iiben,
vielmehr das Polizeiamt sei, das in den kirchlichen Tages-
streitigkeiten von den Majoritaten dieWeisungen empfangt.
Aber nicht nur in diesen bedenklichen Entwicklungen
zeigt sich die Umbildung des alien Protestantismus in eine
neue Form, sondern auch. in erfreulichen Erscheinungen.
Doch. lafit sich auch hier von einer Katholisierung , d. h.
Verallgemeinerung und Politisierung der evangelischen Kir-
chen sprechen. Einst war der Protestantismus Predigt-
kirche und Katechismusschule, nichts mehr; denn wdas
Wort allein mufi es tun" wie viel reicher, wie viel
komplizierter sind seine Lebensformen nun ge worden! Ein
bluhendes Vereinsleben auf evangelischer Grundlage hat
sich ausgestaltet. In segensreicher Weise wirken Diako-
nissinnen und Diakonen, Stadtmissionare, Sonntagsschul-
lehrer und -Lehrerinnen, kurz die Verkiindigung des Worts
und die Praxis der Religion hat sich die verschiedensten,
abgestuften Organe geschaffen. Auch die religiosen Ver-
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 147
sammlungen selbst haben sehr mannigfaltige Formen an-
genommen in freien Erbauungsversammlungen und bis zur
aufiersten Grenze der ,,Familienabendeu. In alle mensch-
lichen Berufsverhaltnisse und Korporationen dringt die Re
ligion ein und schafft in ihnen christliche Gemeinschaft
und christlich-sittlichen Halt. Auf die Fiille der Fragen,
die man die soziale Frage nennt, werden die Kirchen auf-
merksam und suchen an ihrem Teile der Not und dem
Elend zu steuern. Welch ein andres Bild, wenn man den
Protestantismus, wie er vor dreihundert Jahren bestand,
mit dem Protestantismus der Gegenwart vergleicht!
In alien diesen Momenten zusammen stellt sich das
dar, was man die Katholisierung des Protestantismus nennen
darf, und wir sind ein jeder in irgend welchem Mafie von
dieser Umbildung affiziert. Aber das eben ist das Kritische
unsrer Tage, dafi die alte, enge, doktrinare Form des Pro
testantismus verschwindet, dafi das alte Verhaltnis von
Theologie und Kirche nicht mehr besteht, dafi die E/eligions-
padagogie der altern Zeit sich. als unzureichend erwiesen
hat, dafi sich also mit Recht etwas Neues in Erweiterung,
Umbildung und Konsolidierung durchsetzt, wahrend die
klare Einsicht in die Lebensbedingungen des Protestantis
mus im Schwinden begriffen ist. Fehlt aber dieses Kor-
rektiv, so kann es nicht ausbleiben, dafi wir eine Doublette
zum Katholizismus werden. Das kann dann noch immer
eine Kirche sein, die Grofies zuwege bringt und Seelen
trostet und starkt; aber der Geist des evangelischen Glau-
bens und der Freiheit wird aus ihr entschwunden sein.
V.
Ein aufgeklarter franzosischer Katholik hat vor ein
paar Jahren in der Revue des deux mondes einen merk-
wiirdigen Aufsatz geschrieben. Ich will einige Ausfuhrungen
aus ihm, verbunden mit verwandten Gedanken, wie ich sie
im Gedachtnis habe, mitteilen: ,,Frankreich ist das ortho-
10*
148 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: V.
doxeste Land; denn es 1st das religios indifferenteste Land.
Der Kathohzismus , wie er 1st, 1st" uns aber gerade recht.
Eine weitschichtige Religion von Mythen, Superstitionen,
Absurditaten und wiederum voll tiefsinniger Gredanken,
sinnvoller Riten, reichbliihender Symbolik mit alien kiinst-
lerischen Reizen im Bunde und doch asketisch, alien Stim-
mungen entgegenkommend , jeden Ring der Greschichte in
seinem machtigen Stamme bewahrend. Zweifel und seelen-
qualende Fragen gibt es nicht, nnd wo sie aufbauchen, ist
die Autoritat sofort zur Stelle. Niemandem, am wenigsten
einem gebildeten Laien wird aber zugemutet, sich dieses
imgehenre System „ Religion" geistig und glaubig anzu-
eignen. Vielmehr sind alle Stellungen zu ihm und in ihm
moglich und ertraglich, und selbst der Spotter bemerkt
noch eine Seite, vor der sein Spott stille halt. Also findet
nier jede Individualitat ihre Rechnung; anders lebt sich.
die Frau hier ein, anders der Mann, anders der Grlaubige,
anders der Freigeist: er respektiert und er lachelt. Die
Priester allein sind beauftragt, das Ganze in Kraft zu er-
halten; das konnen sie natiirlich nur, wenn sie schon friih-
zeitig in dies System eingefuhrt und gegen die moderne
Bildung, namentlich gegen die Wissenschaft, abgesperrt
werden. Die seminaristische Erziehung ist daher durchaus
am Platze. Nur keine verstandige Religion; denn diese
wird sofort zudringlich und sucht sich der Kopfe und der
G-ewissen zu bemachtigen! So steht es, sagt der Katholik,
mit dem Protestantismus ; er ist eng, borniert, anmafiend
und zudringlich. Er verlangt, dafi alle dasselbe glauben,
und dafi sie alles wirklich innerlich glauben, was die Kirche
glaubt, und ihre ganze Weltanschauung und Lebensordnung
darnach richten. Darum ist er auch zersplittert und poli-
tisch machtlos, ein Schlupfwinkel fur verschrobne und enge
Kopfe. Wie groB, wie universal, wie elastisch ist dem
gegeniiber der Katholizismus!"
Das Bildj das hier vom Katholizismus entworfen wird,
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 149
ist das Bild, das uns droht! Aber sollen wir nicht auf
diese drohende Entwicklung eingehen? Sollen wir nicht
einen Strich unter unsre Privatmeinungen und unsre Theo-
logie machen und uns in der unter der Hand sich neu-
bildenden Kirche so einrichten, wie sich Origenes in der
Kirche des dritten Jahrhunderts eingerichtet hat — in
dieser Kirche, die, wie es scheint, unabwendbar kommt, an
deren Herstellung die Majoritaten, die Zeitungen, die In-
diiferenten so zielsicher arbeiten? Und teilen wir nicht
selbst ihre Voraussetzungen? Haben nicht auch wir mit
dem Intellektualismus in der Religion gebrochen? Wiin-
schen nicht auch wir, daft die Religion, ungehemmt durch
lastende Doktrinen, elastisch und frei auf alle die kompli-
zierten Zustande und Stimmungen des Lebens eingehe? Er-
kennen nicht auch wir an, dafi der alte Protestantismus eng
und sprode war? Also warum zogern? Finden wir uns viel-
mehr mit dieser Kirche durch Unterwerfung , durch Fides
implicita ab — in einem Willensentschlufi ist es geschehen
— und eilen wir dann unsern Briidern in die Arme, um
die Streitaxt zu begraben und friedlich und wetteifernd
mit ihnen die Kirche zu bauen! Die Menschen sind nun
einmal in Grlauben und Lehre nicht unter eine Formel zu
bringen; also moge der Kliigere nachgeben und so fort,
bis die handfestesten Bekenntnisse allein das Feld behaupten.
"Wer eine grofie Kirche will, muB sich ihrer Natur und
Montur anbequemen. Die Verniinftigen , G-eistigen und
Innerlichen sind immer nur eine unscheinbare Sekte in der
Kirche gewesen! Sie mogen ihre G-edanken unter Hullen
produzieren! Es gibt hundert verschiedne Weisen, um sich
mit einer gegebnen Formel elastisch auseinanderzusetzen,
und ebensoviele Mittel, um eine erkannte Wahrheit zu ver-
schleiern! Und ist die Wahrheit unter dem Schleier nicht
besonders reizvoll? Man hebt den Schleier, deutet an, und
senkt ihn wieder! Und lafit sich das Letzte in der Reli
gion iiberhaupt in Worte fassen? Wenn nicht — warum
150 Z welter Band, erste Abteilung. Beden: "V".
soil man sich niclit "Worte gefallen lassen, und warum soil
naan nicht schweigen?
Wirklich — das 1st verlockend! Welchen Denkenden
und Sorgenvollen hat diese Versuchung nicht schon ge-
packt. Aber es ist die Versuchung; denn so wird der Pro-
testantismus , das Evangelium und die "Wahrheit preis-
gegeben. Cringe unmerklich die Entwicklung so weiter,
und wiirden wir einfach ihr gegeniiber kapitulieren , so
wiirde sich aus der Konsolidierung des Protestantismus ein
z weiter Katholizismus bilden, nur diirftiger und religios
minder ernst als der erste; denn — der romische Katho
lizismus hat den Papst und er hat die Heiligen und Monche.
Die werden wir nicht bekommen. In der monchischen
Tendenz auf die Heiligenbildung , in dieser hingebenden,
weltfluchtigen Frommigkeit liegt im Katholizismus ein un-
geheurer religioser Antrieb und ein Korrektiv gegeniiber
der verweltlichten, komplizierten Kirche, das wir nicht be-
sitzen. Und im Papsttum liegt die Kraft der Anpassung
an die Zeitlage, die personliche Autoritat gegeniiber der
Autoritat des Buchstabens, die Konservierung des Ge-
dankens, wenn auch in politischer Umformung und Ver-
zerrung, dafi die Kirche Grottes letztlich nicht von einer
Tradition regiert werden darf, sondern von lebendigen, vom
Greiste G-ottes bewegten Menschen. Aber im Protestantis
mus, wenn er dauernd auf die Linie des Katholizismus ge-
riete, waren diese Grrofien nicht mehr zu erreichen; denn
sie sind durch seine Voraussetzungen ausgeschlossen. Das
bleibt in ihm, mag er auch noch so tiefgreifende Wand-
lungen erleben, unveranderlich bestehen, dafi er Giaubige
und nicht Heilige erziehen will, und dafi er somit die Aus-
gestaltung des aufiern und innern Lebens in der Form as-
ketischer Frommigkeit den Einzelnen iiberlaflt. Zwar ist
auch hier in dem Grebiet des Protestantismus ein Wetter-
leuchten zu bemerken, das katholische Tendenzen beleuchtet.
Als neuste Erkenntnis und Weisheit wird uns mitgeteilt,
Zur gegenwartigen Lage des Protestantisnms. 151
daft die originale und klassische Form der Religion stets
die Ekstase, die Vision und die asketische Vita coelestis sein
und bleiben mufi. Diese Annalime fiihrt direkt auf die
katholische Spur, daft die ,,Heiligen" die eigentlichen Re-
ligiosi sind, an die die G-laubigen als Religiosi zweiter Ord-
nung sich anlehnen. Sie verwirft die protestantische Uber-
zeugung, dafi uberall der Grlaube vorangeht, dafi er das
Granze ist, und dafi er selbstandige und freie G-otteskinder
in mannigfaltiger Auspragung schafft. Aber wir diirfen
diese atavistische Betrachtung der Religion, aus der wir
freilich Beherzigenswertes lernen konnen, beiseite lassen,
sie wird im Protestantismus nicht zur Herrschaft kommen,
und sie wird die Uberzeugung nicht verdrangen konnen,
daB eine Religion um so holier steht, je ruhiger, freudigcr
und friedvoller sie den ganzen Menschen durchdringt.
VI.
Es sind bedenkliche und sorgen voile Ausblicke, die
wir bisher eroffnet haben. Aber, Grott sei Dank, noch gibt
es ein Gregengewicht, noch gibt es Krafte in unsern evan-
gelischen Landeskirchen, die einer unprotestantischen Kon-
solidierung entgegenarbeiten. Sie werden langst erwartet
haben, dafi ich sie nenne; denn sie stehen Ihnen vor der
Seele. Es sind zwei Elemente, die noch im ganzen Grebiet
des Protestantismus lebendig sind. Das eine — es wurde
eben angedeutet — ist die Uberzeugung, daB die Religion
letztlich nichts andres ist als die stetige Stimmung des
Herzens im kindlichen Vertrauen auf Grott, jene feste, freu-
dige Zuversicht zu Grott, wie sie Paul G-erhardt in seinem
Liede wlst G-ott fur mich, so trete gleich alles wider mich"
ausgesprochen hat. Das andre ist, daU dieses Kindesver-
trauen untrennbar verbunden ist mit der schlichten, ein-
fachen Moral, dafi das sittliche Leben mit seinem ganzen
heiligen Ernst das Korrelat zur Religion ist, ohne das sie
Abgotterei und Seelentauschung wird. Diese tJberzeugungen
152 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: V.
— in den Seligpreisungen der Bergpredigt sind sie zu-
sammengefafit — sind die starke Kraft des Protestantis-
mus nnd sein verborgner Schatz. Wie sie ohne Frage sein
Wesen innerhalb des gemein Christlichen begriinden, so
sind sie zugleich der wesentliche Inhalt des Evangeliums
selbst; denii man mag noch so viel an den Worten Jesu
Christi herumforschen und sie mit zeitgeschichtlichen, apo-
kalyptischen und asketischen Gfedanken zusammenhalten,
man wird doch schliefilich wieder bei der alten kirchlichen
Einsieht anlangen, dafl das Wesen des Evangeliums niclit
in diesen Nebendingen zu suchen ist, sondern in der Ver-
kundigung der Kinds chaft und der Siindenvergebung und
in dem heiligen Ernst, mit dem das Sittengesetz hier
aus irreligiosen Verbildungen herausgefuhrt und dem Ge-
wissen eingepragt ist.
Aber ich kann von diesen hohen Dingen niclit reden,
ohne einen Ehrenkranz des innigen Dankes auf das Grab
Albreclit Ritschls zu legen. Er hat die Grrundgedanken
des Evangeliums und der Reformation kraftig und klar er-
fafit und aus den romantischen , kirchenpolitischen, philo-
sophischen und mystischen Verklitterungen und Banden her
ausgefuhrt. Er hat nichts neues entdeckt, und andre mogen
andern zu Dank verpnichtet sein, aber die grofie Mehrzahl
derer, die in diesem Saale versammelt sind, verdanken ihm
die christliche Zuversicht und Freudigkeit. Das soil ihm
bei uns nie vergessen sein!
Die beiden Grundelemente christlicher Religion, die ich
eben genannt, leben aber noch in unsern protestantischen
Landeskirchen; sie leben auch im Herzen unsrer evan-
gelischen Briider, mit denen wir als Theologen zu kampfen
gezwungen sind; darum war es eine pessimistische, ein-
seitige Betrachtung, die uns am Protestantismus zu ver-
zweifeln antrieb. Nein — wir bleiben auch in diesen kriti-
schen Zeitlaufen treu bei seiner Fahne ; wir bleiben in unsern
Landeskirchen und kampfen in unsrer Kirche, die ihr Erb-
Zur gegenwartigen Lage des Protestantismus. 153
gut nicht verloren hat, fur die Kirche, damit sie ihre Krone
behalte, damit sie innerhalb der Konsolidierung, Verbreite-
rung und Politisierung , die sie in unsrer Epoche erlebt,
nicht ein heilig-weltliches Institut werde, damit sie eine
Kirche des Glaubens, der Freiheit und der Q-eduld bleibe.
Wir sind nicht in der Lage, sie zu leiten; aber wir konnen
ein Gegengewicht ausiiben, und weil wir es konnen, ist es
unsre heilige Pflicht, der wir nicht entsagen diirfen. Ver-
gessen wir auch nicht, dafi der Protestantismus in jeder
Epoche, die er durchlebt, unter den schwersten inneren
Grefahren gestanden hat: einen begrifflich reinen Protestan
tismus hat es niemals gegeben. "Wir kampfen also nur;
wie unsre Vater auch gekampft haben.
vn.
Was aber ist uns not? Was kann geschehen? Ich will
drei Fragen aufwerfen und sie kurz zu beantworten ver-
suchen.
1. Wenn der Intellektualismus des alten Protestantis
mus gebrochen ist und sich unsre Landeskirchen auf brei-
terer Grundlage konsolidieren — wie fassen wir den evan-
gelisch-protestantischen Grlauben? G-ewiB, es ist moglich,
eine Zeit lang eine Gresinnungsgemeinschaft zu bilden ohne
eine Bekenntnisgemeinschaffc, eine Gesinnungsgemeinschaft,
die feste Prinzipien hat und sie durch die Tat bewahrt.
Aber die Aufgabe, den vorhandnen evangelischen Bekennt-
nissen ein Bekenntnis hinzuzufiigen , das die wesenthchen
Punkte des Heilsglaubens als Norm des kirchlichen Amts
und der Kirchenleitung enthalt, darf nur aufgeschoben,
nicht aufgehoben werden; denn eine solche feste Form ist
ein der Kirche unentbehrliches Schutz- und Kampfmittel.
Auch kann sich ein solches Bekenntnis nicht ohne ent-
schiedne Auseinandersetzung mit der Zeitbildung, mit den
Erkenntnissen in Natur und Geschichte entwickeln, als ein
kurzer Inbegriff der Grlaubenslehre, deren eigentliche Auf-
154 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: V.
gabe immer darin bestehen wird, auch Apologetik zu sein.
Die Forderung eines undogmatisclien Christentums und die
Behauptung, man konne die Selbstandigkeit der Religion
dadurch am besten betatigen, dafi man die andern Greistes-
gebiete sich selbst uberlaJ3t, ist verfehlt. Das Moralische
freilich braucht man nicht erst zu formulieren, denn das
versteht sich, Gott sei Dank, im Protestantismus immer von
selbst. Unsre alten Bekenntnisse haben also ganz recht,
wenn sie das eigentliche Wesen der christlichen Religion,
d. h. den Glauben an Q-ott und an Jesus Christus, den Sohn
Grottes, im Bekenntnis zum Ausdruck gebracht haben. Auf
ihren Spuren haben wir uns zu halten; aber einfach bei
ihnen beruhigen konnen wir uns nicht; denn wir sind durch
eine verwickelte Geschichte von ihnen getrennt, und nie-
mand unter uns kann sich einfach in die Situation, die
Vorbedingungen, den Erkenntnisstand zuriickversetzen, aus
dem sie entstaminen. Darum konnen sie heute in der Kirche
gar nicht mehr scharf und bestimmt in Wirksamkeit ge-
setzt werden; Abstriche und Abmilderungen miissen viel-
mehr iiberall gemacht werden. Dieser Zustand mufi ein-
mal aufhoren; sonst droht die Q-eschichte der protestan-
tischen Kirchen in unberechenbare Zufalle zu versinken
und der arbitraren Leitung der Majoritaten zu verf alien.
Mag auch die heutige Zeit nach menschlichem Ermessen
fur eine Bekenntnisbildung so ungeeignet wie moglich sein,
mogen die auch Spott und Hohn ernten, die diese Forde
rung stellen — die Aufgabe, den alten evangelischen Grlau
ben neu, schlicht und klar in der Sprache der Q-egenwart
auszusprechen, durfen wir nicht preisgeben. Je breiter und
fester sich die Landeskirche konsolidiert, um so notwen-
diger ist es, ihre evangelisch-protestantische Eigenart in
einem Bekenntnis der Gregenwart zum Ausdruck zu bringen;
denn die evangelischen Kirchen sind die Kirchen des Worts,
des Grlaubens und der innerlichen Zustimmung. Und in
diesem Sinne miissen wir wiinschen, dafi das altprotestan-
Die gegenwartige Lage des Protestantismus. 155
tische Verhaltnis von Theologie und Kirche nicht hinfalle.
Die Theologie mufl eine Fiihrerin der Kirclie bleiben: derm
ihre Hauptaufgabe — wenn sie auch eine geschichtliche
Wissenschaft geworden ist — kann doch nur die sein, das
Bild der Personlichkeit Jesu Christi, des Herrn und Hei-
landes, sicherer zu erfassen und darzustellen.
2. Wenn der Intellektualismus des alien Protestantis
mus gebrochen ist und sich unsre Landeskirchen auf brei-
terer Grundlage konsolidieren — wie erzielien wir uns
selbst und unser Volk in der Religion? "Wir haben die
tiberlieferung durch die alte Glaubenslehre zu erzielien,
und gewifl — wir wollen die Schatze, die in ihr liegen,
fleifiig brauchen. Wir wollen auch nicht vergessen, dafi
alles, was wachst, in Binden wachst, und dafi wir uberall
an die Vergangenheit anzukniipfen haben. Aber auf ein
Doppeltes glaube ich doch besonders hinweisen zu miissen.
Wir sind nicht elastisch genug in der Ausbeutung und
Verwertung der modernen Gedankenschatze zu gunsten der
religiosen Erziehung. Wie sehr ist uns hier das Christen-
tum in England voraus! Welch ein breiter und tiefer
Strom religioser Gredanken durchzieht dort die Literatur,
und umgekehrt, wie energisch und umfassend nimmt dort
die Religion Anteil an alien Bewegungen des Greistes! Bei
uns dagegen sind nur bescheidene Anfange in dieser Hin-
sicht vorhanden, und wo die Religion Fiihlung sucht mit
der Literatur, da geschieht es in der Regel noch immer
in einer kindlichen Weise. Und doch — welche Schatze
birgt auch unsre Literatur, und gerade die klassische, die
zur Vertiefung und Verteidigung des religiosen Sinns dienen
konnen. Ich weise nur auf Goethe hin, z. B. auf seine
G-esprache mit Eckermann, seine J5Maximen und Reflexionen"
und vieles ahnliche. Wir konnen nicht erwarten, dafi
unser Glaube eine Macht in dem geistigen Leben unsers
Volks wird, wenn wir nicht zu zeigen vermogen, dafi sich
in ihm die tiefsten Erkenntnisse des Menschenlebens und
156 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: V.
der G-eschichte zusammenschliefien und durch ihn Kraft
und Weihe erhalten. Aber nach einer andern Seite hin
bedarf unsre religiose Erziehung einer Erganzung. Den
Satz unsers Katechismus verstehen lernen: ,,Wo Vergebung
der Siinden ist, da 1st auch Leben und Seligkeit", ist das
Ziel alles christlichen Unterrichts ; aber ich meine nicht zu
irren, wenn ich behaupte: dafl der evangelische Grlaube
(eben weil er Glaube an die Stindenvergebung ist) freudige,
mutige und selbstandige Personlichkeiten schafft, das
mufi gezeigt werden. Und damit im Zusammenhang gilt
auch hier — wir miissen elastischer und reicher werden!
Wie viele Typen religiosen Lebens und christlicher Eigen-
art hat der mittelalterliche Katholizismus erzeugt und
ertragen. Suchen wir doch in dieser Beziehung auf evan-
gelischem Boden ihn nachzuahmen. Unsre Zeit bedarf
wahrlich nicht einformige Institute, sondern erweckte, ge-
schlossene und selbstandige Personlichkeiten in mannig-
faltigster Auspragung. Eben deshalb habe ich die Nau-
mannsche Bewegung freudig begriiOt, weil sie mir ein
Zeichen zu sein scheint, dafi auf positiver christlicher
Grrundlage freie und selbststandige Personlichkeiten ein
groGes Werk unternehmen. Grewifi, das Evangelium hat
kein gesetzliches soziales Programm; aber das christliche
Grewissen in bezug auf die Not und das Elend der Briider
zu gemeinschaffclicher Hilfeleistung verfeinert sich, und diese
Vertiefung des Grewissens muC der christlichen Charakter-
bildung zu gute kommen. Endlich,
3. Wenn der Intellektualismus des alten Protestantis-
mus gebrochen ist und unsre Landeskirchen in Gefahr
stehen, in einen falschen Katholizismus uberzugehen — wie
fassen wir unsre Stellung in diesen Kirchen auf? Nach
dem Ausgefiihrten habe ich dariiber wenig mehr zu sagen:
es gilt, zu bauen und Greduld zu iiben. Weder konnen
wir gegebne Kirchen leiten noch sprengen noch neue stiften
wollen. In diese Landeskirchen gehoren wir hinein; hier
Die gegenwartige Lage des Protestantismus. 157
haben wir unsern Beruf empfangen, mit ihnen wissen wir
uns einig in den Hauptstiicken evangelischen Grlaubens,
und in ihnen haben wir noch immer Spielraum nnd Frei-
heit, nach nnserm Grewissen zu leben und zu wirken. Die
Kampfe werden nicht ausbleiben, sie werden heiCer werden,
aber miide niachen sollen uns auch die Machtigsten nicht,
und auch nicht unfreudig. Impossibile est, ut non laetetur
qui sperat in Domino!
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND . ERSTE ABTEILUNG
REDEN: VI
DIE AUFOABE DEH THEOLOaiSCHEN FAKULTATEN
UND DIE ALLGEMEINE EELiaiONSG-ESOHKjHTE
NEBST EINEM NACHWOET
\
Rede
zur Gedachtnisfeier des Stifters der Berliner Universitat KOnig Friedrich.
"VVilhelms III. gehalten in der Aula derselben am 3. Aug. 1901.
Erschienen in 3. Aufl. 1901 bei Alfred TOpelmann (vormals J. Eickers
Verlag) in GrieBen.
Das Naohwort erschien in der ,,Christl. Welt" 1901 Nr. 47.
,,Die von Euch vorgetragene Angelegenheit wegen Ein-
richtung einer allgemeinen und hoheren Lehranstalt in
Berlin finde Ich fiir hohere Greistesbildung im Staate so
wichtig, dafi Ich. die Errichtung einer solchen allgemeinen
Lehranstalt mit dem alten hergebrachten Namen einer
Universitat nicht verschieben will." Durch diese an die
Minister gerichtete Kabinetts-Ordre vom 16. August 1809
hat Friedrich Wilhelm III. unsere Hochschule gegriindet.
Aber schon zwei Jahre friiher (4. Sept. 1807) hatte der
Konig an den Kabinettsrat Bey me geschrieben: ,,Ich habe
beschlossen, eine allgemeine Lehranstalt in Berlin in an-
gemessener Verbindung mit der Akademie der Wissen-
schaften zu errichten." Die Universitaten Halle und Er-
langen waren dem Staate genommen; aber die grofien
Manner waren ihm geblieben, und er trotzte dem Greschick,
indem er die Universitat Berlin schuf. Niemals wird man
aufhoren, in PreuGen die herrliche Zeit zu preisen, die aus
der Not einen ganzen Chor von Tugenden geschaffen hat,
und niemals wird man des Konigs vergessen, der urn sich
einen Greneralstab versammelte, wie inn Deutschland noch
nicht gesehen hatte, einen Humboldt und Stein, Fichte
und Niebuhr, Siivern und Schleiermacher.
Vielleicht ist Ihnen in beiden koniglichen Erlassen die
Bezeichnung ,,Allgemeine Lehranstalt" aufgefallen. Nicht
zufallig war sie gewahlt. In den zehn Jahren ihrer Vor-
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. n. H
162 Zweiter Band, erste Abteihing. Eeden: VI.
geschichte heiflt unsere Hoehschule niemals „ Universitat",
sondern stets wAllgemeine Lehranstalt". Dieser Name
stammt von dem Manne, der die erste Anregung zn ihrer
Stiftung gegeben hat — von En gel — , und steht in einem
gewissen G-egensatz zum Begriff der Universitat. „ Wurde
in Berlin", sagt Engel, weine grofle Lehranstalt errichtet,
die von den lacherlichen Bocksbeuteleien der Universitaten
frei ware und doch alle Vorteile derselben gewahrte, dann
ware Berlin die Hauptstadt des nordlichen, vielleicht des
ganzen Deutschlands , der Mittelpnnkt der Nation. Die
Menschen neigen sich wie die Pflanzen unwillkiirlicli da-
hin, woher ihnen das Liclit zustromt." Keine Universitat
wiinschte Engel, sondern etwas ganz Neues — was, das war
freilich schwieriger zu sagen; an die Akademie der "Wissen-
schaften sollte es angelehnt sein, aber doch nur angelehnt;
die Qenies unter den dents chen Schriftstellern sollten sich
hier sammeln, aber die Anstalt sollte doch nniitzlichertt
werden als die Universitaten. Das letztere leuchtete dem
Konige ein. Auch er wollte zunachst keine Universitat.
Als diese Willensmeinung bekannt wurde, regnete es Pro-
jekte von Berufenen und Unberufenen. Eousseausche Ge-
danken, die neue Padagogik, mehr Freiheit und mehr
Zwang machten sich gleichzeitig als Forderungen geltend.
Am kiihnsten schritt Fichte in seinem ^Deduzierten Plan
einer zu Berlin zu errichtenden hoheren Lehranstalt" vor.
Auf mehr als 100 Druckseiten entwickelte er Ideen, die
von aller padagogisch-gesehichtlichen Uberlieferung losge-
lost waren. Das Nationalinstitut, welches er an Stelle der
alten Universitaten setzen wollte, war dazu bestimmt, den
Kampf der Vernunftwissenschaft wider das herrschende
bose Prinzip zu fuhren und auf das Universum EinfLufi zu
gewinnen. Aber je naher die Verwirklichung der Stiftung
riickte, um so mehr kehrten die MaCgebenden zur alten
Form der Universitat zuruck. Schleiermacher und Wolf
hatten in Halle ihren bleibenden Wert schatzen gelernt,
Die Aufgabe der theologisohen Fakultaten. 163
tmd die Humboldts hatten zu viel gescliiclitlichen Sinn,
um ein Experiment zu wagen. Auch die alte Einteilung
in Fakultaten wurde beibehalten. Dafl sie schwere Nach-
teile in sich schlofl, wuflte man. Schon jene Manner em-
pfanden wie wir und erkannten, dafl wdie wissenschaffcliche
Entwicklung unter keinen Fesseln mehr gelitten hat, als
unter denen, in die sie sich selber geschlagen — geschlagen
durch die groflenteils in den aufierlichen Verhaltnissen des
akademischen Unterrichts begriindete Scheidung natiirlich
zusammengehoriger Disziplinen". Aber jene Manner glaub-
ten, durch ein inniges Zusarn m enwirken der Mitglieder der
verschiedenen Fakultaten die Nachteile auf heben zu konnen.
In der Tat, sie haben hier GrroJJes geleistet. Wie Schleier-
macher Theologie und Philosophie, Niebuhr und Savigny
Geschichte und Jurisprudenz, Bockh Philologie und Volks-
wirtschaft miteinander verkniipft, wie dann die Briider
Humboldt, ein jeder in seiner Weise, die Fakultatszaune
niedergerissen und die Gteometrie der Facher beseitigt ha
ben, das wurde fur diese junge Universitat charakteristisch.
Und wir durfen sagen, sie hat in den drei Menschenaltern
ihres Daseins eben diesen Charakter bewahrt. Alle die
groBen Fortschritte der Wissenschaft, deren Vorbedingung
auf der Verschmelzung der Disziplinen beruht, sind ent-
weder hier entstanden oder haben doch hier ihre besondere
Pflege gefunden. Darf ich Sie an Bopps Sprachwissen-
schaft, an Humboldts Kosmos, an Bitters Geographie,
an Johannes Miillers Physiologie, an Q-erhards Archao-
logie erinnern, um von jenem Vergangenen zu schweigen,
das fur uns noch eine begliickende Gegenwart ist.
Die alten Fakultaten wurden beibehalten, und sie
haben sich bis heute behauptet. Selbst unsere philoso-
phische Fakultat, an Zahl der Lehrstuhle die einer mitt-
leren Universitat erreichend, hat jede Teilung abgelehnt.
Es mufi doch eine innere Vernunft in dieser Fakultaten-
gruppierung stecken; die Uberlieferung allein und die
11*
164 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: VT.
Praxis erklaren ihre Zahigkeit nicht. Aber gilt dasselbe
auch von dem Umkreise der Aufgaben, die jeder Fakultat
zugewiesen sind? 1st hier nicht manches Veraltete und
Riickstandige? Die theologische Fakultat hat Grund, sich
diese Frage zn stellen. Werden doch ringsum Stimmen
laut, die ihr Programm for zu kurz und darum fur wissen-
schaftlich ungeniigend erklaren: nicht als Fakultat fur
christliche Theologie, sondern nur als Fakultat fur allge-
meine Religionswissenschaft und -geschichte habe sie ein
Recht auf Existenz. Nur in dem Mafie als sie gleichmaBig
auf alle Religionen eingehe, konne sie die eine Religion
wirklich verstehen, und nur so konne sie Vorurteile ab-
streifen, die sonst unbezwinglich seien; mindestens aber sei
zu fordern, daB bei jeder theologischen Fakultat ein oder
mehrere Lehrstiihle fiir allgemeine Religionsgeschichte er-
richtet werden. In unserem Nachbarlande Holland haben
diese Forderungen bereits zu Umwalzungen der theolo
gischen Fakultaten gefiihrt bezw. zu ihrer Auf hebung durch
den Staat, und in anderen Landern gart es. Bei uns,
wird man einwenden, sei die Frage nicht brennend; denn
unsere Hegierung denke nicht daran, hier Anderungen
eintreten zu lassen. Allein es wiirde der Fakultat iibel
anstehen, an die Stelle ihres wissenschaftlichen Grewissens
gleichsam einen staatlichen Pafi zu setzen und in dem
sicheren Besitz desselben die Entscheidung der Frage zu
vertagen. Ich bitte Sie daher um Ihr Gehor, wenn ich es
versuche, das ,,Fur" und 7,Wider" in dieser Frage zu er-
ortern: haben bei der Stiftung unserer Hochschule die
maCgebenden Manner recht daran getan, die theologische
Fakultat wesentlich auf die Erforschung und Darstellung
der christlichen Religion zu beschranken, oder soil sie sich
zu einer Fakultat fur allgemeine Religionsgeschichte
erweitern?
Kein Zweifel — die abstrakte Theorie spricht fiir eine
solche Erweiterung. 1st die Religion nicht etwas Zufalliges
Die Aufgabe der theologischen Fakultaten. 165
und. daher Yorubergehendes in der Geschichte der Mensch-
heit, kommt in ihr ein elementares Grundverhaltnis zum
Ausdruck , ohne welches der Mensch nicht der Mensch
ware, einerlei ob jeder das empfindet, so mufi es einen
allgemeinen Begriff fur sie geben. Dieser allgemeine Be
griff kann gewifi nicht aus den einzelnen Erscheinungen
der Religion durch eine einfache Abstraktion gewonnen
werden; denn sie ist wie die Moral und die Kunst ein
Gegebenes und Werdendes zugleich, ihr wahrer Begriff ein
sich enthiillendes Ideal. Aber auch zur Erkenntnis eines
solchen Begriffes ist eine moglichst vollstandige Induktion
der Erscheinungen wiinschenswert. Man rnufi die ganze
Stufenleiter der Religion iiberschauen, man mufi die Yer-
bindungen kennen lernen, in die sie eintritt, die Yerhiil-
lungen, mit denen die Yolker und die Einzelnen sie um-
geben und abstumpfen, die Reizmittel, durch welche sie
sie zu steigern versuchen, urn zu erfahren, was sie wirklich
ist. Yon hier aus erscheint also die Forderung sehr be-
rechtigt, daB die Religionsgeschichte in ihrem vollen Um-
fange studiert werde. Die Beschrankung auf eine Religion
scheint eine unstatthafte Yerkiirzung zu sein.
Aber weiter, nur nach einer und derselben Methode
konnen die Religionen studiert werden, namlich der ge-
schichtlichen , und diese lafit sich nicht willkiirlich be-
schranken. Wie sie jede zeitliche Grenze iiberspringt, die
man ihr ziehen will, so geht sie auch unerbittlich von
einem verwandten Objekt zum anderen uber. Sie kennt
nur Ketten, nicht isolierte Glieder. Und mag sie auch
iniierhalb der einzelnen Erscheinung auf etwas ganz Singu-
lares stofien, was sich der entwicklungsgeschichtlichen Ab-
leitung entzieht - - um so strenger ist sie verpflichtet, in
die Breite und in die Tiefe zu gehen und ihren ganzen
Erwerb einzusetzen. Eine besondere Methode aber, nach
welcher die christliche Religion zu studieren ist im Unter-
schied von den anderen, kennen wir nicht. Einst kannte
166 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: VI.
man eine solche, eine Art von biblischer nnd philoso-
phischer Alchemie, und rechtfertigte sie mit nicht geringem
Scharfsinn. Aber die Folge war, dafl man sich immer
welter von der reinen Erkenntnis des Objekts entfernte
und den eignen Q-eist an die Stelle der Sache setzte. Die
historische Methode allein ist konservativ; denn sie sichert
die Ehrfurcht — nicht vor der Uberliefemng, sondern vor
den Tatsachen und maclit der Willkiir ein Ende, Blei in
Q-old und Q-old in Blei verwandeln zu wollen.
Endlich aber, auch die kirchliche Praxis scheint die
Erweiterung der theologischen Fakultaten zu verlangen.
G-ebieterischer als in unseren Tagen ist die Forderung der
christlichen Mission seit einem Jahrtausend nicht aufge-
treten. Ich denke nicht nur an den vereinfachten und
ins grofle gesteigerten Weltverkehr mit den neuen Pflich-
ten, die er auferlegt — die Tatsache kommt vor allem in
Betracht, dafi die christlichen Volker sich anschicken, den
Erdball aufzuteilen , ja beinahe schon aufgeteilt haben.
Ob eine dauernde und gehaltvolle Zivilisation ohne die
Predigt des Evangeliums moglich ist, die Frage mag man
bejahen oder verneinen — gewiB ist, dafi die Volker,
welche die Erde jetzt aui'teilen, mit der christlichen Zivili
sation stehen und fallen, und daB die Zukunft keine an-
dere neben ihr dulden wird. Damit sind den Christen,
den Kirchen, Aufgaben gestellt wie nie zuvor; sie werden
sie nur zu losen vermogen, wenn sie nicht die Zivilisation,
sondern das Evangelium verkiindigen; aber eine unerlafl-
liche Vorbedingung scheint es zu sein, daB sie die Reli-
gionen der fremden Volker griindlich kennen lernen.
Sollen da die theologischen Fakultaten nicht ihre Pforten
offnen und sich zu religionsgeschichtlichen Fakultaten er-
weitern?
Man sieht, es sind starke Griinde, welche fur eine
solche Ausdehnung sprechen, und doch wage ich nicht, sie
zu empfehlen. Schwerwiegende Bedenken stehen im Wege.
Die Aufgabe der theologischen Fakultaten. 167
Erstlich bedarf es nur einer kurzen Erwagung, run
zu erkennen, dafl das Studium jeder einzelnen Religion
von dem Studium der gesamten Q-eschichte des betref-
fenden Volkes schlechterdings nicht losgelost werden darf.
Zu dieser Q-eschichte gehort aber vor allem die Sprache
des Volkes, sodann seine Literatur, weiter seine sozialen
und politischen Zustande. Die Religion allein studieren
wollen, ist ein noch kindlicheres Unterfangen als das, statt
der ganzen Pflanze nur die Wurzel oder nur die Bliite zu
untersuchen. Die Sprache ist nicht nur die Scheide, dar-
innen das Messer des Geistes steckt; sie ist viel mehr als
die Scheide, zumal in bezug auf die Religion. Die Reli
gion hat zum Teil die Sprache geschaifen, und in der
Sprachgeschichte spiegelt sich die Religionsgeschichte. Nur
wer jene in alien ihren Nuancen kennt, kann versuchen,
die Religion zu entziffern. Weiter aber, die wirtschaft-
lichen Zustande und die politischen Erlebnisse und Insti-
tutionen eines Volkes sind fur die Ausgestaltungen seiner
religiosen Ideen und seines Kultus maflgebend. Und bleibt
auch die Religion, einmal geschaffen und formiert, stets
hinter dem Fortschritt der Gesamtentwicklung zuruck, ist
ein Teil der offentlichen Religion somit stets nsuperstitio"
und bloCes Ritual — so kann nur umfassende und lang-
jahrige Forschung entscheiden, was in einem gegebenen
Moment in einer bestimmten Religion wirklich lebendig
ist. Wie soil man nun der theologischen Fakultat zu-
muten, alle diese Studien, d. h. nicht weniger als die ge-
samte Sprachwissenschaft und Geschichte, in ihre Mitte
aufzunehmen? Weist man ihr aber nur die von Sprache
und Q-eschichte losgeloste Religionsgeschichte zu, so ver-
urteilt man sie zu einem heillosen Dilettantismus. Das
Ergebnis ware, dafi dieselbe Aufgabe in der philosophischen
Fakultat gut, in der theologischen Fakultat aber schlecht
bearbeitet wurde. Zu einer solchen Verdoppelung kann
doch wohl niemand raten. Auf ihrem eigenen Grebiete
168 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
aber, namlich dem der alttestamentliclien und der christ-
lichen Religion, verfahrt die Theologie langst nach der
aufgestellten umfassenden Forderung. "Wie sie ihre Auf-
gaben hier im engsten Bunde mit hebraischer und grie-
chischer Philologie gelost hat und noch lost, wie sie andere
Religionen nach Mafigabe ihres Einflusses auf die alt-
testamentliche und christliche behutsam herbeizieht, wie sie
Religions- und Greschichtsforschung in fester Verbindung
halt, darin steht sie hinter keiner geschichtlichen Disziplin
zuriick; ja sie hat fur die ihr verwandten Disziplinen
mustergiiltige Leistungen auf ihrem Grebiete aufgestellt.
Zweitens, wohl bleibt es, ideal angesehen, eine Ver-
kiirzung, dafi sich die theologische Fakultat auf eine Religion
zuriickzieht, aber welche Religion ist das? Es ist die
Religion, deren Eigentum die Bibel ist, deren Geschichte
einen erkennbaren, nirgendwo unterbrochenen Zeitraum
von nahezu drei Jahrtausenden umfafit und die noch heute
als lebendige Religion studiert werden kann. In diesen
drei verbundenen Merkmalen erhebt sie sich so gewaltig
iiber alle anderen verwandten Erscheinungen, dafi man wohl
das "Wort wagen darf: Wer diese Religion nicht kennt,
kennt keine, und wer sie saint ihrer Geschichte kennt,
kennt alle. Zunachst — sie besitzt die Bibel. Ich miifite
befurchten, trivial zu werden, wollte ich es unternehmen,
auch nur ein Wort zur Charakteristik derselben hier zu
sagen. Es mufi geniigen, daran zu erinnern, dafi die Bibel
das Buch des Altertums, das Buch des Mittelalters und
— wenn auch nicht auf offentlichem Markte — das Buch
der Neuzeit ist. "Was bedeutet Homer, was die Veden,
was der Koran neben der Bibel! Und sie ist unerschopf lich ;
jede Zeit hat ihr noch neue Seiten abzugewinnen vermocht.
Mit Recht heifit daher der Doktor der Theologie Doktor
der heiligen Schrift: auf sie konzentriert sich, urn sie grup-
piert sich letztlich alle Arbeit der theologischen Fakultaten.
Und so oft es einem einzelnen, Laien oder Theologen, ge-
Die Aufgabe der theologischen Fakultaten. 169
geben war, neu und voll aus ihr zu schopfen, und das Ge-
schopfte den anderen darzubieten, so oft 1st die christliche
Menschheit in ihrer inneren Greschichte auf eine hohere
Stufe gehoben worden. Damit ist das andere beriihrt, was
ich als zweites Merkmal dieser Religion genannt habe, ihre
zeitliche Ausdehnung und Universalitat. In ihrer Vorge-
schichte, der alttestamentlichen Stufe, bedeckt sie einen
Zeitraum von tausend Jahren, und ihre Greschichte steht
bereits im 20. Jahrhundert. An sich bedeuten die grofien
Zahlen freilich nicht viel — Agypten, Indien und China
prasentieren uns grofiere, von der Praehistorie zu schweigen.
Aber hier fallt der Zeitraum mit dem Zeitraum zusammen,
auf den das Wort „ Greschichte" allein anwendbar ist, und
der Schauplatz dieser Religionsgeschichte ist der Schauplatz
der Geschichte iiberhaupt. So zeigt denn bereits die alt-
testamentliche Religion einen auBeren und inneren Kontakt
mit Babylonien und Assyrien, mit Agypten und Griechen-
land, d. h. mit der Universalgeschichte der alten Welt, und
durchlauft selbst alle Stufen von einem naiven barbarischen
Volkskultus bis zu der Religion der Psalmisten. Wer diese
Entwicklung forschend, entziffernd, nachdenkend, nach-
erlebend durchmifit, der braucht kein Vielerlei • von Religi-
onen zu studieren, um zu wissen, wie es in der Religion
und der Religionsgeschichte der Menschheit zugeht. Er
hat an diesem Stoffe einen Ausschnitt, der ihm die Kennt-
nis der Religionsgeschichte in ihrer ganzen Breite nahezu
ersetzt. Ja noch mehr: nicht er bedarf der anderen Reli-
gionshistoriker, sondern sie bediirfen seiner. Die alttestament-
liche Religionsgeschichte bietet den Schllissel zum Ver-
standnis vieler allgemeiner religionsgeschichtlicher Probleme,
die ohne sie ungelost bleiben mufiten. Diese Religionsge
schichte lafit die stummen Trummerstucke fremder ver-
gangener Religionen red en und haucht ihren Bildwerken
Leben ein. Und doch ist dies erst die Vorgeschichte. Das
Neue Testament und das Christentum treten nun ein. Wie
170 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: VI.
dieses einerseits als der Abschlufl der ganzen bisherigen
religionsgeschichtlichen Entwicklung erseheint durch eine
ungeheure Reduktion, die den Kern aller Religion enthullt
und in Kraft setzt, so erscheint es andererseits als die
zweite Stufe in der Religionsgeschichte, auf der sich alle
friiheren Erscheinungen der Religion in eigentumlicher Um-
formung und gesteigert wiederholen. Nehmen Sie z. B.
den abendlandischen Katholizismus mit seinen mittelalter-
lichen Nebenschofllingen und iiberschauen Sie ihn in der
ganzen Breite seiner Entwicklung. Sie werden finden,
dafl es kaum eine religiose Lehre, kaum einen religiosen
Ritus gibt, so viele ihrer in der Geschichte aufgetaucht
sind, die dort nicht ihre Parallelen haben. Weiter, Sie
werden keine religiose Stimmung entdecken, von der
demiitigen und zartesten Hingebung an das Heilige bis
zur herrschsuchtigeB. Leidenschaft, die nicht dort ihre Ver-
treter, ja sogar ihre Anweisungen und Vorschriften hat.
Und von dem reinsten Monotheismus, wie ihn Augustin in
den Konfessionen ausgepragt, bis zu einer naiven Heiligen-
verehrung finden sich hier alle denkbaren Standpunkte
wieder. Die ganze Religionsgeschichte in der Sukzession
ihrer Erscheinungen ist auf katholischem Boden gleichsam
repetiert und unifiziert; aus dem Nacheinander ist ein
JSTebeneinander geworden. Will man aber feststellen, in
welche Verbindungen die Religion mit der Wissenschaft,
dem Welterkennen, der Ethik, der Politik, der Jurisprudenz
treten kann und in welchen Verbindungen sie mit den
wirtschaftlichen Verhaltnissen steht, so ist es wiederum die
Geschichte der christlichen Religion, die dafiir das eigent-
lich entscheidende Material liefert. Religion und Wissen
schaft — man studiere Origenes, Augustin, Thomas von
Aquino und Schleiermacher ; grofiere Theologen wird man
nirgendwo finden. Religion und Politik — man studiere
die Geschichte der Gregore und Innocenze, die Politik
der Papste. Religion und Jurisprudenz — man lese Al-
Die Aufgabe der theologischen Fakultftten. 171
plions von Liguori. Uberall 1st innerhalb der christlichen
Kircliengeschichte nicht nur die Fulle der Moglichkeiten
nahezu erschopft, sondern diese selbst sind in Reprasen-
tanten von unubertreif licher Klarheit und Kraft vorhanden.
Wie soil es daher den Kirchenhistoriker, auch wenn er for
die Religion im weitesten Sinn des Worts lebendiges In-
teresse hat, locken, sich zu den Babyloniern, Indern und
Chinesen oder gar zu den Negern oder Papuas zu be-
geben? Endlich aber — und dies ist vielleicht das Wich-
tigste — - hier hat er eine lebendige Religion vor sich und
um sich. Wir haben in der Biologie langst und in der
Sprachwissenschaft jiingst gelernt, dafi man einen Orga-
nismus nur als lebendigen wirklich verstehen kann. Erst
als man das Sprechen zu belauschen anfing, ist man wirk
lich in die Sprache eingedrungen, und nun erst gelang es,
sichere Lautgesetze und Rhythmen zu finden, vage Moglich
keiten auszuschalten und die Fiille der Erscheinungen in
organisch bedingte und in irrationalhistorische zu scheiden.
Mutatis mutandis gilt dasselbe von der Religionsgeschichte.
Wahrhaft sichere Erkenntnisse konnen nur an der leben
digen Religion, an der Erkenntnis der Frommigkeit selbst
gewonnen werden. Zwar ist die Aufgabe eine ungleich
schwerere wie bei der Sprache; denn das Sprechen selbst
ist die Sprache, aber die Religion liegt stets hinter ihrer
sinnlichen Erscheinung; auch das schlichteste Q-ebet ist
bereits ein Abgeleitetes. Dennoch wiirde sich die Wissen-
schaft der Religion ihres wichtigsten Hilfsmittels selbst be-
rauben, wollte sie sich auf das tote Material beschranken.
Zurzeit ist sie hier noch sehr zuruckhaltend — nicht ohne
Q-rund, denn sie sieht, wie manche Neuerer in wunderlicher
Einseitigkeit nur gewisse Exzentrizitaten einer echauffierten
Frommigkeit fur Religion zu halten scheinen — ; indessen
langsam und sicher nahert sie sich der neuen Aufgabe.
Dann aber ist es wieder die christliche Religion, die im
Vordergrunde stehen und das Feld behaupten wird. Nicht
172 Zweiter Band, erste Abteihmg. Reden: VI.
nur well die Forscher Christen sind, sondern weil die
reichsten und mannigfaltigsten Formen religiosen Lebens
hier dicht nebeneinander stehen und zusammen iiberschaut
werden konnen. Man gehe mit einem franzosischen Schrift-
steller nach Lourdes und beobachte die wundersiichtige
Frommigkeit , wie sie sich dort ausspricht; dann versetze
man sich im Geiste in ein evangelisches Pfarrhaus, in
welchem die Uberlieferungen von Luther und Schleier-
macher regieren. Man studiere die Frommigkeit des russi-
schen Volkes, wie sie uns Tolstoi in seinen Dorfgeschichten
geschildert hat, und stelle einen puritanischen Christen
Ainerikas oder einen Offizier der Heilsarmee daneben. Ge-
wifi gebieten der Buddhismus und der Islam iiber einen
ahnlichen Reich turn; aber im besten Falle lernten wir hier
unsicher, was wir bei uns selbst besser und sicherer zu er-
kennen vermogen. Manche Typen christlicher Frommig
keit aber, und gerade die hochsten, haben dort keine
Parallelen, wahrend mir das Umgekehrte nicht bekannt
ist. Selbst die rasenden Derwische haben in der Kirchen-
geschichte aller Zeiten, auch der neuesten, ihr Analogon,
und es gibt keine so entsetzliche Form der "Weltnucht und
keine Schwarmerei, die sich nicht auch bei christlichen
BilGern und Visionaren heute noch fande.
Aber mit dem Hinweis auf den Umfang und die Fiille
des Christentums, dessen Studium das Studium der iibrigen
Religionen nahezu ersetzt, ist doch nicht das Entschei-
dende in der Frage, die uns hier beschaftigt, gesagt. Wir
wiinschen, daB die theologischen Fakultaten fur die Er-
forschung der christlichen Religion bleiben, weil das
Christentum in seiner reinen Grestalt nicht eine Religion
neben anderen ist, sondern die Religion. Es ist aber die
Religion, weil Jesus Christus nicht ein Meister neben an
deren ist, sondern der Meister, und weil sein Evangelium
der eingeborenen, in der Greschichte enthiillten Anlage der
Die Aufgabe der theologischen Fakultaten. 173
Menschheit entspricht. Ich habe vorhin ausgefuhrt, dafi
die Bibel es sei, welche den Mittelpunkt aller Studien der
theologischen Fakultaten bilde. JSToch genauer miifite ich
sagen: dieser Mittelpunkt ist Jesus Christus. Was die ersten
Jiinger von ihm empfangen haben, das geht weit iiber die
einzelnen Worte und iiber die Predigt hinaus, die sie von
ihin gehort hatten, und darum iiberbietet das, was sie iiber
ihn ausgesagt und wie sie ihn erfafit haben, sein eigenes
Selbstzeugnis. Das konnte nicht anders sein: diese Jiinger
waren sich bewufit, an Christus nicht nur einen Lehrer zu
besitzen, sondern sie haben einen inneren Tatbestand so
zum Ausdruck gebracht und gedeutet, wie sie ihn durch
Christus erlebt hatten und wie sie ihn empfanden. Sie
wufiten sich als erloste, neue Menschen, eiiost durch ihn.
Darum haben sie ihn als den Herrn und Heiland ver-
kiindigt, und in dieser Predigt ist das Christentum durch
die Jahrhunderte gegangen. Ist dies aber keine Illusion,
sondern eine fortwirkende Tatsache, dann gibt es inner-
halb der Greschichte fur die Menschheit keine wichtigere
Angelegenheit als diese, und es ist wohlgetan, dafi man
dieser Religion, die darbietet, was die anderen erstreben,
auch bei der Gruppierung der Aufgaben der Wissenschaffc
ihren besonderen Platz anweist. Nicht als ob es der wissen-
schaftlichen Erkenntnis moglich ware, alles das von den
Wirkungen dieser Religion und von ihrem Stifter auszu-
sagen, was der Grlaube bekennt oder die fromme Speku-
lation behauptet — die Religion selbst entriickt ja den
Weg zu ihrem tiefsten Inhalte den Anstrengungen des
Verstandes, und die Spekulationen sind von verganglichen
zeitgeschichtlichen Elementen abhangig. Wohl aber bejaht
die geschichtliche Erkenntnis den Anspruch dieser Religion,
das hochste Grut zu sein, welches die Menschheit besitzt,
das heilige Gut, das sie iiber die Welt erhebt, ihre wahre
Freiheit und Briiderlichkeit begriindet und ihr ein sicheres
Ziel steckt. Innerhalb der Wissenschaft und mit den be-
174 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
scheidenen Mitteln, die sie hier darbietet, Hnterin dieses
geistigen Gruts zu sein, es in seiner Reinheit zu bewahren,
vor MiBverstandnissen zu schiitzen und seine gesehichtlich
erkennbaren Ziige zu immer klarerer Erkenntnis zu bringen
— das ist die Aufgabe der evangelisch-theologischen Fa
kultaten. Mit dieser hohen Aufgabe betraut, mussen sie
es ablehnen, sich mit den Religionen der ganzen Erde ver-
antwortlich zu belasten. Sie wollen dariiber keinen Zweifel
lassen, dafi sie sich. um die Religion iiberhaupt bemuhen,
indem sie sich um das Christentum bemuhen, und daJ3 sie
nicht nur die Kenntnis, sondern mit ihr auch die G-eltung
desselben in Kraft erhalten wollen.
Damit bin ich zu dem Letzten gekommen: die theolo-
gischen Fakultaten haben auch einen praktischen Beruf,
und auch um dieses Berufs willen soil der Kreis ihrer
Aufgaben unverandert bleiben. Sie haben, wie es in den
Statuten unserer Fakultat heiflt, wdie sich dem Dienst der
Kirche widmenden Jiinglinge fur diesen Dienst tiichtig zu
machen". Mit der evangelischen Kirche also stehen sie in
einem Zusammenhang, und sie sind sich der Verantwortung
bewuflt, die ihnen dieses Verhaltnis auferlegt. In der Auf-
fassung ihrer Pflichten hier bestehen freilich noch driickende
Verschiedenheiten, die zu schweren Spannungen gefuhrt
haben. Q-eschichtlich sind diese Spannungen wohl ver-
standlich. Einst gait fur alle vier Fakultaten die oberste
Bestimmung, dafi sie eine feste, ein fur allemal gegebene
Lehre zu tradieren haben. Fur die Juristen war es die
des Corpus juris, fur die Mediziner Hippokrates und Q-alen,
fiir die Philosophen Aristoteles und fur die Theologen
waren es die symbolischen Biicher. Unter schweren Krisen
setzte sich seit dem Anfang des 18. Jahrhunderts ein neuer
Begriff von Wissenschaft durch und unterwarf sich die
Universitaten: Wissenschaft ist nicht abgeschlossene Lehre,
sondern stets zu kontrollierende Forschung, und Wissen
schaft ist allein an die kritisch geordnete Erfahrung ge-
Die Aufgabe der theologiscken Fakultaten. 175
bnnden. In den anderen Fakultaten hatte sich diese neue
Auffassung, die den padagogischen Beruf gewifl bedeutend
erschwert, am Anfang des 19. Jahrhunderts durchgesetzt.
Auch in den evangelisch-theologischen Fakultaten war
man damals so weit. Da brach eine schwere Reaktion
ein, in mancher Hinsicht sachlich berechtigt; aber bald
suchte sie diese Fakultaten in ihrer Freiheit um ein Jahr-
hundert und mehr zuriickzuwerfen. In heiCem Kampfe
haben sie ihren wissenschaftlichen Charakter zwei G-ene-
rationen hindurch erstreiten mussen. Der Kampf ist noch
nicht beendigt; aber in weitesten Kreisen der evangelischen
Kirche selbst und derer, die sie leiten, ist doch die Uber-
zeugung zum Durchbruch gekommen, dafi der evange
lischen Theologie dieselbe Freiheit zu gewahren ist wie
jeder anderen Wissenschaft. Man kann wohl in der Politik
zwischen Freiheit und Zwang einen Mittelweg ausfindig
machen, indem man bald diesen, bald jene walten und aus
diesem Zickzack eine Art von mittlerer Marschroute ent-
stehen laflt; aber in bezug auf die Frage, ob man die Er-
kenntnis frei lassen soil oder nicht, gibt es kein mittleres
Verfahren; denn sie ist schon in Banden geschlagen, wo
auch nur der Schein einer Bevormundung entsteht. Man
wendet dem gegenuber die Ubersturzungen und Fehler der
freigelassenen "Wissenschaft ein und dafi sie nun der Praxis
die alten Dienste nicht mehr voll leisten konne — aber was
will das besagen gegenuber der furchtbaren Kalamitat, die
notwendig eintreten mufi, der Kalamitat, dafi dem Lehrer
die Freiheit gebrochen wird, und der Lernende die Inte-
gritat und Wahrhaftigkeit seines Lehrers beargwohnen
muB. Ein einziger solcher Fall wiegt zehnmal all den
Schaden auf, der durch MiJJbrauch der Freiheit entsteht.
Die evangelische Kirche selbst wiinscht solch einen Zu-
stand nicht, und sie wird sich lieber bei der Tatsache be-
scheiden wollen, dafl ihr die theologischen Fakultaten nicht
mehr dasselbe leisten wie friiher, als dafi sie sie in Ver-
176 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
suchung fuhre. Ob diese Fakultaten ihr aber niclit im
freien Dienst Besseres gewahren, darf man wohl fragen.
Wilhelm v. Humboldt hat einst das tiefe Wort ge-
sprochen: ,,Die Wissenschaft giefit oft dann ihren wohl-
tatigsten Segen auf das Leben aus, wenn sie dasselbe ge-
wissermaBen zu vergessen scheint." Das gilt auch liier.
Wir konnen und diirfen bei unsrer geschichtlichen Arbeit
nicht an die Lehren und Bediirfnisse der Kirchen denken;
wir waren pflichtvergessen, wenn wir in jedem einzelnen
Fall etwas anderes im Auge hatten als die reine Erkenntnis
der Sache. Aber dafi ein Theologe kein Herz fiir seine
Kirche hatte, fiir ihr Bekenntnis und fur ihr Leben, dafi
er nicht lieber ihr beistimmen als sie korrigieren mochte,
dagegen spricht alle Erfahrung. Was sollte ihn auch
locken, in diesen verantwortungsvollen Beruf einzutreten
nnd in ihm zu verharren, wenn nicht die Sache selbst,
welche der Theologie und der Kirche gemeinsam ist? Die
theologischen Fakultaten werden nicht aufhoren, sich der
Kirche verpflichtet zu wissen im freien Dienst; sie wollen
sie nicht meistern, sondern bieten ihr an, was sie erarbeitet
haben. Dafi aber die zukiinffcigen Diener der evangelischen
Kirche durch eine solche Schule hindurchgehen, die sie zur
ernstesten Priifung auffordert, das entspricht letztlich den
obersten Grrundsatzen dieser Kirche selbst.
Ich habe die Grriinde darzulegen versucht, welche die
theologischen Fakultaten bestimmen, die alte Aufgabe in
Kraft zu erhalten und nicht Fakultaten fiir allgemeine
Religionsgeschichte zu werden; auch mit einem Lehrstuhl
fiir diese uniibersehbare Wissenschaft ist es hier nicht ge-
tan. Wohl mag es einzelne besonders ausgezeichnete und
arbeitskraffcige Manner geben, die ihn zur Not zu bekleiden
vermogen; aber das sind seltene Ausnahmen. Um so leb-
hafter aber ist unser Wunsch, daB der Indologe, der Arabist,
der Sinologe etc. auch der Religion des Volkes, dem er sein
Studium gewidmet hat, voile Beachtung schenke und die Er-
Die Aufgabe der theologischen Fakultaten. 177
gebnisse seiner Arbeit in Vorlesungen und Biichern mitteile.
Dankbar hat die evangelische Theologie von solchen Werken
bereits Grebrauch gemacht und durch sie nicht nur ikren
G-esichtskreis erweitert, sondern auch ihr kritisches Ver-
mogen gescharft. Dafi kein Theologe die Universitat ver-
laflt, ohne eine gewisse Kenntnis mindestens einer auBer-
christlichen Religion, ist ein Wunsch, der sich vielleicht
verwirklichen laBt; wir rechnen dabei auch auf die bereits
erprobte Hilfe wissenschaftlich gerichteter Missionare, die
in die Heimat zuriickkehren. Aber indem wir bei der
alten Aufgabe unsrer Fakultat verharren, geschieht dies
in der doppelten Voraussetzung, dafi ihrer Freiheit keine
Schranken gezogen werden, und dafi sich iiber die aufieren
Zaune hinweg Vertreter verwandter Facher — wie zur Zeit
der Anfange unserer Universitat — die Hand reichen zu
gemeinsamer Forschung. Vielleicht kommen wir so nach
langer, langer Arbeit zu einer vergleichenden Religions-
wissenschaft. Vor drei Menschenaltern , als diese unsere
Universitat gestiftet wurde, glaubte man diesem Ziele naher
zu sein als heute. Wie oft ist es doch der Wissenschaft
schon begegnet, dafi die Fiille neuer Erkenntnisse sie schein-
bar zuriickgeworfen hat. Indem man reicher wurde, wurde
man armer, armer an allgemeinen Erkenntnissen. Mogen
uns in der Wissenschaft Manner geschenkt werden, die
auf dem Grunde solider Forschung den Mut der Zusammen-
fassung haben; denn jede Zusammenfassung ist Tat des Mu-
tigen. Moge unsere Universitat fort und fort der G-eist be-
leben, der in Schleiermacher und Humboldt lebendig
war; moge der Hochsinn Fichtes in uns und unseren Kom-
militonen niemals aussterben; moge mit diesem Hochsinn
verbunden bleiben die Ehrfurcht vor den gottlichen Dingen,
vor dem Wirklichen, vor jedem ehrlichen Beruf — jene Ehr
furcht, welche die lebendige Wurzel aller Gresittung ist. So
wird uns das strahlende Morgenrot unseres Aufgangs einen
dauernden Sonnentag bedeuten! Dafi aber die herrlichen
Harnack, Reden und Aufsiitze. 2. Aufl. II. 12
Zweiter Band, erste Abteiluns-. Keden: VI.
Manner, deren Erben wir sind, zu Baumeistern des Baues
berufen wurden, den wir mit Stolz den unsrigen nennen, das
verdanken wir unserem Koniglichen Stifter. Seine Huld und
Seinen Schutz hat Er vererbt auf Seine Nachfolger, vererbt
auf Seinen Urenkel, unseren Konig und Herrn. Ihm ist die
Wissenschaft, Ihm ist diese unsre Universitat ein teures Grut,
und wir haben die zuversichtliche und gegriindete Hoff-
nung, daB Er wie Er ihr Erhalter bleiben, so auch ihr Mehrer
Bein wird. Gott schutze den Konig!
Nachwort.
In Nr. 39 der ,,Christlichen "Welt" hat D. Bade meine
unter vorstehendem Titel gehaltene Rektoratsrede be-
sprochen, manchen wichtigen Punkten zugestimmt, aber
,,mit Bedauern wahrgenommen", dafi ich die Errichtung
besonderer Lehrstiihle for die allgemeine Religionsgeschichte
bei den theologischen Fakultaten ablehne.
Die Frage, ob solche Lelirstiihle errichtet werden sollen,
1st eine praktisch-organisatorische oder schultechnische; man
kann daher zweifeln, ob sie fiir den Leserkreis dieser Zei-
tung hinreichendes Interesse bietet. Indessen da sie ein-
mal hier aufgeworfen worden ist, so sei es rrn'r gestattet,
mich auch vor den Freunden der Christlichen Welt zu
inr zu auJBern.
Zunachst nmfl ich ein MiCverstandnis beseitigen. D.
Hade schreibt: wMan erfahrt beilaung, dafi die preufiische
Regierung nicht daran denkt, Lehrstiihle fur allgemeine
Religionsgeschichte bei den theologischen Fakultaten zu er-
richten." Das klingt so, als hatte ich mich iiber die Ab-
sichten der Regierung auf Grrund einer besonderen Infor
mation geaufiert. Allein das ist nicht der Fall; ich habe
lediglich den naheliegenden Einwurf eines Dritten vorweg-
genommen, man solle doch nicht iiber eine aussichtslose
Sache streiten. Uber das, was das preuCische Unterrichts-
ministerium in dieser Frage will oder nicht will, bin ich
nicht unterrichtet.
Sodann muC ich auf die Frontstellung meiner Rede
aufmerksam machen, die Hade, sei es durch meine Schuld,
12*
180 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: VI.
niclit richtig verstanden hat. Sie richtet sich doch nicht
gegen diejenigen, welche die wissenschaftliche Erforschung
der christlichen Religion gegeniiber den anderen Religionen
absperren wollen — in der Wissenschaft haben wir es mit
ihnen nicht zu tun — , sondern gegen die, welche die theo-
logischen Fakultaten bereits aufgelost haben (Holland), so-
wie gegen die, welche die zentrale Stellung der christlichen
Religion verwischen oder den wissenschaftlichen Charakter
der Theologie bemangeln, wenn diese nur das Christentum
und nicht auch die anderen Religionen zn ihremObjekt macht.
Nun wird es von Q-ewinn sein, wenn ich das MaB der
tJberemstimmung, welches zwischen Rade und mir in dieser
Frage besteht, feststelle. Ich fasse es in drei Thesen zu-
sammen, fur die ich der Zustimmung meines Freundes
sicher bin:
1. Die Erforschung und Darstellung der christlichen
Religion soil aus sachlichen und aus praktischen Grriinden die
eigentliche Aufgabe der theologischen Fakultaten bleiben;
diese sollen nicht in Fakultaten fur allgemeine Religions-
geschichte verwandelt werden.
2. Die Greschichte der christlichen Religion kann nach
Ursprung und Entwicklung nicht ausreichend verstanden
werden, wenn man nicht jene Q-ruppe fremder Religionen
beriicksichtigt, die einen starken Einnufi auf sie ausgeiibt
und ihr wesentliche Momente zugefiihrt haben. Ihre Kennt-
nis ist aber auch deshalb unerlafilich, weil sich die Natur
und der Spielraum zentraler religioser Faktoren (Offen-
barungsglaube, Bedeutung des Kultus, Propheten, Priester
usw.) und Anschauungsformen nur durch eine Vergleichung
sicher ermitteln und erkennen lafit.
3. Dariiber hinaus ist nicht nur die Kenntnis anderer
Religionen, sondern auch die der ganzen Religionsgeschichte
— ideal genommen — ein notwendiges Erfordernis; daher
ist jede solide Erweiterung des theologischen Arbeitsfeldes
in dieser Richtung als Fortschritt zu begriifien.
Die Aufgabe der theologischen Fakultaten. 181
Ergibt sich nun aus diesen Satzen die Forderung, es
miifiten bei den theologischen Fakultaten Lehrstiihle fiir
allgemeine Religionsgeschichte errichtet werden? 1st der
ein Reaktionar, der sie ablehnt? Wenn in einer solchen
Frage die abstrakte Theorie oder die Traume wissenschaft-
licher Konstruktore entschieden, so mag's sein. Aber wir
haben es mit den wirklichen Verhaltnissen zu tun.
Ich frage erstens: Wie steht es denn zur Zeit mit der
„ allgemeinen Religionsgeschichte" und zweitens : „ Was haben
die theologischen Fakultaten, bes. unsre Studenten notig?"
In bezug auf die „ allgemeine Religionsgeschichte" hort
man in Deutschland immer nur von einem Kolleg sprechen,
welches Bedeutung erlangt habe, das des verewigten Roth,
der in Tubingen Professor der indischen Philologie gewesen
ist. Diese Vorlesung mag sehr anregend und sehr nutzlich
gewesen sein; aber wenn die evangelische Theologie seit
dreifiig Jahren Fortschritte in dem Studium fremder Re-
ligionen und in bezug auf ihre Vergleichung mit der christ-
lichen gemacht hat, so verdankt sie das — soweit meine
Kenntnis reicht — nicht oder nur zum kleinsten Teil dem
Einflufi jenes Kollegs. "Weder zeichnen sich die wiirttem-
bergischen Theologen, die unter Roths Einflufi gestanden
haben, durch besondere Energie in religionsgeschichtlicher
Hinsicht aus, noch sind meines Wissens die Theologen, denen
hier besondere Verdienste gebiihren, von Roths Vorlesung
beeinflufit worden. Andere Nam en sind zu nennen, Namen
von sehr verschiedenen Mannern, die Spezialisten waren
oder sind, aber aus ihren speziellen Studien heraus auf
ganz bestimmte religionsgeschichtliche Probleme gefuhrt
wurden und fur diese Enthusiasmus und Eifer zu ent-
ziinden verstanden. Ich glaube mich nicht zu irren, wenn
ich behaupte, dafi z. B. Lagarde und Usener der reli-
gionsgeschichtlichen Forschung innerhalb der evangelischen
Theologie einen sehr viel kraffcigeren AnstoB gegeben haben
als Roth, und dafi der stille Einflufi, den E ich horn auf
182 Z welter Band, erste Abteiktng. Reden: VI.
die jiingeren Kirchenhistoriker ausiibt, wirksamer 1st als
ein allgemeines religionsgeschichtliches Kolleg.
Und wie steht es rait den Handbuchern und der all-
gemeinen religions wissenschaftlichen Literatur? Wir haben
den Tiele und den Chantepie de la Saussaye, dazu sehr
lehrreiche religionswissenschaftliche Zeitschriften. Wir freuen
uns dieses Besitzes; aber glaube niemand, dafi der Eintritt
in die Religionswissenschaft durch diese Kaserneiihofe fiilirt.
Mcht einmal Interesse vermag jemand aus den Zusammen-
stellungen zu gewinnen, kaum das vorhandene zu starken.
Wem es gelingt, den Chantepie de la Saussaye durchzu-
lesen, dem widme ich meine Bewunderung. Ich glaube
aber nicht, dafi das jemand schon fertig gebracht hat, es
sei denn, dafi ihn der Greist trieb, ein Kolleg iiber allge-
meine E/eligionsgeschichte zu lesen.
Wer will denn allgemeine Sprachgeschichte — ich meine
nicht Einleitung in die Sprachwissenschaffc — horen und wer
ist so unvorsichtig, sie als Vorlesung anzukundigen? Gribt
es deshalb keine allgemeine Sprachwissenschaft? Mit der
allgemeinen Religionsgeschichte steht es aber noch anders.
Sie umfafit Sprache, My thus, Sitte, Kultur, Wissenschaft,
kurz die Geschichte der Volker und ist von ihnen nicht
zu trennen. Oder soil aus den verschiedenen Religionen
der Volker je ein ,,Prinzip" gemacht und dann lustig rait
diesen ,,Prinzipien" gebaut werden? Die Zeiten sind vor-
iiber. Aber es gibt doch auch „ Allgemeine Weltgeschichte" ,
und man liest daruber sogar Vorlesungen? GrewiG, aber
man hat sich langst verstandigt, was man unter diesem
Titel versteht — politische Greschichte. Die, welche den
Begriff erweitern und eine wirkliche Universalgeschichte
aus ihm machen wollen, markieren entweder nur die un-
endliche Aufgabe, an der wir alle arbeiten, oder treiben
allerlei feuilletonistischen Unfug.
Eine allgemeine Religions geschichte gibt es auch nur
als unendliche Aufgabe vieler Disziplinen, und dafur richtet
Die Aufgabe der theologisclien Fakultaten. 183
man keine Lehrstuhle ein, weder bei der theologischen noch
bei der philosophischen Fakultat.
Also soil allgemeine Religionsgeschichte schlechterdings
nicht gelesen werden? Das 1st nicht meine Meinung und
folgt auch nicht aus dem Gresagten. Wer eine Religion
griindlich in ihren Beziehungen und ihrer Greschichte stu-
diert hat, dem werden wir gern zuhoren, wenn er den Mut
und die Lust hat, seine Kenntnisse und Gredanken in bezug
auf andere Religionen zu offenbaren. Er wird — wenn er
kein Schelm ist, der mehr gibt als er hat - - sie zeichnen,
wie er sie von der Stelle aus sieht, die er beherrscht, also
in Umrissen, wie man eine feme Berglandschaffc zeichnet,
und ohne eine Intimitat zu simulieren, die er nicht be-
sitzt. Eindringen in eine fremde Religion kann nur wer
sie nachzuerleben vermag. Auch solche Virtuosen, die
das fur ein Dutzend Religionen vermogen, mag es geben;
aber dadurch, dafi man aus Biichern der verschiedensten
Autoren verschiedene Religionen zusammenriickt, entsteht
keine n Allgemeine Religionsgeschichte".
Angenommen, man entschlosse sich heute in Deutsch-
land in die evangelisch- theologischen Fakultaten oder in
die philosophischen Professoren fur allgemeine Religions-
geschichte zu setzen, woher sollten sie kommen? Und
wenn - - wie das selbstverstandlich ware — nur solche
Q-elehrte gewahlt wiirden, die eine Religion samt Sprache
und Greschichte griindlich beherrschten, ist nicht sicher zu
hoifen, dafi diese so verstandig waren, der Unterrichtsver-
waltung zu erklaren: ,,Den Lehrauftrag fur allgemeine
Religionsgeschichte bitten wir als einen unverbindlichen
betrachten zu diirfen; wir wollen iiber eine Religion und
daneben Religionsgeschichtliches im allgemeinen Sinne, aber
nicht Religionsgeschichte, lesen."
Und nun - - was haben die theologischen Fakultaten,
bez. unsre Studenten notig?
Erstlich, sie haben gewisse Kenntnisse anderer Reli-
184 Zweiter Band, erste Abteilung. Beden: VI.
gionen notig, um, wie ich sclion sagte, die Natur und den
Spielraum der grofien Elemente nnd Anschauungsformen
der hoheren Religionen zu erkennen; diese Kenntnis wird
ihnen in den Vorlesungen iiber alttestamentliche und ur-
ckristliche Disziplinen, sowie in religionsphilosophischen
nnd systematischen Vorlesungen mitgeteilt. Hier bedarf
es aber keineswegs einer vollstandigen religionsgeschicht-
lichen Induktion, um diese Hauptfaktoren zu wiirdigen.
Das Wichtigste leistet bereits die Religion der Testamente
und die Vielheit der christlichen Bildungen in den zwei
ersten Jahrhunderten. Was z. B. Propheten sind und was
Prophetismus , und wie sich diese Erscheinung entwickelt,
kann man mit fast hinreichender Deutlichkeit am Alten
und Neuen Testament lernen, und was Opfer und Priester
sind, nicht minder an jenem. Aus der allgemeinen Eeli-
gionsgeschichte gewonnenes Material wird freilich hier
manches verdeutlichen und sicherstellen.
Zweitens, eine konkrete Kenntnis bestim.mter Phasen
der babylonischen, persischen, vorderasiatischen und grie-
chischen Religionen ist erforderlich, um wichtige, zum Teil
grundlegende Erscheinungen der testamentarischen Reli-
gionsgeschichte, bez. der Kirchengeschichte, sei es zu ver-
stehen, sei es genetisch zu erklaren, und deshalb begriiCen
wir jeden alt- oder neutestamentlichen Theologen, der sich
mit einer dieser Religionen oder mit mehreren grlindlich
beschaftigt. Im einzelnen ist freilich dabei allerlei zu er-
innern. Das wichtigste Moment scheint mir zu sein, daB
fur die Epoche, in der wir die fremden Heligionen in
dringendster "Weise in Anspruch zu nehmen haben (300
vor Christus bis 300 nach Christus), sie sich teils durch
parallele Entwicklung, teils durch Austausch, teils durch
philosophisch-ethische Zersetzung soweit einander genahert
haben, dafi die Zuriickfuhrung auf die urspriinglichen Ele
mente im einzelnen Fall teils aussichtslos, teils ohne Nutzen
ist. Sie sind alle neu und relativ gleichartig geworden —
Die Aufgaben der theologischen Fakultaten. 185
zumal unter dem Prinzipat des Hellenismus — , nnd es ist
daher ziemlich gleichgiiltig , was sie einst gewesen sind;
denn ihre urspriingliche Natur 1st zum Phlegma geworden.
Und mag auch hier und dort dieses Phlegma in urspriing-
licher Energie noch eine Kraft geblieben sein — wir wollen
den ausgezeichneten Grelehrten, die es herausspiiren, Dank
wissen — , so ist es doch ungleich wichtiger, die neuen
religiosen und geistigen Stimmungen, Wiinsche und Er-
kenntnisse zu erheben, die so laut sprechen und die unter
der Hulle der physikalisch-historischen Weisheit der judi-
schen Apokalyptiker oder der zu geschich.tlich.en Legenden
aufgestutzten uralten My then der religiosen Erzahler oder
der Aonenlehre der Grnostiker so gleichartig zum Ausdruck
kommen. Das Zeitalter der Apokalypsen, der neutestament-
lichen Schriftsteller und der G-nostiker ist auch das Zeit
alter der Allegorie; das steht fest. Zusehen mogen also
die, die es angeht, dafi sie nicht fur die 600 Jahre von
Alexander bis Diokletian eine Munzsammlung zusammen-
stellen, die zwar durch das hohe Alter hochst interessant
ist, deren Stiicke aber zum grofiten Teil bereits damals
aufier Kurs gesetzt waren oder den aufgepragten Wert
verloren hatten. Nun bitte ich, dafi man mich nicht so
versteht, als wollte ich mit dieser Betrachtung alien Stoff,
um den es sich hier handelt, als bereits in den Hellenismus
eingeschmolzen bezeichnen. Das fallt mir nicht ein; aber
dies wollte ich allerdings sagen, dafi fur die angegebene
Epoche genetische Untersuchungen (in bezug auf die Ur-
spriinge religioser Erscheinungen) hinter der Erhebung des
Tatbestandes selbst und der Darlegung seiner geistigen
Bedeutung zuriickzutreten haben, weil jene Untersuchungen
teils aussichtslos , teils unerheblich, teils sogar irrefuhrend
sind. Irrefuhrend konnen sie werden, wenn der Forscher
nicht angibt, wie der eisgraue Mythus, den er in einer
religiosen Erscheinung des hellenistischen Zeitalters ent-
deckt hat, verwertet und empfunden worden ist, ob als
186 Z welter Band, erste Abteiltmg. Eeden: VI.
handf ester GJ-laube oder als unverstandener Gegenstand der
Pietat oder als Form der religiosen Vorstellung oder als
Unterlage fur eine Allegorie oder als Zukunftsbild oder als
Schmuck und Poesie.
Was folgt aus dem alien flir unsre Frage? Ich meine,
dafi wir den Grang der Dinge preisen sollen, welcher die
langsame Erforschung der Religionen des synkretistischen
Zeitalters den Theologen und den Hellenisten unter den
Grrazisten zugewiesen hat. "Welchen Grewinn wiirde die
theologische Wissenschaft davon haben, wenn sie in ihre
Fakultaten Q-elehrte als allgemeine Religionshistoriker be-
kame, deren Spezialgebiet das Babylonisch-Assyrische oder
das Persische oder auch das klassisch G-riecliisclie ware?
Diese Manner wiirden gewifi so verstandig sein, alle ihre
Kraft der klassischen Grestalt der betreffenden Religion zu-
zuwenden und hatten fiir die Zersetzung derselben ein ge-
ringeres Interesse; diese aber interessiert uns. Unsere
Theologie-Studierenden mogen jene Gfelehrten eifrig horen
— ich freue mich iiber jedes religionsgeschichtliche Spezial-
kolleg, das ich im Belegbuch eines Studenten finde — ,
aber sie fur unsre Fakultaten in Anspruch zu nehmen, da-
fur fehlt jeder Grund. Eine besondere Spezies von Reli-
gionshistorikern aber zu schaffen, die sich nur in den theo-
logischen Fakultaten sehen lassen diirfen, dafiir danken wir.
Diese Verhaltnisse liegen so klar und sind auch in
meiner von Rade angegriffenen Rektoratsrede so unmifi-
verstandlich angedeutet, dafl man nach einer besonderen
Ursache suchen muB, welche den Angriff erklart. Tausche
ich mich nicht, so haben wir an die wohl verstandliche
Empfindlichkeit moderner Theologen zu denken. Weite
Kreise in der Kirche beanstanden es noch — von ihrem
Standpunkt mit vollem Recht — , dafi bei der Erforschung
der christlichen Religion fremde Religionen iiberhaupt an-
ders als des Kontrastes wegen herangezogen werden. Unter
diesem starken Druck hat der Herausgeber der Christlichen
Die Aufgaben der theologischen Fakultaten. 187
Welt den Q-leichmut nicht ganz bewahrt und deshalb
meiner Rede, well sie in bezug auf die allgemeine Reli-
gionsgeschichte und die theologischen Fakultaten Schranken
iiberhaupt erwahnt, ein ,,Bedauern" nachgesandt, wahrend
hier doch nichts zu bedauern ist. Fiir die der allgemeinen
Religionsgeschichte gewidmeten Lehrstiihle bei den theo
logischen Fakultaten wird er sich bei ruhiger Erwagung
schwerlich noch erwarmen. Um diese allein handelt es
sich aber; denn in die seltsame Lage hat mich Hade doch
nicht bringen wollen, mich gegen den Vorwurf, die Theo-
logie verwandten Disziplinen gegeniiber abzusperren, ver-
teidigen zu iniissen.
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND . ERSTE ABTEILUNG <&2
REDEN: VII
DIE KONIGLICH PREUSSISCHE AKADEMIE
DER WISSENSCHAFTEN
Rede
zur Zweihundertjahrfeier der Akademie gehalten in der Festsitzung
am 20. Marz 1900 und erschienen in den Sitzungsberichten der Akademie.
Wo nur immer ein holier Tag festlich begangen wird,
da empfangt er seine "Weihe durch geschichtliche Erinnerung.
In besonderem Sinne gilt dies von den Festen der Wissen-
schaft. Sie, die stets in einem historischen Elemente lebt,
sucht an solchen Tagen ihre lebendige Geschichte auf. Freu-
dig feiert sie die Manner, aus deren Handen sie das Erbe
empfangen hat, und vertieft und erweitert ihre Geschichte,
bis sie sie als Geschichte des Geistes zu fassen vermag.
So lassen auch wir an dem heutigen Tage die Erinnerung
walten und gruBen die Vorfahren, die ihn uns bereitet
haben. Wir griiUen dankerfiillt das erlauchte Herrscher-
paar, welches diese Akademie gestiftet hat; wir griifien
ehrfurchtsvoll die stolze Heihe unserer Konige und Protek-
toren; wir grufien alle die, welche diese Schopfung in Kraft
und Glanz erhalten haben, die Gelehrten und Staatsmanner,
von Leibniz an bis zu den Forschern, die jiingst aus
unserer Mitte geschieden sind.
Wiirdig aber ist es, dafl wir, ihrer gedenkend, die
hochste Anschauung von Wissenschaft zu erfassen suchen,
zu der sie sich erhoben haben; denn eben diese haben sie
in dem Gemeinwesen zum Ausdruck gebracht, dessen Jubel-
fest wir feiern. Die Geschichte der Akademie ist die Ge
schichte der Ideen und Krafte ihres Stifters und ihrer
groCen Mitglieder; denn in ihrer Einrichtung und in der
Entwicklung ihrer Organisation haben sich die Erkenntnisse
und die Ziele jener gleichsam verdichtet. Dieser Bau stellt
darum in lebendiger Verwirklichung ein Stuck Geschichte
192 Z welter Band, erste Abteilung. Reden: YTE.
der Wissenschaft dar — Tind nicht nur der Wissenschaft in
diesem Lande. Den hentigen Tag feiert die gesamte wissen-
schaffcliche Welt mit Tins; denn unsere Greschichte ist ihre
Greschiehte.
Es umfaflt aber die Entwicklung der Akademie vier
sich scharf voneinander abhebende Stufen. In merkwur-
diger Regelmafligkeit begreift eine jede von ihnen et-
wa ein halbes Jahrhundert. Die Akademie Leibniz ens
beherrscht die erste Halfte des 18. Jahrhunderts ; in der
zweiten wird sie znr fridericianischen Akademie. Dann
sind es die Briider Humboldt, Niebuhr und Schleier-
macher gewesen, die ihr for fiinfzig weitere Jahre Grund-
lage und Bichtung gegeben haben. Die vierte Stufe ist
die unsrige. Wir betrachten, wie anf jeder die Aufgabe
der Wissenschaft in der Akademie erfaflt und wie sie in
ihrer Arbeit durchgefiihrt worden ist.
^Se. Kurf. Durchlaucht haben gnadigst resolvieret,
eine Academie des Sciences und ein Observatorium, wie
vorgeschlagen, zu etablieren" — so lauten die denkwiirdigen
Worte, durch welche unsere Akademie gestiftet worden
ist. Einige Berliner Q-elehrte, an ihrer Spitze der Hof-
prediger Jablonski, hatten den Plan ausgearbeitet, die
Kurfurstin Sophie Charlotte ihn bei ihrem Q-emahl be-
furwortet. Von Anfang an war Leibniz als President ins
Auge gefafit; von ihm war die Idee ausgegangen, und er
hatte die Berliner Freunde beraten. Den nachsten AnlaB
aber zur Stiftung bot die grofie Kalenderreform, die eben
vollzogen worden war. Sie verlangte zu ihrer Durchfuhrung
regelmafiige astronomische Beobachtungen und daher auch
eine Sternwarte. Wie einst im alten Babylonien die Wissen
schaft mit der Himmelskunde begonnen hat, so begann die
neue Stufe, auf die sie in diesem Lande gehoben werden
sollte, wiederum mit der Astronomie. Noch mehr — ein
voiles Jahrhundert lang hat die Wissenschaft hier in Berlin
Die Kttniglich Preuflische Akademie der Wissenschaften. 193
im buchstablichen Sinne des "Worts von der Astronomie
gelebt; denn fast die gesamte Einnahme der Akademie
flofi in dieser Zeit aus dem ihr verliehenen Kalendermono-
pol. So bildeten die Astronomie und die mit ihr ver-
schwisterte Mathematik das eigentliche Fundament der
neuen Schopfung.
Aber nicht nur ihrer okonomischen Leistungen wegen
nahmen sie diese Stelhmg ein. Durch Kepler und Cartesius,
durch Newton und Leibniz war die Mechanik des Himmels
und die mathematische Physik auf eine Hohe gehoben, die
in gewissem Sinne einem AbschluB gleichkam. Der Natur-
bewegung hatten sie das Q-eheimnis abgetrotzt, ein neues
Weltbild gewonnen und damit den Beweis geliefert, dafi
der menschliche Verstand fahig sei, durch Beobachtung
und Spekulation in die unermefilichen Himmelsraume vor-
zudringen und die Qesetze aller Bewegung zu entziffern.
Wie eine Offenbarung wirkten die neuen Erkenntnisse,
und schon strahlte die Hoffnung auf, zahlreiche Natur-
erscheinungen nun in den Dienst nehmen und beherrschen
zu konnen. Dieser jungen Wissenschaft eine Statte zu
bereiten, war Leibnizens vornehmste Absicht bei der
Stiftung unserer Akademie. Von den Universitaten er-
wartete er nichts; der Betrieb der Wissenschaft dort steckte
in veralteten Formen: eine riickstandige Lehre iiberlieferten
sie in einformiger Wiederholung. Er aber wollte auf Grrund
der neu gewonnenen Prinzipien eine Anstalt fur Forschung
griinden; denn eben diese Prinzipien erschienen der reich-
sten Entwicklung fahig und eroffneten der Anwendung
ein unbegrenztes Q-ebiet.
Darin aber erhob sich Leibniz iiber alle seine Zeit-
genossen, dafi er seinen Blick durch keine Spezialwissen-
schaft, sei es auch die umfassendste, einschranken lieC. Wie
er die mathematische Physik sofort mit dem ganzen Kreise
der metaphysischen Probleme inVerbindung setzte und teils
im Anschlufi an Spinoza, teils in scharfem Gegensatz zu
Harnack, Reden und Aufsatze. 2. Anfl. n. 13
194 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: YH.
ihm eine nene Kosmologie ausarbeitete , so behielt er mit
stets gleichem, produktiven Interesse die Mannigfaltigkeit
in der Abfolge der Erscheinungen und alle wissenschaft-
lichen Disziplinen im Auge. nDie verschiedenen Arten der
Wissenschaften sind dergestalt miteinander verbunden, dafi
sie niclit wohl ganzlich getrennt werden konnen" — so heifit
es in unserer, von Leibniz entworfenen Stiftungsurkunde.
Sah er doch in alien Bewegungs- und Lebensvorgangen
nur die unendlich reichen Entfaltungen eines einzigen,
aber in einer Fiille von Erscheinungen sich answirkenden
Prinzips. Das Studium dieser Auswirkungen verlangt In-
dividualisierung ; aber selbst die intimsten Besonderheiten
las sen sich ohne Kenntnis der "Wechselwirkungen, in denen
sie stehen, nicht ergriinden und weisen auf ein Allgemeinstes
zuriick. Traumte er doch. davon, dafi es gelingen konne,
die ganze Fiille der Erscheinungen mit dem Gredanken so
sicher zu erfassen, dafi sie sich als ein Grewebe von ZijBfern
und Rechnungen darstellen lasse.
Grilt es nun, eine wissenschaftliche Anstalt zu griinden,
die dieser Aufgabe entspricht, so kann nur eine Akademie,
oder wie Leibniz lieber sagte, eine Sozietat der Wissen
schaften in Frage kommen. Unter einer solchen verstand
er nicht eine einzelne Anstalt in einem Lande und mit
beschrankten Aufgaben, dergleichen es schon in anderen
Landern manche gab, sondern den Zusammenschlufi aller
Forscher auf der ganzen Erde. In jedem Kulturstaate
soil eine Sozietat der Wissenschaften gegriindet werden;
sie sollen in engster Verbindung miteinander stehen, sollen
nach einem gemeinsamen Plane arbeiten, sich derselben
Methoden und Ausdrucksmittel bedienen und so eine grofie
Gemeinschaft darstellen. Das hohe Ideal der Platoniker
leuchtet hier wieder auf, aber auf den Boden von Europa
gestellt. Mit religiosem Enthusiasmus hat Leibniz, ein-
undzwanzig Jahre alt, diesen Gredanken erfafit, und noch
als Q-reis hat er eigentlich nur fur ihn gelebt. Staaten
Die Koniglich Pretiflisclie Akademie der Wissenschaften. 195
und Kirchen verblaBten ihm neben der neuen Q-emeinschaft,
wie sie seinem G-eiste vorschwebte. In ihr stellt sich die
Menschheit dem groflen Baumeister der Welten zu Dienste;
in ihr hat die wahre Verehrung Gottes, die in der Er-
kenntnis seiner "Werke besteht, ihre Statte; aus ihr muB
sich ein neuer intellektueller und sittlicher Zustand und
eine bisher nicht gekannte Grliickseligkeit entwickeln.
Aber wie eine solche Sozietat begriinden und wo an-
fangen? Zuerst dachte er an den Kaiser und darum an
Mainz und Wien. An der Wiirde des Kaisers haftete
noch immer etwas Universales — das heilige romische
Reich war noch kein ganz leerer Begriff. Unter den Fitti-
chen seines Adlers sollen die neuen Bestrebungen Kraft
und Gestalt gewinnen. Vergebliche Hoffnung! Von Han
nover aber, seiner engeren Heimat, konnte Leibniz vollends
nichts erwarten. Da lenkte sich sein Blick auf Branden
burg. Als der Staat des groBen Kurfursten, als Vormacht
des Protestantismus und der religiosen Freiheit, als Q-renz-
land der wissenschaftlich noch unentdeckten G-ebiete des
Os tens riickte Brandenburg-PreuBen in den Mittelpunkt
seiner wissenschaftlichen und politischen Interessen. Mit
zaher Energie suchte er Eingang in das Land, dessen grofie
Zukunft er sicher vorausgesehen hat. Die ersten Anlaufe
miBgluckten. Dann aber kam seinen Planen die hohe
Frau entgegen, die mit lebendigem Anteil alien Bewe-
gungen des Zeitalters folgte — Sophie Charlotte. Die
Sozietat wurde gestiftet.
Das Statut vom Juli 1700 steckt der neuen Schopfung
die weitesten Grrenzen und stellt ihr bisher unerhorte Auf-
gaben. Ausdriicklich heifit es, daB diese Sozietat sich
Dalles das zum Objekt nehmen soil, was die anderswo auf-
gerichteten Sozietaten, Akademien und Vereine — ein-
schliefilich der Missionsvereine — in alien Zweigen der
Wissenschaft verfolgen". Auch wird die Unterscheidung
einer rein betrachtenden und einer praktischen Tatigkeit
13*
196 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
in der Wissenschaft nicht zugestanden; denn es handelt
sich um die Forderung ,,des ganzen gemeinen "Wohlwesens":
Produktivitat und Konnen sind fur alle Disziplinen die
hochsten Mafistabe. Darum soil es kerne besondere philo-
sophische Klasse in der Sozietat geben — die wahre Philo-
sophie kommt allein durch das Zusammenarbeiten aller
Klassen zustande. Urspriinglich wurden drei unterschieden,
die physikaKsch-mathematische, die deutsche und die hi-
storisch-literarische Klasse. Bald aber wurde eine vierte,
die medizinisch-naturwissenschaftliche, hinzugefugt. Jeder
wurden bestimmte Hauptaufgaben vorgeschrieben. Die
physikalisch-mathematische soil magnetische Beobachtungen
vom Rhein bis zur Memel anstellen lassen, nach RuJSland
und China vordringen und diese weiten Q-ebiete wissen-
schaffclicn nach alien JEliehtungen untersuchen. Sofern sie
in iiberseeische Lander geht, wird ihr die Unterstutzung
^Unserer afrikanischen und amerikanischen Kompagnie"
versprochen. Als physikalisch-technisches Kollegium soil
sie alle neuen Entdeckungen , Maschinen, Modelle usw.
priifen, Mafie und G-ewichte inspizieren und sie einheitlich
nach dem Dezimalsystem regeln. Die medizinisch-natur-
wissenschaftliche KHasse soil uberall im Lande ,7medizinische
Observationen" veranlassen, das Wetter beobachten, den Zu-
sammenhang der Epidemien mit ihm studieren, iiber Wachs-
tum und Schadigung der Feldfriichte regelmaflige Erkun-
digungen einziehen, Bodenuntersuchungen anstellen und
die Ursachen von Kalamitaten ergriinden. Die deutsche
Klasse — ihre Niedersetzung geschah auf speziellen Befehl
des Kurfiirsten — soil wdie uralte teutsche Sprache in ihrer
natiirlichen, anstandigen Reinigkeit und Selbststand er-
halten", gute deutsche Redensarten an Stelle der Fremd-
worter hervorsuchen und wden Sohatz des teutschen Alter-
tums, auch die Rechte und Grewohnheiten unserer Vor-
fahren, so in den alten jetzt fast unbekannten Worten
verborgen stecken, anmerken, sammeln -and erlautern".
Die Kttniglich Preuflische Akademie der Wissenschaften. 197
Die literarische Klasse soil sich ndas wichtige Werk der
Historien, sonderlich der teutschen Nation und Kirchen,
zumalen in Unseren Landen, angelegen sein lassen, Alles
soviel moglich, aus Diplomatibus, glaubwiirdigen Skripturen
und gleichzeitigen Skribenten darthun", und das Wesen
und Recht der deutschen Reformen ins Licht stellen und
verteidigen. Dazu soil sie die orientalischen Sprachen und
Studien pflegen und zusammen mit der mathematischen
Klasse in fremde Lander vordringen, um sie fur die christ-
liche Kultur und Gtesittung erobern zu helfen. Die ge-
samte Akademie endlich soil als erne wissenschaftliche Auf-
sichtsbehorde und als eine Normalanstalt fur alle notwen-
digen Hand-, Lehr- und Schulbucher fungieren.
Welch eine Fulle von Aufgaben! Und noch ist langst
nicht alles genannt, was dieser ersten universalen Akademie
in Europa an ihrer Wiege als Zweck gesetzt worden ist.
Mit dem Auge des Propheten schaute Leibniz in die Zu-
kunft, weil er in seinem Greiste die ganze Entwicklung der
"Wissenschaften gleichsam schon erlebt hatte. Keine einzige
hohe Aufgabe fehlt hier, und keine ist genannt, die niclit
in der Folgezeit aufgenommen worden ware. Die Q-eschichte
kennt nur einen Mann, der ahnliches geleistet hat, Ari-
stoteles. Me aber soil es diese Akademie vergessen, dafi
sie es gewesen ist, welche ausersehen wurde, die erste
Tragerin universaler wissenschaftlicher Aufgaben in der
modernen Zeit zu werden! Wie wunderbar ist doch der
Q-ang der Geschichte! Von dem kleinen Wittenberg ist
die Reformation Europas ausgegangen, und die damals
noch unbedeutende Hauptstadt des brandenburgischen Kur-
furstentums wurde als Statte fur wissenschaftliche Bestre-
bungen ausersehen, wie sie in dieser Universalitat weder
in Paris noch in London zu finden waren. Und auch darin
hat sich Leibnizens Seherblick bewahrt, dafi er einen
ganzen KJreis von Akademien in der Zukunft schaute.
Heute stehen wir in einem solchen; sie sind, soweit sie
198 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: YII.
universale sind, samtlich nach dem Muster der unsrigen
gestiftet worden, und sie haben sich zu gemeinsamen Auf-
gaben vereinigt.
Aber so genial und grofi gedacht der Plan der neuen
Schopfung war, so weit blieb diese selbst am Anfang hinter
ihrer Aufgabe zuriick. Es fehlte nahezu alles, die Personen
und die Mittel. Solange Leibniz lebte, war er selbst die
Akademie. Aufier ihm hat sie in den vierzig ersten Jahren
ihres Bestehens kaum ein halbes Dutzend nennenswerter
Grelehrter besessen. Die Kraft, bildend auf Personlichkeiten
einzuwirken und bedeutende Manner zu erziehen, 1st ihni
versagt gewesen. Dazu kam noch ein anderes: um einen
wirklichen Fortschritt in der ganzen Breite der Entwick-
lung zu bewirken, war es notwendig, die dumpfen Mauern
vollends niederzureiflen, in denen die alte Zeit gelebt hatte.
Der scholastische Betrieb der "Wissenschaften war aufgelost;
ihre Emanzipation von der Kirche und Theologie war im
Prinzip vollzogen; es gait, die Ruinen zu beseitigen. Aber
die Kraft der Exklusive fehlte dem grofien, alles in eins
schauenden Denker; auch das Veraltete vermochte er zu
konservieren und das Fragwiirdigste an irgend einer Stelle
seines weitschichtigen Weltbildes noch unterzubringen: seine
Starke war auch seine Schwache. So vermochten die
Qeisteswissenschaften noch nicht zu einem frischen Leben
zu gelangen. Die Elemente fur einen neuen Bau waren
noch zerstreut; auch besafien sie noch nicht die Bedeutung
durchschlagender produktiver und kritischer Prinzipien.
Freiheit und Q-eschmack, sichere Beobachtung und strenger
Stil fehlten: vom Englander und Franzosen war der Deut
sche noch durch einen weiten Abstand getrennt. Und vor
allem: nicht nur der deutsche Greist schlummerte noch —
es gab noch keinen deutschen Staat! Die Qeisteswissen
schaften aber bedurfen zu ihrer Bliite den frischen Tau
personlichen Lebens und die feste Unterlage nationalen
Volks- oder Staatsbewufitseins. Ohne sie fuhren sie ein
Die KOniglich. Preufiische Akademie der Wissenschaften. 199
blofles Scheindasein. Das hat der Monarch, wohl erkannt,
vor dessen Blick alles Scheinwesen sich aufloste, Friedrich
Wilhelm I. Er dachte daran, die Akademie aufzuheben,
da sie nichts ErsprieBliches leiste. Zu Hilfe zu kommen
vermochte er ihr nicht - - das lag aufierhalb des Kreises
seiner Fahigkeiten und Aufgaben. Mit seiner offenbaren
Ungunst belastet, eines Fiihrers entbehrend, ohne Mittel,
sich wiirdig zu erganzen, durchlebte die Akademie dunkle
Jahre. Und doch hat sie auch in dieser Zeit gezeigt, daB
sie lebte. Die Schriften, welche sie erscheinen liefi, sind
nicht weltbewegend, aber forderlich gewesen.
Die Dammerung , in der das geistige Leben unseres
Vaterlandes lag, wich, als der groBe Friedrich den Thron
bestieg. Schon als Kronprinz hatte ihn die Frage der
Neubildung der Akademie lebhaffc beschaftigt. So bald er
die Ziigel der Regierung ergrifFen hatte, begann er sie
durchzuf iihren , ja, er wollte urspriinglich eine ganz neue
Akademie stiften. An die ersten Gelehrten Enropas schrieb
er, um sie zu gewinnen. Die schlesischen Klriege ver-
zogerten das Werk. Unterdessen hatte der geistvolle Feld-
marschall von Schmettau eine literarische Gesellschaft in
engem Anschlufi an den Hof und die Aristokratie nach
dem Vorbild franzosischer Societes gegriindet. Der Konig
befahl die Verschmelzung beider G-esellschaften, stellte den
beriihmtesten Grelehrten des Zeitalters, Maupertuis, mit
auitarordentlichen Gewalten an die Spitze der neuen Schop-
fung, hiefi sie die lateinische Sprache mit der franzosi-
schen vertauschen und erklarte sich selbst nicht nur zum
Protektor, sondern auch zum wirklichen ,,Academicien".
So wurde die Akademie die fridericianische und eine fran-
zosische zugleich.
Es ist iiblich, das eine zu verherrlichen und das an-
dere zu beklagen. Uberschlagt man aber, in welchem Zu-
stande sich Geist, Wissenschaft und Geschmack bei den
Deutschen um das Jahr 1745 befanden, so wird man dem
200 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: VII.
Konige recht geben. Nicht nur wurde erst jetzt die preu-
flische Akademie wirklich auf die europaische Biihne ge-
stellt, sondern sie gewann auch in der franzosischen Schule
Form und Haltung; sie lernte fur das Publikum — im
idealen Sinne des Worts — schreiben und sich ein solches
in Deutschland erziehen. Der deutsche Geist aber ging
dabei nicht unter: ihn belebte der grofle Konig nicht durch
Worte, sondern durch Taten, und die liervorragendsten
G-elehrten in seiner Akademie neben Maupertuis und
Lag range waren nicht die schiffbriichigen franzosischen
Theologen und Literaten, sondern die deutschen Forscher
— ein Euler und Lambert, ein Marggraf, Lieberkiihn,
Sufimilch u. a.
"Was hat die fridericianische Akademie geleistet? Sie
hat eine feste und eigentumliche Vorstellung von ihren
Aufgaben besessen und sie hat sie ehrenvoll durchgefuhrt.
Auf drei Linien stellt sich das dar.
Erstlich, in der Mathematik und den Naturwissen-
schaften hat sie stetig und fruchtbringend gearbeitet. Die
Mathematiker Euler und Lagrange waren die Fiihrer in
ihrer AVissenschaffc; die Astronomen der Akademie waren
hoch angesehen, und von den Chemikern durffce Mauper
tuis riihmen, ,,dafi sie alle Chemiker Europas ausstechen".
Die naturwissenschaftlichen Leistungen der Akademie ver-
dienen um so grofiere Anerkennung, als der Konig sie
nicht lebhaft unterstiitzte. ^Alle die Bemiihungen in bezug
auf Elektrizitat, Q-ravitation und Chemie haben die Men-
schen nicht gebessert", schrieb er an d'Alembert, ?3und
ihren moralischen Zustand nicht geandert: sie sind also
ein Luxus. Was wollen alle jene Entdeckungen der Mo-
dernen fur die Gresellschaft bedeuten, wenn die Philosophic
das Kapitel der Moral und der Sitten vernachlassigt?" Die
Naturforscher lieBen sich nicht irre machen, sondern ar-
beiteten ruhig weiter.
Aber auch die Aufgabe, welche ihr koniglicher Pro-
Die KOniglich Preuflische Akademie der Wissenschaften. 201
tektor der Akademie besonders nahe legte, 1st von ihr ener-
gisch aufgenommen worden. Es ist die zweite Linie, auf
der sie sich bewegte, und sie ist mit einem Worte charak-
terisiert: Aufklarung. Der Konig lebte in dem antiken,
lateinischen Begriff von Wissenschaft und Philosophie und
in der franzosischen Kultur des 17. Jahrhunderts. Die
Wissenschaft war ihm kein loses Gefuge von Disziplinen,
sondern ein Ganzes, und die Ausbildung einer neuen Form
wissenschaftlicher Mitteilung im Gegensatz zur scholasti-
schen war ihm ebenso wichtig wie die Sache selbst. Dieses
Wertlegen auf die Form entsprang einem sehr lebhaften
didaktischen und moralischen Bestreben: er wollte nicht
Wissenschaft um ihrer selbst willen verbreitet, noch we-
niger tote Gelehrsamkeit gepflegt sehen, sondern eine ver-
niinftige Denkungsart durchsetzen, iiberall die Aufklaning
befordern und den sittlichen Zustand der Gresellschaft da-
durch bessern. Durch ^Raison", klar und formvollendet
an jedem wissenswiirdigen Objekt entwickelt, zur Moral
und Toleranz: das ist die Aufgabe der "Wissenschaft! Die
Geschichte vermag seit sechzehnhundert Jahren wenig oder
nichts zu lehren; es gilt vielmehr, sich von ihr zu befreien.
Am besten ware es, uber sie hinweg einfach zu den Alten
zuriickzukehren ; da dies unmoglich, so soil jede Uber-
zeugung, mit Griinden vorgetragen, verniinftig entwickelt
und gefallig dargestellt, respektiert werden. Anfk1a.rn.ng
ist bereits dort, wo Geist und Klarheit, Zucht der Ge-
danken und Anmut herrschen. Wenn sich in dies em Me
dium der Theologe, der Historiker, der Naturforscher und
der Philosoph zusammenfinden, so ist zu hoifen, dafi die
schlimmsten Wirkungen der Superstition, namlich Barbarei,
Zuchtlosigkeit und Fanatismus schwinden.
Diese Ideen des Konigs sind von seiner Akademie er-
griffen worden. Man durchblattere die vierzig Bande ihrer
Abhandlungen aus jenen Jahren. Die Standpunkte ihrer
Verfasser sind ganz verschieden; die Themata entstammen
202 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
alien moglichen Wissenschaften — aber dennoch sind die
Arbeiten von einem Greiste beherrscht tind dienen einer
Aufgabe: ein strebsames, fiir die hoheren Fragen aufge-
schlossenes Publikum zu schaffen, es von alien Einseitig-
keiten zu befreien, es an gesundes Denken zu gewohnen
und ihm lebendigen Sinn und Greschmack fiir die Wissen
schaften zu geben. So arbeitete die Akademie, und in
dieser Tatigkeit, formgebend, vermittelnd, aufklarend und
tolerierend, war sie die fridericianische. Wissenschaft und
Literatur bildete fiir sie noch ein untrennbares Granzes; in
alien Hauptfragen trat die Q-esamtakademie zusammen und
iibeiiieB die Entscheidung nicht einer einzelnen Klasse. So
stand alles noch in einer wirksamen Einheit.
In keiner Periode ihrer Greschichte hat sich die Wissen-
schaft so hohe Verdienste urn die Kultur in der Breite
ihrer Entwicklung erworben wie damals. Nun erst wurde
die mittelalterliche Weltanschauung in unserem Vaterlande
wirklich gestiirzt, ihre veralteten Hervorbringungen be-
seitigt. Welch ein Publikum hatten unsere groBen Klas-
siker gefunden, wenn die Aufklarung ihnen nicht vor-
gearbeitet hatte? Und an einer fuhrenden Stelle in ihr
stand die fridericianische Akademie. Unverflochten mit den
Tagesfragen deutschen Kleinlebens, alien grofien Problemen
der wissenschaftlichen Entwicklung folgend, jeden Stand-
punkt in ihrer Mitte duldend, aber alle an dieselbe Regel
wissenschaftlicher Aussprache bindend, eine Statte der Ver-
nunft und der Toleranz — so hat die Academie E/oyale
des Sciences et Belles-Lettres vierzig Jahre gewirkt und
das neue Preufien erziehen helfen.
Endlich noch ein Drittes: Die Vertretung der Leibniz-
Wolf fschen Philosophic war ein iiberkommenes Erbe der
Akademie; aber sie hat sich niemals mit ihr identifiziert.
Im Gregenteil, sie hat sie sehr bald unter die Kontrolle der
Erfahrung gestellt und dem scharfen Luftzuge der eng-
lischen Philosophie ausgesetzt. Wie es Volt air es Verdienst
Die KOniglich PreuBische Akademie der Wissenschaften. 203
gewesen 1st, diese auf den Kontinent gebracht zu haben,
so haben die Berliner Akademiker ein redliches Stiick Ar
beit in der Kritik und den Ausgleichsversuchen der idea-
listischen und der empiristischen Philosophic geleistet. Die
Weltanschauung ihres Konigs respektierend, sind sie doch
stets ihre eigenen Wege gegangen; sie haben La Met tries
kecke Satze ebenso abgelehnt wie den Skeptizismus Humes
und die Probleme vor den Gewaltsamkeiten schnellfertiger
Dogmatiker geschiitzt.
Aber als der grofle Konig die Augen schlofl, war auch
die Zeit fur diese seine Schopfung abgelaufen, ja sie hatte
ihre Aufgabe bereits seit einem Jahrzehnt erfullt. Um das
Jahr 1786 war eine Akademie in Deutschland zum Ana-
chronismus geworden, die franzosisch sprach, Kant nicht
begrrff und des wirklichen Zusammenhangs mit Herder
und Q-oethe, mit der hoher strebenden deutschen Greistes-
bewegung jener Tage entbehrte. Dafi die Akademie eine
deutsche werden miisse, erkannte der patriotische Staats-
mann, dem Fxiedrich Wilhelm II. die Sorge fur sie an-
vertraute, Hertzberg; aber dafi der Zeiger der Zeit nicht
mehr bei der ,,Aufklarung" stand, erkannte er nicht. Er
hielt diese vielmelir fur den bleibenden Hohepunkt des
Q-eistes und beeilte sich, ihren ganzen berlinischen Greneral-
stab, Castillon, Teller, Zollner usw., in die Akademie
aufzunehmen — aufzunehmen, als er bereits von der Ge-
schichte besiegt war. Traurigere Tage hat die Akademie
kaum je friiher erlebt als die letzten vierzehn Jahre des
achtzehnten Jahrhunderts. Jene Aufklarer kommandierten
nur noch Schatten, lebten vom Huhm ihrer Vergangenheit
und sperrten sich selbstzufrieden gegen den neuen Geist
ab. Vollends aber schien die Akademie zu versinken, als
Wollner und nach ihm der Minister von Massow die Pa
role ausgaben, die reine Wissenschaft sei zu nichts niitze, die
Technik aber sei das Mittel, durch welches der Staat gebaut
204 Z welter Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
werden miisse: die Akademie solle sicli whumanisieren" und
ihre Krafte dem ,,gemeinen Leben" und seiner Verbesserung,
sowie alien seinen Bediirfnissen zuwenden; sie moge die
nationale Industrie heben, die Vorurteile des Volkes auf-
klaren und das Erziehungswesen reinigen und fordern.
Wurde ihr doch durch eine Kabinettsordre vom April 1798
geradezu zugemutet, die Niitzlichkeit in Paragraphen zu
fassen und sich als technische Staatsanstalt und als Staats-
erziehungsbehorde zu etablieren. GewiO kiindigten sich. hier
auch neue, sehr berechtigte Bedurfnisse an, vor allem das
nach einer hoheren Lehranstalt, einer zentralen Universitat.
Sie fehlte in Berlin und im preuJSischen Staate noch, und
es war ein richtiger Gedanke, sie in Verbindung mit der
Akademie zu setzen. Aber eine einfache Verwandlung der-
selben in eine hohe Schule war hochst bedenklich. Der
Akademie gelang es, sich. dieser Zumutung zu entziehen,
aber besser wurde es auch nicht: noch im Jahre 1799 wurde
der Grofimeister der Aufklarung, Nicolai, aufgenommen,
und die Publikationen der Akademie riickten in bedenk-
liche Nahe zu der ^Allgemeinen deutschen Bibliothek".
Aber der grofie Umschwung trat doch ein; nur kam
er anders, als Mas sow und die Nutzlichkeitsfanatiker ihn
gewiinscht hatten. Der erste Dank gebiihrt dem Geheimen
Kabinettsrat Bey me. Begeistert von dem Idealismus
Fichtes und verehrungsvoll zu Goethe und Schiller
aufschauend, 1st er es gewesen, dem die Akademie die
Grundlegung ihrer Reorganisation verdankt. Nicht neue
Statuten sind zunaehst notig, sondern neue Manner: das
war die Einsicht, nach der er gehandelt hat. Nachdem im
Jahre 1800 Alexander von Humboldt aufgenommen
war, fuhrte Bey me in den nachsten Jahren der Akademie
Hufeland, Thaer und Johannes von Miiller zu.
Schiller und Goethe, mit denen er verhandelt hat, blieben
unerreichbar, und Fichte, dessen Aufnahme er energisch
betrieb, wurde von der Akademie abgelehnt. Aber Fried-
Die KOniglich PreuBische Akademie der Wissenschaften. 205
rich August Wolf, von Buch und Buttmann wurden
ihr schon vor der grofien Katastrophe des Staates zugefuhrt.
Die Akademie war bereits in der Umwandlung begriifen,
als die Reinigung eintrat, die zur Wiedergeburt des preufli-
schen Volkes gefuhrt hat. Mitten in der Niederlage er-
starkte der Glaube an eine neue, hohere Existenz, an die
umbildende Kraft der G-esinnung und der Wissenschaft,
die den Menschen in seinem ganzen Dasein erfassen sollten,
damit aus dem G-eiste alles neu wiirde, damit unter den
Triimmern der Bau der Zukunft entstiinde. Wilhelm von
Humboldt, Niebuhr, Schleiermacher und Savigny
traten fast gleichzeitig in die Akademie ein: sie haben die
dritte Periode unserer Q-eschichte begriindet.
Diese neue Periode ist durch ein Doppeltes charak-
terisiert: durch das Verhaltnis, in welches die Akademie
zu der damals gestifteten Berliner Universitat gesetzt wor-
den ist, und durch den neuen Q-eist, in welchem sie ihre
eigene Aufgabe und die der Wissenschaft iiberhaupt er-
faflt hat.
Die Universitaten waren im 18. Jahrhundert langsam
wieder aufgebluht. Das Vorbild Halles hatte machtig ge-
wirkt, und in Q-ottingen war ein Muster aufgestellt worden,
welches die Schwesteruniversitaten zur Nachfolge reizte.
In Halle bluhte ein philologisches Seminar, welches die
ganze Altertumswissenschaft auf eine hohere Stufe hob,
und auch in Q-ottingen wurde nicht nur gelehrt, sondern
wirklich geforscht. Noch mehr: an dieser Zentralstatte
deutscher Bildung war eine Sozietat der Wissenschaften
mit der Universitat vereinigt, und diese Verbindung trug
reiche Friichte. Als nun in Berlin die neue grofie Lehr-
anstalt gestiftet werden sollte und wirklich ins Leben trat,
als viele Stimmen verlangten, die Akademie solle einfach
in sie eingeschmolzen werden, da war es vor allem Wil-
helm von Humboldt, der den richtigen Weg wies. Er
206 Zweiter Band, erste Abteilung. Reden: VII.
erkannte unbefangen an, dafl die Akademien in Deutsch-
land bisher noch nicht Befriedigendes geleistet hatten, aber
er erkannte auch, daB die Idee, die ihnen zugrunde liegt,
richtig sei und daB sie lebensfahig werde, wenn man die
Akademien mit den Universitaten in Verbindung bringe.
,,Die Idee einer Akademie", so lauten seine Worte, ,,als die
hochste und letzte Freistatte der Wissenschaft und die vom
Staate am meisten unabhangige Korporation muB festge-
halten werden; man muB es auf die Grefahr ankommen
lassen, ob eine solche Korporation durch zu geringe oder
einseitige Tatigkeit beweisen wird, daB das Rechte nicht
immer am leichtesten unter den giinstigsten auBeren Be-
dingungen zustande kommt. Man muB es darauf an
kommen lassen, weil die Idee an sieh schon nnd wohltatig
ist, und immer ein Augenblick eintreten kann, wo sie auch
auf eine wiirdige Weise ausgefullt wird." „ Akademie, Uni-
versitat und groB"e wissenschaftliche Einzelinstitute" , fahrt
er fort, 75sind drei gleich unabhangige und integrante Teile
der wissenschaftlichen Gesamtanstalt des Staates. Aka
demie und Universitat sind beide gleich selbstandig, allein
insofern verbunden, dafi sie gemeinsame Mitglieder habeii
und daB die Universitat alle Akademiker zu dem Rechte,
Vorlesungen zu halten, zulaBt."
In maBgebenden Ausfuhrungen hat Humboldt das
Wesen und Recht der Akademie neben der Universitat —
aber nie ohne sie — dargelegt. Das, was er gefordert und
geordnet hat, hat sich bis auf den heutigen Tag bewahrt.
Ihm und seinen Mitarbeitern verdanken wir unser neues
Dasein, ihm und ihnen die Verbindung mit der Universitat,
die uns im hoheren Sinne wirklich erst lebensfahig gemacht
hat. Erst jetzt war die Akademie sicher, daB es ihr nie
an ausgezeichneten Kraften fehlen werde, wahrend bisher
die Wahl neuer Mitglieder bei den knappen Mitteln stets
die grofiten Schwierigkeiten gemacht hatte. Erst jetzt
erhielt sie fort und fort Grelehrte, die ihre Wissenschaft
Die Koniglich Preufiische Akademie der Wissenschaften. 207
auch als Lehre erprobt batten, und wurde doch endgiiltig
von der Verpflichtung entbunden, fur die Verbreitung der-
selben zu sorgen. An dem heutigen Tage bezeugt daher
die Akademie ihrer jiingeren, in mancher Beziehung mach-
tigeren Schwester, der Universitat, ihren lebhaften Dank;
sie bezeugt auch, dafi niemals ein MiBton, niemals auch
nur ein Schatten von Eifersucht ihr gegenseitiges Ver-
haltnis getriibt hat.
Aber das neue Dasein, welches die Akademie empfing,
war doch nicht nur in der segensreichen Verbindung mit
der Universitat gegeben: ein neuer Greist hielt seinen Ein-
zug, unterwarf sich alle Anschauungen und Erkenntnisse,
steckte neue Ziele und hauchte Kraft und Leben ein.
Polyhistorie, E/aison und Moral waren die Devisen des ver-
gangenen Jahrhunderts gewesen, ein aufgeklarter Cicero-
nianismus, teils franzosisch gefarbt, teils in deutscher
Schulgestalt — keine Spur von 7,Griechheit". Nun aber
war durch Rousseau die Individualitat und das Innenleben
entfesselt worden — entfesselt durch die Phantasie und
den Drang nach Freiheit; nun hatten Kant und Fichte
die behagliche Ruhe eines konventionellen Idealismus ge-
stort und die Anspannung aller sittlichen KJrafte verlangt;
nun war durch Winckelmann das Auge erschlossen worden
fiir die Schonheit griechischen Lebens, und der hohere
Kunstsinn war geweckt; nun entschleierte sich durch
Herder dem empfindenden und nachempfindenden Geiste
das Antlitz seiner bisher verhiillten G-eschichte: die Berge
taten sich auf ; Volkerpoesie und Volkergeschichte in der
unendlichen Anzahl ihrer Typen erschlossen sich und trafen
mit einem neuen Verstandnis des Menschen zusammen.
Und iiber das alles — nun erlebte man Groethe und erlebte
in ihm einen Dichter und Denker, in welchem sich das
neue Dasein wie von einer gottlichen Naturkraft ausge-
wirkt darstellte.
In der Philologie als der genialisch-kritischen Wissen-
208 Zweiter Band, erste Abteilung. Beden: VII.
schaffc vom Altertum fanden die neuen Erkenntnisse zuerst
Ausdruck und Halt. In ihr liefi man Plato wieder auf-
leuchten mit dem grofien, tiefen Auge, und well man den
Geist des Altertums, wie man inn auf den Hohen empfing,
verehrte, nahm man es auch genau mit dem Buchstaben;
man wollte die ganze herrliche Welt wiedererwecken , die
einst eine Wirklichkeit und jetzt noch kein Traum schien.
Aber das Griechische war in Wahrheit dock nur ein ideali-
siertes Paradigma: der eigene Sinn fur das Bewegte und
Lebendige, das Hohe und Erhebende war geweckt und
ziindete dem verwandten griechischen Geiste das erste
Lobopfer an. Bald aber verbreitete sich dieser Sinn iiber
alle Gebiete geschichtlicher Erkenntnis und Wissenschaft,
die Religionslehre, das Studium des Rechts, die heimische
Sprache, die Sprachwissensehaft iiberhaupt, das Leben und
die Dichtung aller Yolker. Die herrliche Erhebuag der
Freiheitskriege machte auch die Denker schaffensfreudig.
Mit unausloschlicher Dankbarkeit schauen wir auf zu der
Generation von Gelehrten, die in jenen Jahrzehnten unsere
Akademie neu gebaut, die moderne Geisteswissenschaffc in
alien ihren Disziplinen begriindet, ja geschaffen und unser
Vaterland an die Spitze der geistigen Bewegung in Eu-
ropa gestellt haben. In diesen Mannern hat Deutschland
die zweite Epoche seiner Renaissance erlebt. Mit dem
reinsten Eifer fiir die Wissenschaft verbanden sie ein
starkes Gefuhl, einen edlen Freiheitssinn und eine kraftige
Uberzeugung von der wesentlichen Einheit aller hoheren
Erkenntnisse. Von einer erhebenden Weltanschauung ge-
tragen, strebten sie danach, eben diese Anschauung durch
ihre Arbeit zu erweitern und zu befestigen. Unsere Aka
demie hat die Ehre gehabt, die Mehrzahl dieser deutschen
Gelehrten zu ihren Mitgliedern zahlen zu diirfen. Sie hat
von ihnen den Gehalt und die Form, sie hat den E/uhm,
aber auch heilige Pflichten als Erbe empfangen. Brauche
ich Sie an Schleiermachers Religionsphilosophie, an Nie-
Die KOniglicli Preuflische Akademie der Wissenschaften. 20'J
buhrs romische Gesch.ich.te, Wilhelm von Humboldts
und Bopps Sprachwissenschaft, an Savignys romisches
Recht, an Grimms deutsche Grammatik und Volkskunde,
an Bockhs Altertumswissenschaft, an Hitters Geographic
und an Lachmanns Textkritik zu erinnern? Alle diese
Manner wirkten einmiitig in dieser Akademie zusammen
und hoben die historisch - philologische Klasse auf eine be-
herrschende Hohe. Die akademischen Abhandlungen , die
sie veroffentlichten, haben eine tiefe innere Verwandtschaft:
sie verbinden eine neue Betrachtung des Stoffs mit einer
Methode, die deshalb ,,exaktu ist, weil sie sich des Ein-
zelnen wie des Ganzen mit Liebe bemachtigt. Dazu sind
diese Abhandlungen durchwaltet von einer inneren Idealitai
der Sprache, die ihnen einen unvergangliehen Reiz verleiht.
Im achtzehnten Jahrhundert schrieb man mit Esprit, wei]
man sich selbst fur kliiger hielt als die Geschichte, jene
aber sind mit Geist geschrieben; denn sie sind aus der
Begeisterung fur die Sache geboren.
Nicht ebenso schnell und umfassend entwickelten sicL
die Naturwissenschaften bei uns. Zu weit und zu langt
war Deutschland hier hinter anderen Landern zuriickge-
blieben, und als eine Erhebung begann, da muGte der
schwere Kampf ausgefochten werden wider eine phantas-
tische Naturphilosophie. Die Akademie wies diese Pseudo-
wissenschaft von Anfang an ab, und um Alexander von
Humboldt, der endlich aus Paris — nachdem er der
deutschen Wissenschaft dort unsagliche Dienste geleistet
hatte — zuriickgekehrt war, sammelten sich allmahlich
Seebeck, Mitscherlich, Encke, E/ose, Dirichlet und
Jacob i. Humboldt ist es gewesen, der in PreuCen der
Naturwissenschaft in ihrem ganzen Umfange das Haus ge-
baut und der Wissenschaft uberhaupt im Staatsleben die
gebiihrende Stellung errungen hat, an Vielseitigkeit der
Interessen und wirksamer Sorge fur das Ganze einem
Leibniz wahlverwandt. Um 1835 standen die physika-
Harnack, Reden and Aufsatze. 2. Aufl. II. 14
210 Z welter Band, erste Abteilung. Beden: VII.
lisch-mathematischen Disziplinen in ebenbiirtiger Vertretung
neben den historischen; die biologischen aber erhielten in
Johannes Miiller den epochemachenden, universalen For-
scher, der der Lehrer der Lehrer geworden ist.
Immer deutlicher, wenn auch durch schwere innere
Spannungen hindurch, erkannte die Akademie jetzt die
Aufgabe, die ihr im Unterschied von alien anderen wissen-
schaftlichen Anstalten obliegt. Als dreifache hat sie sie
bestimmt. Erstlich, sie wurde sich bewuBt, dafi sie als
reprasentierende und begutachteride Korperschaft die ideal e
Einheit der Wissenschaft zu verwirklichen und im Leben
des Staates und der Gesellschaft darzustellen habe. Zwei-
tens, sie erkannte, dafi es ihre Aufgabe sei, ,,wie ein
machtiges Schiff die hohe See der Wissenschaft zu halteii
und in tonangebenden Vortragen und Mitteilungen alle
auftauchenden Spitzen der Forschung neu und frisch her-
vorzuheben". Drittens, sie begann einzusehen, daB sie ihre
Organisation ausniitzen miisse, um grofie wissenschaftliche
Unternehmen zu leiten, deren Durchfuhrung die Krafte
des Einzelnen iibersteigt. Schleiermacher, Niebuhr und
Savigny sind es gewesen, die dies'e Aufgabe der Akademie
erkannt und gefordert haben, zuerst durchgefuhrt hat sie
Bockh in seinem Corpus Inscriptionum Grraecaram. Doch
erst in unserer Periode ist die Aufgabe durch die vor-
bildlichen Leistungen eines Mannes zu ihrer vollen Ver-
wirklichung gelangt.
So, im einzelnen und ini groBen arbeitend, dem ge-
nialen Forscher Raum gebend und verstreute Krafte sam-
melnd, in der Stille wirkend und doch bewegt und be-
wegend, hat die Akademie Friedrich Wilhelms III. und
Friedrich Wilhelms IV. sich bewahrt.
Langsam aber anderten sich seit der Mitte des Jahr-
hunderts die Ziele und Aufgaben der Wissenschaft. ?,Ent-
wickelung" und ,,Q-eschichte" waren schon in seiner ersten
Die Kttniglich. Preuflische Akademie der Wissenschaften. 211
Halfte die Losung gewesen, aber es besteht ein fundamen-
taler Unterschied zwischen damals und jetzt. Damals faBte
die Wissenschaft noch mit Vorliebe in alien Disziplinen das
Ungemeine und Hervorragende ins Auge, gleichsam die
Bliite der Erscheinungen. Der Forscher wollte unmittelbar
durch seinen Gregenstand erhoben sein; darum wahlte er
sich das Grroflte. Entschlofi er sich zu niederen Formen
herabzusteigen, so geschah es, um das Erhabene in ein
belles Licht zu setzen. Einige geniale Naturforscher, wie
Groethe, abgerechnet, hatte man, trotz allem Ausschreiten
ins Allgemeine, docli noch. keinen rechten Sinn fur das
Ganze und darum auch keine Ehrfurcht vor ihm. Immer
lockte noch. das hervorragend Besondere und hielt Sinn
und Interesse gefangen. Daswurde nun anders. Man lernte
einsehen, dafi ein voiles Verstandnis der Erscheinungen nur
an ihren Urspriingen und auf Gfrund des ganzen Tatsachen-
materials aufgehen konne. Umfassende Induktion und pein-
lichste Kritik, Massenbeobachtung und Argwohn gegeniiber
einem vorgreifenden Idealismus wurden die Grundziige der
wissenschaftlichen Haltung in der zweiten Halfte des Jahr-
hunderts. Die Forderung der Massenbeobachtung fiihrte
zur Forderung der Arbeitsteilung, die Aufgabe der ,,Ent-
wicklungsgeschichte" zum Studium der ersten Grlieder in
jeder Reihe. Von den Hohen nicht nur der Spekulation,
sondern auch der Betrachtung komplizierter Ordnungen stieg
die Wissenschaft uberall herab zu den JSTiederungen der
primitiven Tatsachengruppen. Fast darf man sagen, sie
entaufierte sich ihres ,,humanena Charakters, um zunachst
die Erscheinungen zu studieren, welche die elementaren
Voraussetzuugen fiir alles Sein und Werden bilden. Der
Biologe studierte vor allem die niedersten Organismen; der
Psychologe wurde zum Psychophysiker , der Sprachphilo-
soph zum Lautphysiologen, der Historiker zum Wirtschafts-
statistiker oder Urkundenforscher.
Es ware ungerecht, zu behaupten, dafl diese Wendung
14*
212 Z welter Band, erste Abteilung. Beden: VII.
des wissenschaftlichen Betriebs zur Empirie iiberall ein Er-
lahmen der tieferen geistigen Arbeit verursacht habe. Zwar
erliegen kleinere Greister der Versuchung, sick alles hohere
Streben abzugewohnen, heute leichter; denn die Briicke,
die von der Einzelwissenschaft zu einer Weltanschauung
und zurWeisheit fuhrt, ist schwerer zu finden als ehedem.
Allein die Meister stehen, was Vielseitigkeit in der Anwen-
dung wissenschaftlicher Methoden und gesunde, tiefe Spe-
kulation anlangt, keinem friiheren Zeitalter nach. Das
G-esetz von der Erhaltung der Kraft und die Gresetze ent-
wickelungsgeschichtlicher Bewegung, nicht ertraumt, son-
dern bewiesen, schweben iiber der gesamten Forschung und
verheiflen jeder Grruppe von Untersuchungen Erucht. Dazu:
die tieferen entwicklungsgeschicntlichen Forschungen haben
zwar die Allgemeingiiltigkeit des Mechanismus gelehrt, nicht
aber seine Alleingiiltigkeit. Der Einsicht, dafi es ein iiber
all tatiges, formgebendes , teleologisch wirkendes Prinzip
gibt, dem der kausale Ablauf der Erscheinungen eingeordnet
ist — dieser Einsicht sind wir heute naher als vor dreifiig
Jahren, und das leere Spiel mit "Worten, die Grewaltsam-
keiten und die tauschenden Zuriickschiebungen der Pro-
bleme haben wieder der einfachen, alten Fragestellung
weichen miissen.
Den Naturwissenschaften ist in erster Linie dieser Um-
schwung der Dinge zugute gekommen, und nicht mit Un-
recht spricht man von dem ,,naturwissenschaffclichen Zeit
alter". Ihrem Aufstreben kam noch ein besonderer Umstand
zu Hilfe. Die gesteigerten Anforderungen des modernen
Lebens bedeuteten ebenso viele Anfragen an die Leistungs-
fahigkeit der Naturerkenntnis, und sie hat ihnen in glan-
zender "Weise entsprochen. Neben Helmholtz steht Werner
Siemens. Wir diirfen sie stolz die Unsrigen nennen; aber
wir nennen sie auch als die bleibenden Vorbilder echt wissen-
schaftlicher Haltung. Von Werner Siemens, dem Tech-
niker, stammt das Wort: nDie wissenschaftliche Forschung
Die Kttniglich. PrenBisclie Akademie der Wissenschaften. 213
darf nicht Mittel zum Zweck sein, sie mufl urn ihrer selbst
willen betrieben werden," und das Geheimnis der Kraft
Helmholtzens lag in der geschlossenen Grofle seines ein-
zig auf Erkenntnis gerichteten Geistes. Helmholtz und
Siemens sind uns entrissen worden; aber der Dritte aus
ihrem Kreise, der Gelehrte, der die Pathologie der Zelle
begriindet und die ganze Heilkunde reformiert hat, wirkt
in ungeschwachter Kraft noch unter uns; er verbindet die
heutige Naturforschung mit der stolzen Epoche ihrer Grund-
legung.
Blicken wir auf die Geisteswissenschaften : auch das
Studium der Geschichte und der Sprachen blieb in diesem
Zeitraume hinter dem der Naturwissenschaften nicht zuriick.
Welche Erinnerungen steigen in uns auf, wenn wir neben
den ausgezeichneten Naturforschern einem Dubois-
Reymond, von Hofmann, Pringsheim und anderen -
der Namen Haupt und Curtius, Droysen und Duncker,
Miillenhoff und Scherer, Sybel und Treitschke und
so vieler anderer gedenken, wenn wir Ranke nennen, ihn,
dessen Schiller wir alle sind. Die neue Sprachforschung
und Geschichtschreibung hat an dieser Akademie ihren
Ursprung gewonnen, und hier ist sie zur Bliite gebracht.
Noch geniefien wir das Gliick, in unseren Senioren die
lebendigen Zeugen des Aufschwungs verehren zu diirfen.
Was die 7,R6mische Geschichte" und die „ Geschichte der
griechischen Philosophie" bedeuten, weiO mit uns die ganze
gebildete "Welt. Auch die Geschichts- und Sprachforschung
haben in dem letzten halben Jahrhundert Umwandlungen
erlebt, die an Bedeutung keiner friiheren nachstehen. Auch
sie haben den ihnen iiberlieferten Entwicklungsgedanken
neu, d. h. exakt und konkret, anzuwenden gelernt, liber-
all die elementaren Bedingungen aufgesucht, die Wechsel-
wirkungen studiert und an der Fiille des Einzelnen die
Lebensbewegung des Ganzen zu durchschauen begonnen.
Aber die Akademie hat sich niemals weniger als in
214 Zweiter Band, erste Abteilung. Eeden: VII.
dem letzten halben Jahrhundert darauf beschrankt, den Mit-
teilungen ihrer Mitglieder zu lauschen. Den Grofibetrieb
der Wissenschaft, den das Zeitalter forderte, hat sie auf-
genommen und im Laufe der letzten Jahrzehnte mehr als
zwanzig umfassende Unternehmungen ins Werk gesetzt,
welche die Krafte des einzelnen Mannes iibersteigen und
Menschenalter zu ihrer Durchfiihrung erheischen. Sie hat
treue Arbeiter ermittelt und gesammelt; sie ist die Schutz-
statte der jungen Talente geworden, und sie hat auch dort
gesat, wo sie selbst nicht ernten wird. Diese Unternehmungen
einzuleiten und im Grang zu erhalten, ware der Akademie
aber unmoglich gewesen, hatte ihr nicht die G-nade ihrer
Koniglichen Protektoren die Mittel gewahrt und hatte sie
nicht die Fiirsorge der Koniglichen Staatsregierung in reich-
stem Mafie stets gefunden. Das heutige Fest bietet uns
erwiinschten Anlafi, vor dieser illustren Versammlung es
dankbar auszusprechen , was die Wissenschaft in Preufien,
was diese Akademie der Koniglichen Unterrichtsverwaltung
verdankt. Niemals hat sie uns im Stiche gelassen; unsere
Unternehmungen hat sie wie ihre eigenen betrachtet, ihren
Rat und ihre tatkraftige Hilfe ihnen zugewandt, und doch
stets Freiheit walten lassen. Ihrer Fiirsprache verdanken
wir die neue Institution, unsere wissenschaftlichen Beamten.
Sie hat damit den Grand zu einer noch umfassenderen
Wirksamkeit der Akademie gelegt. Zu hochst aber richtet
sich unser Dank an unseren allergnadigsten Protektor, Ko-
nig und Herrn. Unter Seinem Schutze arbeiten wir; Ihm
ist auch die Wissenschaft vertraut; Seine Sorge waltet iiber
uns. Koniglich hat Er diese Akademie geehrt. Wir wollen
uns solcher Ehre wiirdig erweisen, wie es dem PreuBen
geziemt: wir wollen unsere Pnicht tun. G-ott schiitze den
Konig!
Die Wissenschaft ist nicht die einzige Aufgabe der
Menschheit, sie ist auch nicht die hochste; aber die, denen
sie befohlen ist, sollen sie von ganzem Herzen und mit
Die KCniglich PreuBische Akademie der Wissenschaften. 215
alien Kraften treiben. Wie verschieden sicli auch die wissen-
schaftlichen Epochen gestalten — im Grunde bleibt die
Aufgabe immer dieselbe: den Sinn fiir die Wahrheit rein
und lebendig zu erhalten und diese Welt, die uns gegeben
ist als ein Kosmos von Kraften, nachzuschaffen als einen
Kosmos von G-edanken. Moge es unserer Akademie in
ihrem dritten Jahrhundert beschieden sein, an diesem Werke
der Menschheit mitzuarbeiten; mogen finstere Macnte ilir
fern bleiben; moge das Licht, das im Anfang war, ihren
Weg bestrahlen und das Wort, das im Anfang war, ihrem
G-eiste leuchten.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
S^ ZWEITER BAND • ZWEITE ABTEILUNG ^
AUFSlTZE: I
THE PRESENT STATE OF RESEARCH IN
EARLY CHURCH HISTORY
Vortrag
gehalten in der theologischen Konferenz zu Giefien im Sommer 1885
und in englischer "Ubersetzung (Joseph King) erschienen in der
„ Contemporary Eeview" 1886 August S. 221—238.
If the present position of inquiry in the field of early
Church History is to be understood, we must start with
this branch of knowledge as it was thirty years ago. The
Tubingen school, led by a great master, had examined with
rare industry the Christian literature of the first two centuries,
and believed that it had found a key which unlocked every
problem. "Jewish Christianity,1' "Gentile Christianity" —
these were the magic words which sufficed to explain the
development of the Church up to the time of Irenaeus. It
was an immanent process, which, beginning with the
appearance and preaching of Jesus Christ, branched into
two opposite tendencies, the Petrine and the Pauline, and
advanced through a cycle of antitheses and syntheses till
it culminated in the Catholic Church. An echo of the
assured conviction that all problems are now solved may
be heard in the words uttered eleven years ago by a
famous critic, that theology could now describe the rise
of the ancient Catholic Church as clearly or distinctly as
the growth of a plant. He who did not believe in the
picture as Baur had painted it was almost sure to be
written down as an "apologist," a man who attempted to
hinder the progress of knowledge. Many may still retain
a lively recollection of those days, when in historical theo
logy the words "Jewish Christianity," "Gentile Christianity,"
buzzed for ever about our ears, and beside them the
philosophical notions of "Consciousness," "Idea," and
"Reality." "It is the fate of the Idea in positing itself to
posit itself in an infinitely manifold way" — so Schelling
and Hegel had said, and so the ideas "posited themselves"
220 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
in primitive Christianity, though in a manner less manifold
than monotonous, till they posited themselves to rest in
Catholicism.
I am far from disparaging the historical importance
which belongs to the Tubingen school. Everything has
been said which need be said, and the highest praise has
been accorded when we confess that the main problem,
the rise of Catholicism, was first rightly defined by this
school as a problem, that it was the first to attempt to draw
with frank openness and tenacious energy a picture, which
was possible, of the period in question, and that, following
the only true method, it discovered as at once the clearest
and the surest point with which all inquiry must begin—
Paul and Paulinism. But the possible picture which it
sketched was not the real, and the key with which it
attempted to solve all problems did not suffice even for
the most simple. It is not my purpose to show how far
the views of the Tubingen school with respect to the
Apostolic age were just, and how far they are still valid.
They have indeed been compelled to undergo very large
modifications. But as regards the development of the
Church in the second century, it may safely be said that
the hypotheses of the Tubingen school have proved them
selves everywhere inadequate, nay erroneous, and are to
day held only by a very few scholars. Indeed, the critic,
who eleven years ago used the simile of the plant, confesses
to-day that "knowledge grows daily more chary of assertions
touching early Christianity, and grows more so in the
very proportion that it becomes richer in historical points
of view."
"Richer in historical points of view" — on this advantage,
above all, is the advance on the Tubingen school founded.
This will at once appear if we simply indicate the chief
matters through knowledge of which this advance has
been made.
The present state of research in early church history. 221
I. The Tubingen school saw in Judaism, so far as it had
significance for the earliest history of Christianity, but few
differences of shade; they fondly emphasized its rigid
monotheism and strict legalism, attending, in addition,
only to the philosophical Judaism of Philo. But now we
know that Judaism in the age of Christ and his Apostles
was a richly-composed and multiform picture; that it had
many and very varied differences in its shades, which have
become highly important for the history of the development
of primitive Christianity. The Judaism of the dispersion,
in distinction from the Palestinian, claims to-day our
particular attention, and we know that it was in many
ways both the prelude to Christianity and the bridge
leading over to it.
HE. The Tubingen school identified the standpoint of
the original Apostles with that of the rigidly legal and
exclusive Jewish Christians. But now the great majority
of critics are agreed on this point: to distinguish beside
the Pauline two other standpoints — the Pharisaic Judseo-
Christian, which was the more exclusive, and that of the
"Pillar- Apostles,1' which was freer, and conceded in principle
the gospel of Paul.
III. The Tubingen school identified Paulinism with
G-entile Christianity. Now, however, we know — and this
knowledge is of the highest importance— that Paulinism
was a Judaeo-Christian doctrine, really intelligible only to
Jewish Christians, while the Gentile Christianity of the
first and second centuries was an altogether original and
independent view of the Gospel, which agreed with the
Pauline theology only in holding to the universalism of
the salvation brought by Christ.
IV. The Tubingen school resolved all the antagonisms
which are found in the Church of the second century
into the one great antithesis between Jewish and Gentile
Christianity. But to-day it is recognized that Jewish
222 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
Christianity was in the second century no longer a factor
in the development of the Church; rather that on the soil
of Grentile Christianity quite new antitheses took form,
and new questions, which had absolutely nothing to do
with the problems at issue between Paul and the exclusive
Jewish Christians, came to be discussed. The Tubingen
school, in fact, did not acknowledge that a new element
streamed into the Church after the controversies between
Paul and the Judaizers; from these controversies it meant,
rather, to explain all that followed. To-day, on the con
trary, we have come to see that even in the first century
there streamed in a potent new element, the Greek spirit,
the spirit of the ancient world.
V. The Tubingen school had, properly speaking, an
eye for the history of the development of the Church so
far as it was registered in images, conceptions, and dog
matic statements. Everything led finally to these, even
the forms of worship and of polity. But to-day we have
more truly learned that the Christian religion was, above
everything, a new life and a new form of human society.
Not only do new opinions create new life, new life creates
new opinions. Much more attention is therefore now di
rected to the social life, the public worship, the morality
and the discipline of the early Christians, than was ever
the case with the Tubingen school.
VI. The first question of the Tubingen school in cri
ticizing the writings of the New Testament, was always
"genuine or counterfeit?" The first question which we now
put is whether these canonical books have been transmitted
to us pure and without additions? — i. e., whether they did
not receive, perhaps on their canonization, those super
scriptions, author's name, &c., which we now read there?
We know that the canonization of books, in and for itself,
obscures their origin und true meaning; and we must there
fore always ask whether the obscuration has not been
The present state of research in early church history. 223
helped by outer cases. Only after this question is answered
may we propose the other, "Genuine or counterfeit?" Many
books which critics used to regard as forgeries are no for
geries, but are only documents which have come to us
falsely labelled.
If these points of difference be considered, it will be
found that they all result from the fact that we are "richer
in historical points of view." But to grow richer is to grow
more cautious. So long as only a simple and meagre theory
was employed, it was deemed permissible to cut out and
ascribe to a later period all that could not be comprehended
under the theory. But to have perceived the vast variety
of the contemporaneous phenomena is to have been taught
caution. The immediate result of this was to restore with
tolerable unanimity to the first century a series of writings
for which before no place could be found there. Thus most
critics now regard as genuine the Epistle to the Philippians
and the two Epistles to the Thessalonians.
But why have we become so much "richer in histo
rical points of view?" Three main causes may be speci
fied. First, the emancipation of the science of history form
the thraldom of philosophical systems. After the complete-
dearth of ideas which characterized Rationalism, the age
of Romanticism and Philosophy was indeed a wholesome
reaction; but it was still only a reaction, and as such it
brought with it new limitations, which have been gradually
overcome. We have become more realistic, and a historical
temper has been formed. We have become more elastic,
and have acquired the power to transplant ourselves into
other times. Great historians — men like Ranke — have taught
us this. The second cause has been the union of ecclesias
tical history with general history, the recognition that only
by accurate knowledge of the soil on which the Church
has grown can this growth be rightly understood. Every
period and every people has only one history: the history
224 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
of religion and of the Clmrch is only a section of this one
history, and only from the standpoint of the whole can
the section be understood. Here let me mention a Church
historian whose very great merits have not yet been
sufficiently recognized — I mean Richard Rothe. It was
Rothe who, in his lectures on Church History, showed that
the rise and development of the ancient Catholic Church
remains unintelligible unless studied throughout in relation
to the ancient world; for, he says, "the ancient world built
up the Catholic Church on the foundation of the Gospel,
but in doing so it built itself bankrupt." What a store of
historical knowledge is packed into that sentence! Only if
it be carefully applied to all the branches of early Church
history, will this history be really understood. Along with
Rothe let me mention another great scholar, whose "Vie de
Jesus" has made its author rather notorious — Renan. But
let us not judge the six later volumes of his "Histoire des
Origines du Christianisme" by his "Vie de Jesus." They
contain quite as much solid research as broad and compre
hensive views of history. When we compare this work
with Baur's "Church History of the First Three Centuries,"
or with the first volume of Meander's "Church History,"
we are astonished at the progress which history has made
by taking the living as alive, and by studying the soil upon
which the tree of the Catholic Church grew. Beside Rothe
and Renan stand a band of scholars who have, by bringing
their special topics in ancient ecclesiastical into connection
with universal history, promoted in a remarkable way
special branches of inquiry. I may name Von Engelhardt,
Hatch, Heinrici, Overbeck, and De Rossi.
The third cause is the new discoveries which have en
riched historical knowledge. We can say with gladness:
in the region of ancient Church history we live once more
in an age of discovery. That these discoveries have come
to us more by accident than by well-directed inquiry, awakens
The present state of research in early church history. 225
the hope that systematic research may have still happier
results. If it was possible to discover, only a few years
ago, not perchance in Turkey or Africa, but in Italy, a
fine and hitherto unknown codex of the Gospels, the Pur-
pureus, dating from the sixth century; if Dr. von Gebhardt
alone has within three years been able to find in Germany,
France, and Italy, more than a dozen manuscripts previously
unknown of Hermas, we may surely expect to be enriched
by still undreamed-of treasures. The harvest truly is great,
but the labourers are few. Alas! it were not hard to
reckon the number of theologians able to search for lite
rary treasures, and appraise treasures already discovered.
Here is a splendid opening for service!
The discoveries made in recent years in the field of
Early Church History may be divided into four groups.
I. First, in the case of several very important works,
which have hitherto reached us in partly corrupt and partly
defective forms, we have obtained new and better manu
scripts. This applies not only to the New Testament, and
there notably to the discovery of the Sinaitic MS., but also
to patristic literature. We read to-day the Epistle of Bar
nabas, the Pastor of Hermas, and other important docu
ments, in far better manuscripts than existed thirty years
ago. Our knowledge has thus become more certain, and
often the new manuscripts have solved hard problems which
owed their very existence to the old defective texts. Only
the other day came news of a remarkable discovery — the
fragment of a Gospel written on a piece of papyrus not
larger than the half of an ordinary visiting card. It was
found in a bundle of more than a thousand very old papyri,
brought from the Fayoum in Egypt, and now at Vienna.
I cannot but agree with the editor, the Catholic scholar
Dr. Bickell, that in all probability we have here the frag
ment of a Gospel which contained a more original text
than even our Matthew and Mark.
Ha mack, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. H 16
226 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze : I.
II. Secondly, from a critical examination of their sources,
original works, which, had been lost, have been recovered
from the books into which they had been elaborated. These
are real discoveries. Thus from the many late works against
Gnosticism, the older and more important, which had pe
rished, have with no little certainty been approximately
restored. Thus Krawutzky, some years before the "Teaching
of the Twelve Apostles1' had been discovered, reconstructed
the first half of it from the seventh book of the Apostolic
Constitutions, the so-called Apostolic Church Order, and from
the conclusion of the Epistle of Barnabas. Again, from a
work belonging to the fifth century, hitherto judged insigni
ficant, and accordingly overlooked, there has been recovered
a fragment of the time of Hadrian — a dialogue between a
Jew and a Christian.
III. The third group of discoveries is connected with
the inscriptions found in the catacombs at Rome. Thanks to
the untiring labour and genius of De Rossi, new Christian
inscriptions are ever coming to light from the debris of
ancient Rome; hitherto unknown catacombs are being dis
covered, and those already known are being more thoroughly
explored. "What these discoveries teach is certainly nothing
(in the strict sense of the word) new, while accurate dating
is almost impossible. But as the relics of departed friends
are more dear to us than any mere notice of them, and
as from the lines of the original manuscript the spirit of
the writer rises more distinctly before us than from the
varied figures of the printed copy, so these old stones, in
scriptions and paintings have for us a quite unique worth.
"While, for example, we may know well enough that to
the ancient Christian the sure hope of resurrection was the
most valued possession, yet this knowledge grows strangely
vivid when we enter those subterranean cemeteries of the
ancient saints, and with our own eyes see how here every
thing breathes peace and joy, and how the certain hope
The present state of research in early church history. 227
of a glorious awakening rules over all. And, besides, many
a detail emerges which enriches or confirms our historical
knowledge; thus the uncovering of the vault of the old
Roman bishops has proved highly important, and the dis
covery of the catacomb of Domitilla has shown that at the
end of the first century there were not only Christians
among the servants of the Emperor in the Palatine Pa
lace — of such Paul had already spoken — but that Christia
nity had actually penetrated into the imperial family of
the Flavii.
IV. But even the third group of discoveries is thrown
into the background by the fourth and last group which I
have to mention — viz., the discovery of entirely new, hitherto
unknown, primitive Christian writings. Leaving on one
side the less important of these, like the new Acts of the
Martyrs of the second century — which, however, are not
to be despised — I would specify four great discoveries of
recent years: — 1. The complete Epistles of Clement; 2. A
large fragment of the lost "Apology" of Aristides; 3. The
Diatessaron of Tatian; 4. "The Teaching of the Twelve
Apostles."
[In dem Vortrage wurden diese vier neuen Funde nun
naher charakterisiert; ich lasse hier diesen Abschnitt fort,
vgl. Band I, S. 313 ff. dieses Werks.]
After this survey of the discoveries of the last
years let us return to the point from which we started,
I quoted above a sentence of Rothe, to which we may
again refer: "The ancient world built up the Catholic
Church on the foundation of the Gospel, but in doing so it
built itself bankrupt." This sentence, the bearings of which
Rothe himself had not fully perceived, is in fact the egg
15*
228 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
of Columbus. For long Lad it been customary to remark
upon the great distance which divided the Apostolic litera
ture from Jewish Christianity on the one hand, and on
the other from post- Apostolic writings, no matter how
different these were in relation to each other. Heinrich
Thiersch has consequently supposed that at the end of
the first century the Church, in a measure, fell, like our
first parents. The Tubingen school sought so to explain
the difference between the Apostolic and post-Apostolic
literatures as to see in the latter the product of a com
promise. It spoke of a modified Jewish Christianity and
of a modified Paulinism; from these modifications, and
from the consequent lessening of the early antitheses, it
believed that it was able to explain the varied riches of
the later formations, as they concerned not only doctrine,
but also the constitution, discipline, and cultus of the
Church. Where, for example, it found in the Apostolic
Fathers and apologists an ethical mode of thought — Christi
anity conceived as the new law — it assumed the working
of Jewish Christianity, which had merely given up cir
cumcision and the ceremonial law; where it detected the
formation of a fixed order of worship— elders, priests, and
so forth — there, it thought, could not but be seen the con
tinued influence of the synagogue shaping the growth of
the early Catholic Church; conversely, where it found the
universalism of the Q-ospel impressed on these Fathers, but
without the Pauline basis of justification by grace only,
there it believed that a modified, and as it were bisected
Paulinism, must be recognized. Nay, more, in movements
as late as the Montanistic it tried to see the operation of
Jewish Christianity, and, conversely, in Gnosticism, a per
verted form of Paulinism. But this conception could be
upheld only by doing violence to the facts and reading
into them a foreign meaning. About thirty years ago a
reaction set in, led by the work of Albrecht Bitschl, "Die
The present state of research in early church history. 229
Entstehung der altkatholischen Kirche". In this work
there are four determining principles, which have since
been clearly formulated, and have found acceptance, if not
with all, yet with the majority of independent critics.
These principles are as follows: —
1. The divergence of the Christianity of the sub-
Apostolic from the Christianity of the Apostolic age is to
be explained by the fact that the Gentile Christians either
did not know or did not understand the Old Testament
principles which the Jewish Christians possessed.
2. The G-entile Christians brought into Christianity
the religious interests, hopes, and aspirations, which ani
mated them, and could accept at first only some of the
fundamental ideas of that Gospel which rested on the Old
Testament — those, viz., which they had to receive necessa
rily before all others — the belief in one Q-od, the duty of
holy living, the redemption from death through Jesus
Christ the Son of God, the Judgment, and the Resur
rection.
3. Where, then, we find among the G-entile Christians
any peculiarities in doctrine, public worship, constitution,
&c. — and such peculiarities occur from the very first — we
must not, in order to explain them, bring in the Pauline
theology, still less that of the strictly Jewish Christianity,
but we must consider as factors — (a) certain fundamental
thoughts in the Gospel, (b) the letter of the Old Testament,
which was certainly not understood and which the Gentile
Christians treasured as a collection of divine oracles, and
(c) the state and constitution of the Greece-Roman world
at the time of the first preaching of the Gospel.
4. The ensuing Catholicism which became fully formed
in the third century, is therefore not to be understood
either on the basis of Paulinism or of Jewish Christianity,
or apprehended as a compromise between the two; but
the Catholic Church is rather that form of Christianity
230 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
in which every element of the ancient world was succes
sively assimilated which Christianity could in any way
take up into itself without utterly losing itself in the
world.
If these principles are accepted, it follows that the
problems which Church history proposes for inquiry are
changed at one stroke; for it now becomes no longer pos
sible, after the manner of the old historical schools, to limit
ourselves to the written sources of the Christian religion.
The historian must rather make his horizon wider, and
get a view of the general history of the civilization, morals,
and political organization of his period. He must study
the earliest sub-Apostolic writings with a view to seeing
whether already, in their deviations from the oldest Pales
tinian tradition of the Gospels, traces of that spirit of the
ancient world, which we call Catholicism, are not to be
found. It is remarkable that the earliest Protestant Church
historians, Flacius and Gottfried Arnold, had a forecast of
how the question really stood: they both, for example,
called attention to the fact that the peculiar Christianity
of Justin Martyr, in its deviation from Paul and Judseo-
Christianity, is to be understood from its heathen ante
cedents; and both saw in the constitution which the Ca
tholic Church elaborated for herself the effective action of
the constitution of the Roman State; yet their conclusions
on those two points, because still unverified, remained with
out any effect. The task set in this field for our modern
historical science is to apply these principles to the four
great problems of pre-Nicene Church history — that is, to the
problems which relate to its literature, public worship, con
stitution, and doctrine. As regards all these problems, it may
be shown that the Catholic process of formation was nothing
else than a building up of the ancient world on the ground
of the Gospel, and that in the heathen world old forms and
thoughts died, as soon as they were assimilated by Christianity.
The present state of research in early church history. 231
It is of course impossible in the space of an article
to bring forward all the evidences in proof of this position;
inquiry on this method has only just begun, yet good work
has already been accomplished — as regards the history of
the literature, by Overbeck; of the public worship, by Rothe
and Theodosius Harnack; of the constitution of the Church,
by Rothe, Renan, and Hatch; of its doctrine, by M. von
Engelhardt. But with reference to one problem, the his
tory of the literature, a few remarks may be allowed.
The history of Christian literature has been hitherto very
unfruitfully treated, because it has been handled generally
from the entirely inadequate point of view of the history
of doctrine. There is perhaps no literature in the world
which is still so little scientifically investigated as the pa
tristic; and yet what a high significance it possesses! It
became, when it stepped into the place of the ancient heathen
literature, like the maternal bosom for all the literatures of
the Latin and Q-ermanic peoples. But into the place of
the ancient heathen literature it stepped only after it had
appropriated all its forms and a portion of its spirit. Christian
literature begins in the first century with quite peculiar
forms, alien alike from the Greek and Roman; in particular
it begins with the forms of the Apocalypse and the Gospel.
But as early as the fourth century it made use of all the
literary forms known to the ancient world — the scientific
treatise, the dialogue, the commentary, the philosophical
system, the elegant oration, the panegyric, the historical
essay, the chronicle, the romance, the novel, the hymn,
the ode, the didactic poem, &c. &c. Here, then, is the
great question for the history of early Christian literature.
How, in what order, and under what conditions did Chris
tianity make itself the master of the old classical literary
forms? In answering this question historical science has
to show that Christianity at first stood in a relation of
very deep distrust to these forms, that the so-called Gnosticism
232 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
did indeed in the conflict for the Gospel lay hold upon
them, but that the Church still declined this prize. "We
must further show how the Church, gradually indeed and
cautiously, turned to the literature which was alien to her,
and passed from her own earliest forms (the Gospel, Apoca
lypse, the prophetic oracle) to the forms of profane lite
rature. The most important precaution taken by the Church
was the formation of the Canon of the New Testament,
which places before us a selection of the primitive Christian
literature. After the Canon had been formed, and placed
as something sacred above all other writings, the Church
could well allow profane literature to come in, so far as it did
not contradict the Canon. The profane or classical Church
style began with the Apologies, to them succeeded one
style after another; and finally in the catechetical school
of Alexandria almost all the forms of ancient literature
were cultivated. The patristic literature is nothing else
than the continuation of the ancient classical literature, but
under the control of the two Testaments. The ancient
heathen literature died out in the fourth and fifth centuries,
so that at length nothing remained but the Catholic.
But this, which had taken into itself every element in the
ancient that still retained any vitality, had now fused
the G-ospel and the spirit of Greek and Roman antiquity
into innermost union within itself. Whatever the German
people has received of spiritual good, the inheritance of
antiquity and the inheritance of Christianity, they have
received through the patristic literature. It appears at
the first glance barren and without spirit; but when we
bear in mind that it possessed spirit enough to found
the mediaeval literatures of all European peoples, we shall
see that it must be due to our defective study and
understanding if we find no spirit in it. What more
important or interesting historical undertaking can there
be than to describe the development of Catholic litera-
The present state of research in early church history. 233
ture, and to show how it gradually made all the forms of
classical literature its own, how it thereby became rich and
attractive, and how, like some creeping plant, it so ex
hausted the heathen literature that the mighty tree it fed
on could only die.
Precisely the same holds good of the public worship,
the doctrine, and the organization of the Christian Church.
Christianity throughout took the marrow out of the ancient
world, and assimilated it; even dogma is nothing but the
Christian faith nourished on ancient philosophy, and the
whole of Catholicism is nothing else than the Christianity
which devoured the possessions of the Graeco -Roman world.
What an insight do we thus get into Catholicism! Whatever
in the old world was still capable of life, noble and good,
Christianity appropriated — of course with much that was
bad and untrue — and placed all under the protection
of the Q-ospel. Out of this material it created for itself
a body: thus did it preserve and save for the future
whatever was worth saving from the culture and the
ideas of the old world. To the young German peoples
the Church came not only as the Society of the Preacher
of Galilee, but also as the great impressive secular power
which alone held sway over all the forces of civilization,
literature, and law. It is indeed nothing else than the
universal Roman Empire itself, but in the most wonderful
and beneficent metamorphosis, built upon the Gospel as
a kingdom of Jesus Christ: Christus vincit, Christus
regnat, Christus triumphat. The fittest and most sugges
tive criticism we can to-day pass on Catholicism is to
conceive it as Christianity in the garb of the ancient
world, covered with a mediaeval overcoat: the Pope is the
Roman Emperor, the archbishops and bishops are the old
pro-consuls, the monks and priests are the Roman soldiery,
the Mass is the old Graeco- Roman mystery- cult, the
system of doctrine is the Greek philosophy; and so on.
234 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: I.
The strength and greatness of the Q-ospel has consisted in
this, that it could always attract to itself and preserve
everything worthy of life which the ages possessed. Just
through this power of assimilation and expansion the
Gospel has established its right to be the universal religion,
and has proved itself the most conservative of forces upon
the face of the earth, because it has secured endurance to
everything worthy to endure.
But surely this great enrichment could not take place
without the more definite ideas in the Gospel becoming
diminished and changed. A pure embodiment of the
Gospel was, under such conditions, not possible. What is
the Reformation but the work of God which was to set
the Church free again from that bondage which for but
1400 years had bound it to the ancient world? When
Luther did away the Mass, and restored the service of
God in spirit and in truth; when he overthrew the whole
Roman ecclesiastical system; when he wished, in opposition
to the scholastic theology, to establish the Christian society
again on the pure word of God— all this may be expressed
by saying that the Reformation is a return to the pure
Gospel. Only what is sacred is to be held sacred: the
traditions of men, though they be most fair and most
worthy, must be taken for what they are — viz., the or
dinances of men.
But in recognizing all this let us not, as many pole
mical Protestants have done, condemn the old Catholicism
and the whole development of the Church up to the Re
formation. Everything has its time, and every step in
the history of the Church was needed. If it was possible
in Christ's own sense to follow Him within the pale of
Judaism and its law, without anything being annulled, it
was certainly quite as possible in this sense to live accord
ing to the Gospel within that ancient Catholic Church.
It was God's providence that so guided the development
The present state of research in early church history. 235
of the Roman Empire that it resulted in that wonderful
covenant between Christianity and the ancient world which
lasted nearly 1500 years. When it had done its work,
when the time was accomplished, the covenant was dissol
ved; and it was possible to dissolve it because the Church
in her New Testament possessed Scriptures which have
nothing to do with that covenant, because they are older than
it. Therein lies the abiding value of the New Testament.
I have attempted to show the various points of view
from which, in the field of early Church history, work
may now be done. We now know what we want and
what we ought to do. But I am far from thinking that
we have accomplished much. No one can feel more than
myself how much we still need to do — that we stand only
at the beginning of the day, and labourers are few. But
the greater the part the Church takes in the work, the
more rapidly will it advance. Borne up and supported by
the living interest of the brethren, protected and preserved
from the mistrust and malevolence that walks in darkness,
our wings shall wax strong for flight.
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
"32 ZWEITER BAND • ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: II
EINTGE BEMERKUNGEN ZUR GESCHICHTE
DER ENTSTEHUNG DES NEUEN TESTAMENTS
Eosum6 eines auf dem internationalen historischen Kongrefl zn Eom
am 6. April 1903 gehaltenen Vortrags. Deutsch. und italienisch er-
scliienen in den ,,Studi religiosi, Rovista critica e storica" 1903
Maggio-Giugno si 227—240.
Die G-eschichte der Entstehung des Neuen Testaments
ist im letzten Jahrhundert mit erstaunlichem Fleifi und
ausgezeichnetem Erfolg untersucht worden; aber es sind
einige Fragen iibrig geblieben, und zwar sehr wichtige.
Sie sind iibrig geblieben, weil das, woran man sich ge-
wohnt hat, als das selbstverstandliche erscheint, und daher
die Untersuchung nicht herausfordert. Drei solche Fragen
will ich hier aufwerfen, um sie dem Nachdenken zu em-
pfehlen, und ich will versuchen, ihrer Losung naher zu
kommen.
I. Warum haben wir im Neuen Testament vier Evan-
gelien und nicht eines?
Die Antwort: nEs ist ein unerklarlicher Zufall," geniigt
nicht; denn der G-ottesdienst, die Katechese usw. verlangten
ein Evangelium. So war es in der altesten Zeit - - die
Judenchristen hatten ein Evangelium (das Hebraerevange-
lium), ebenso die Marcioniten, die Agypter etc., — und so
ist es auch in der mittleren und neueren Zeit; denn man
macht for den Unterricht und die evangelische Uber-
lieferung aus den vier Evangelien noch jetzt kiinstlich ein
einziges.
Auch die Antwort ist ungeniigend, man habe die vier
Evangelien zusammengestellt, um verschiedenen theolo-
gischen Standpunkten gerecht zu werden und sie zu ver-
mitteln; denn die drei ersten Evangelien sind in bezug
240 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IE.
auf ihren theologischen Standpunkt nur wenig verschieden.
Aber auch das vierte Evangelium kann jener alten Zeit
nicht so verschieden erschienen sein, wie uns. Man be-
merkte wohl einen Unterschied der Stufe — eine kleine
Partei hat auch sachliche bedeutende Unterschiede erkannt,
— aber nicht dogmatische Verschiedenheiten.
Sind aber die beiden versuchten Antworten unge-
niigend, so bleibt nur noch eine iibrig, namlich dafl die
vier Evangelien zusammengestellt warden, um sie in eines
zu verarbeiten, dafi aber dann rasch Verhaltnisse eintraten,
welche eine solche einheitliche Verarbeitung unratsam
machten und hemmten.
Beweise :
1. DaB ein einheitliches Evangelium zu besitzen, stets
das letzte Ziel sein mufite, liegt in der Natur der Sache
(s. o.).
2. Unser 1. und 3. Evangelium setzen sicher, unser
2. und 4. Evangelium setzen hochst wahrscheinlich bereits
kiirzere Evangelien voraus, aus denen sie zusammenge-
arbeitet word en sind. Sie sind selbst schon Evangelien-
harmonien.
3. Dieser Prozefi, aus mehreren Evangelien eines zu
machen, hat sich auch fortgesetzt, als unsere Evangelien
bereits nebeneinander standen. Justin hat um das Jahr
150 wahrscheinlich eine Harmonie aus mehreren Evangelien
benutzt, unter denen sich unsere befanden, und von Tatian
wissen wir gewifi, dafi er aus unseren 4 Evangelien eine
Harmonie, ein ,,Diatessaron", verfertigt hat. Dieses Dia-
tessaron ist bis zum Anfang des 5. Jahrhunderts das Evan
gelium der syrischen Kirche und ihrer Tochterkirchen ge-
wesen.
4. Den hemmenden Faktor, der es verhinderte, dafl
sich das Diatessaron oder ein ahnliches Buch in den
Kirchen durchsetzte, konnen wir sicher angeben, — es ist
der G-nostizismus. Er notigte die Kirchen, ihre Urkunden
Bemerkungen zur Gesch. der Entstehung des Neuen Test. 241
nicht welter mehr zu verandern, urn moglichst authentische
Urkunden zu bewahren. Diese Riicksicht wurde starker
als das praktische Bedurfnis, ein einheitlich.es Evangelium
zu besitzen, und hemmte so den ProzeB, aus den vier
Evangelien eines zu machen. Indem diese Absicht durch-
kreuzt wurde, blieb die Kirche in bezug auf das praktische
Bediirfnis in einer unvollkommenen und schwierigen Situ
ation stecken, — sie mufite fortan das Evangelium aus 4
Biichern lesen — , aber die Hemmung gewahrte der Folge-
zeit den grofien Vorteil, dafi sie das Evangelium in einer
relativ urspriinglicheren Grestalt erhielt und dauernd be-
wahrte. Unsere Kenntnis von Jesus Christus und seinem
Evangelium ware eine sehr viel unsicherere geworden,
wenn wir statt der 4 Evangelien ein Diatessaron erhalten
hatten. Dem G-nostizismus gegeniiber wurde der Buch-
stabe der 4 Evangelien geheiligt und damit bewahrt.
NB. Warum um das Jahr 120—130 (um diese Zeit
handelt es sich) grade diese 4 Evangelien, und nicht 3
oder 5 oder andere in Kleinasien zusammengestellt worden
sind, um sie einheitlich zu bearbeiten, das entzieht sich
unsrer Kenntnis ganz. Im besten Fall kann man dariiber
einige Vermutungen aufstellen. Dafi aber in Kleinasien
die Zusammenstellung erfolgt ist, lafit sich sehr wahr-
scheinlich machen.
II. Wie konnten apostolische Briefe, namentlich Pau-
lusbriefe, mit gleicher Wiirde und gleichem Ansehen neben
die Evangelien gestellt werden?
Diese Tatsache, die wir im Neuen Testamente vollzogen
sehen, ist vielleicht das Paradoxeste, was die Sammlung
bietet: Briefe, zum Teil ganz individuellen Inhalts, stehen
mit gleichem Ansehen neben dem Herrnwort!! Wie ist die
Tatsache zu erklaren? Aus der inneren Greschichte der
groBen Kirche ist sie unerklarbar. Die Antwort, der Apo-
Harnack, Eeden und Aufsatze. 2. Aufl. H. 16
242 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
stolos sei den Evangelien beigegeben worden, wie die Pro-
plieten den Biichern Mosis, erklart den Ursprung der Zu-
sammenstellung nicht; denn diese Vergleichung 1st erst
gemacht worden, nachdem Evangelien nnd Briefe bereits
zusammengestellt waren. Nur das Eine lafit sich sagen —
und das ist nicht unwichtig — : Briefe von Aposteln (aber
auch von anderen G-eistestragern) sind friihe gesammelt
und in den Gremeindegottesdiensten verlesen worden, nicht
iiur einmal, sondern wiederholt und regelmafiig. Dadurch
kamen sie ortlich und auch der Bedeutung nach in die
Nahe der Evangelien. Aber dafi sie ihnen gleichgestellt
und kanonisch wurden, ist damit doch nicht erklart.
Der Ursprung der Verbindung ist dort zu suchen, wo
Paulus ein ahnliches Ansehen genofi und geniefien muBte,
wie Jesus Christus selbst, also bei den Grnostikern und vor
allem bei den Marcioniten. Ihnen war Paulus der authen-
tische Interpret Christi und zugleich der Heformator gegen-
iiber einer ,,judaistischen" Fassung des Chris tentums, welche
Marcion sogar den Uraposteln vorwarf. Bei Marcion finden
wir auch wirklich zuerst, dafi er das Evangelium und Paulus-
Briefe verbunden und diesen dasselbe Ansehen gegeben
hat wie jenem. Fur mehrere gnostische Vereine diirfen wir
vermuten, dafi sie dasselbe getan haben. Auch ihnen war
Paulus der Interpret Christi und der Reformator.
Aber wie? sollen wir annehmen, dafi die grofie Kirche
dem Marcion und den Grnostikern, ihren Todfeinden, ge-
folgt ist, und ihre Ansicht und Ordnung nachgeahmt hat?
GrewiB nicht! Die Sache machte sich vielmehr ganz von
selbst. Die grofie Kirche konnte den Paulus nicht niedriger
schatzen als es Marcion und die G-nostiker taten; damit hatte
sie ihn denselben ausgeliefert. Allmahlich, aber sicher mufiten
die paulinischen Briefe dieselbe Schatzung in der grofien
Kirche gewinnen wie in den haretischen. Ohne merkuch
zu werden, konnte sich diese Wandlung vollziehen; denn
die Paulus - Briefe wurden ja (s. oben) in dem Grottes-
Bemerkungen zur Gescli. der Entstehung des Neuen Test. 243
dienst der grofien Kirclie gelesen. Naturlich suchte diese
aber Briefe urapostolisclier Manner den Paulus-Briefen hin-
zuzufiigen.
Ein schones aufleres Zeugnis des Prozesses, der sich
zwischen 160 und 190 vollzogen haben mufi, besitzen wir
noch in den Akten der Martyrer von Scili, die ans dem
Jahre 181 stammen. Auf die Frage des Prokonsuls: wQuae
sunt res in capsa vestra," antwortet Speratus: ,,Libri et
epistulae Pauli viri iusti." Die ,,Bucher" sind das Alte
Testament und die Evangelien. Die Paulus-Briefe werden
bereits neben ihnen genannt, aber doch noch von ihnen
nnterschieden. So hatte man nm das Jahr 160 noch nicht,
und um das Jahr 200 nicht mehr gesprochen.
III. "Wie ist es gekommen, dafi die Kirchen ein ein-
heitliches Neues Testament erhalten haben?
Bei Beantwortung dieser Frage mufi man eine Unter-
scheidung machen. DaB die Sammlung von 27 Schrifteii,
wie wir sie jetzt besitzen, zuerst in Agypten (Alexandrien)
zustande gekommen ist, und sich im Laufe des 4. und
5. Jahrhunderts — besonders durch die Autoritat des Atha-
nasius — in den anderen orientalischen Kirchen und im
Abendland durchgesetzt hat, steht fest. Aber schon vor
dieser Zeit, namlich in der 2. Halfte des 3. Jahrhunderts,
hatten fast alle Kirchen einen gemeinsamen Grrundstock
des Neuen Testaments, namlich eine Sammlung von 20 bez.
22 Schriften (es fehlten II. und IH. Joh., n. Petrus, Ja-
kobus, Hebraerbrief, bez. auch Apokalypse und Judas). Wie
ist dieser Grundstock entstanden? Er weist eine ganz be-
stimmte Struktur auf, namlich in der Mitte stehen die
Apostelgeschichte und, mit ihr verbunden, Schiiften der
Urapostel; den rechten Fliigel bilden die Evangelien und
den linken die Paulus-Briefe.
16*
244 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: II.
Fragt man, wo dieses Neue Testament entstanden 1st,
so scheiden die syrische, die alexandrinische, die gallische
und die nordafrikanische Kirche aus; denn es ist nach-
weisbar, dafi sie diese Sammlung spater erhalten haben,
bez. von anderen Kirchen abhangig waren. Es bleiben nur
die kleinasiatische nnd die romische Kirche iibrig. Die
Sammlung, wie sie nicht ein formloses Aggregat darstellt,
sondern einen deutlichen Plan zeigt, kann nicht zufallig
und an mehreren Orten zugleich entstanden sein, sondern
mufi einen bestimmten Ursprung haben. Dann aber ist es
hochst wahrscheinlich, dafi sie in Rom entstanden ist (viel-
leicht unter Teilnahme kleinasiatischer Bischofe).
In Horn namlich sind: 1. nachweisbar die beiden an
deren apostolisch -katholischen Mafistabe um dieselbe Zeit
entstanden, die apostolisch - katholische G-laubensregel und
die Auffassung vom apostolischen Amte der Bischofe. Mit
diesen beiden Mafistaben ist die apostolisch -katholische
Schriftensammlung aufs nachste verwandt.
2. In Rom ist zuerst die Sammlung von 22 Schriften
sicher nachweisbar. Es entspricht aber auch dem Charakter
der romischen Kirche, solche formale Ordnungen und Gre-
setze aufzustellen ; denn das Charisma dieser Kirche ist
stets — und auch im Altertum — nicht die Theologie ge-
wesen, sondern die Ordnung und das Q-esetz. Im Kampf
gegen den Grnostizismus hat Rom die Grenzen und Ord
nungen des Christlichen festgestellt, und von Rom aus sind
diese Mafistabe in den Jahren 190 — 250 auch zu den an
deren Kirchen gekommen und von ihnen adoptiert worden.
Dies sind die drei Fragen, welche ich vorlegen und
dem Nachdenken iibergeben wollte. Die Losungen, welche
ich versucht habe, halte ich nicht fur wissenschaftlich be-
wiesen, aber fur sehr wahrscheinlich. Nicht erwahnt habe
Bemerkungen zur Gesch. der Entstehung des Neuen Test. 245
ich die wichtigste Frage, wie es iiberhaupt zu einem Neuen
Testamente gekommen 1st? Bedenkt man, dafl weder
Christus noch die Apostel etwas Ah.nlich.es angeordnet
haben ( — wie anders steht es im Islam! man denke an
den Koran! — ), und dafi die Kirche ja bereits eine um-
fangreiche ?,littera scripta" in dem Alten Testamente be-
safi, so erscheint die Schopfung des Neuen Testaments als
ein grofies Problem, zugleich aber anch als eine grofie Tat
der Freiheit und Selbstandigkeit der Kirche. Ohne Be-
ziehung freilich auf den Gregensatz, die haretischen Be-
wegungen, wird man die Entstehung des Neuen Testa
ments nicht erklaren konnen.
ADOLF HARNACK • REDEN UNO AUFSATZE
ZWEITER BAND . ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE : HI
WAS WIR VON DER ROMISCHEN KIRCHE
LERNEN UND NIGHT LERNEN SOLLEN
Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrande, der im
Januar 1891 im Bunde evangelischer Studierender zu Berlin
ohne schriftliche Unterlage gehalten worden ist. Den
Wiinschen, ihn nachtraglich niederzuschreiben, glaubte ich
entsprechen zu sollen und liefi den Vortrag in der nCkrist-
licken Welt" 1891 Nr. 18 (30. April) erscheinen.
"Was wir von der romischen Kirche lernen und niclit
lernen sollen: vielleicht wird die erste Halfte der Frage
nicht wenige befremden. Sie werden sagen: Von der ro
mischen Kirche haben wir nichts zu lernen. Allein bei
naherem Nachdenken wird wohl jeder gestehen miissen,
dafl es mit der bloflen Abwehr nicht getan ist. Sollen wir
doch auch vom Feinde lernen, und die romische Kirche ist
nicht in jeder Hinsicht unser Feind. Was ist die romische
Kirche?
Allem zuvor — sie ist nicht mir religiose Gremein-
schaft, sondern ein Staat, und zwar die Fortsetzung des
alten romischen Weltreiches, ja dieses Reich selbst mit
demselben politisch-juristisch-religiosen Geiste. Ich spreche
hier nicht im Sinne einer Vergleichung, sondern ich bitte,
mich ganz wortlich zu verstehen. Das westromische Reich
lebt in der Form der romischen Kirche wirklich unter uns
fort mit seinem Despotismus, mit seinen Heiligtumern —
voran die ewige Roma selbst — , mit seinen Rechtsgrund-
lagen und seiner vorwiegend juristischen Auffassung der
irdischen und himmlischen Dinge. Man mag auf die Ver-
fassung, die Disziplin, den Kultus bis auf die Priesterge-
wander blicken: iiberall sieht man sich an das alte Reich
erinnert, an die vierte Danielische Weltmonarchie, und sehr
vieles im Wesen und Leben dieser Kirche wird einem iiber-
haupt nur klar, wenn man bei der geschichtlichen Beur-
teilung nicht von Jesus und den Aposteln ausgeht, sondern
von den Casaren, nicht von Q-alilaa, sondern von Rom,
nicht von der Bibel, sondern von dem kaiserlichen Recht.
250 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
Einst hat Alphanus von Salerno den groflen Hildebrand
also anger edet:
Nimm des ersten Apostels Schwert,
Petri gltihendes Schwert, zur Hand!
Brich die Macht und den Ungestlim
Der Barbaren: das alte Joch
LaB sie tragen fiir immerdar!
Sieh, wie groB die Gewalt des Banns:
Was mit StrOmen von Kriegerblut
Einstmals Marius Heidenmut
Und des Julius Kraft erreicht,
Wirkst du jetzt durch ein leises Wort.
Rom, von neuem durch dich erhoht,
Bringt dir schuldigen Dank; es bot
Nicht den Siegen des Scipio,
Keiner Tat der Quiriten je
Wohlverdienteren Kranz als dir.
Uberzeugter und kraftvoller kann man den Q-edanken,
die romische Kirche sei das alte Horn, der Papst der Casar,
die Q-ermanen noch immer die zu unterjochenden Barbaren,
nicht ausdriicken, als es dieser italienische Erzbischof getan
hat! Nur die Sprache hat gewechselt, nicht der Greist.
Die romische Kirche ist zweitens eine Schule und eine
Versicherungsanstalt — eine Schule fur die ewig Unmun-
digen, weil sie es bequem finden, in religiosen Dingen un-
miindig zu bleiben, eine Versicherungsanstalt fur die, welche
die Giiter des Evangeliums wiinschen, ohne ergriffen zu
sein von der innern Macht des Evangeliums. Keine Kirche
vermag sich wider solche sicher zu stellen, aber nur die
romische Kirche versichert sie.
Die romische Kirche hat aber endlich auch das Evan-
gelium noch immer in ihrer Mitte. Es hat in ihr zu alien
Zeiten gute und grofie Christen gegeben, und ich zweifle
nicht, dafi es noch heute in ihr solche gibt. Sie wissen
sich zugleich als treue Sohne ihrer Kirche, und wir haben
kein Recht, das in Frage zu stellen oder sie der Selbst-
Was wir von der rOmischen Kirche lernen und nicht lernen sollen. 251
tauschung anzuklagen. Ein jeder wird ungerecht gegen
die romische Kirche, der diese Tatsache nicht wiirdigt.
Das Q-eheimnis dieser Kirche 1st, dafl sie Weltstaat, Schule,
sakramentale Versicherungsanstalt und Q-emeinschaft des
Q-laubens zugleich ist. Wer bezweifelt, dafi dies moglich
ist, soil sich aus der Greschichte belehren, dafl es wirklich ist.
Was konnen wir von dieser Kirche fiir unsre eigne
Kirche, fur den Protestantismus, lernen?
Nun erstlich — Geduld. Was die vollkommene und
einheitliche Ausgestaltung des Katholizismus betriffb, so
hatte ein Kirchenhistoriker des fiinfzehnten Jahrhunderts
die Frage nach dem Wesen dieser Kirche nur mit grofier
Schwierigkeit oder vielmehr gar nicht beantworten konnen,
so verschiedene Stromungen, Lehren und Ziele waren da-
mals in ihr vorhanden. Wenn er sich mit seiner Beurtei-
lung nach Q-erson oder nach Hus oder nach Thomas von
Kempen oder nach Papst Pius II. oder nach Savonarola
oder nach Picus von Mirandola gerichtet hatte, so hatte er
jedesmal ein andres Bild bekommen. So vielgestaltig wie
die katholische Kirche im fiinfzehnten Jahrhundert war, so
vielgestaltig ist heute der Protestantismus , der erst drei-
undeinhalb Jahrhunderte besteht. Wir konnen daraus
lernen, dafi Konfessionen sich sehr langsam entwickeln und
erst allmahlich ihr wahres Wesen zu eindeutigem, klarem
Ausdruck bringen. Der romische Katholizismus hat mehr
als 1500 Jahre gebraucht. An diesem Maflstabe gemessen,
diirfen wir vielleicht sagen, dafi der Protestantismus sich
noch in der Zeit der Kinderkrankheiten befindet, und
miissen Mut in Qeduld fassen.
Zweitens konnen wir aus der Q-eschichte der katholi-
schen Kirche lernen, dafi selbst in dieser Kirche, die so
ganz auf die Verfassung gestellt ist, niemals die Verfas-
sungsreformen, sondern stets die lebendigen frommen Per-
sonen einen Aufschwung bewirkt und einen Fortschritt
herbeigefuhrt haben. Die grofien Monche haben neue
252 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
Stufen in der Entwicklung der Kirche herbeigefiihrt, nicht
die grofien Politiker, oder vielmehr die Politiker nur, weil
sie auf den Schultern der Monche standen. Hier konnen
wir lernen, dafl es mit Verfassungsveranderungen in der
Kirche nicht getan ist, mag man nun starker binden oder
entschlossener losen. Es konmit uberall nur auf die Per-
sonen an, die sich von der Welt befreit und in Grott ihre
Starke gefunden haben. Ein Franziskus ist machtiger ge-
wesen als viele Kirchenfursten. Der E/uf: Mehr Freiheit
fur die Kirche! ist letztlich ebenso gleichgiiltig wie der
andre: Man mufi der Kirche einen Zaum anlegen. Wenn
ein wirkliches Leben fehlt, wird die Freiheit nichts niitzen,
und wenn es vorhanden ist, wird der Zaum nicht schaden.
Ein Drittes, was wir von der romischen Kirche lernen
konnen, ist der Gredanke der Katholizitat, der Zug nach
einer allgemeinen und wirksamen Verbriiderung der Men-
schen durch das Evangelium, das Streben nach Verwirk-
lichung des Q-edankens Jesu Christi: Ein Hirt und eine
Herde. Ich glaube es aussprechen zu diirfen — der ernste
Katholik empfindet den Segen einer grofien christlichen Gre-
meinschaft lebendiger, die Spaltung der Christenheit schmerz-
licher, die Aufgabe, die alien G-laubigen gesetzt ist, ge-
wissenhafter als wir. Bei uns ist das BewuCtsein um diese
Aufgabe, alle Menschen innerlich als Kinder Gottes und
Briider Jesu Christi zu verbinden, in der E/egel nur schwach
entwickelt. Es gibt bei uns viele, die nicht nur die Tren-
nung zwischen Katholizismus und Protestantismus fur nor
mal halten, sondern auch die Spaltung des letztern in un-
zahlige Landeskirchen und Freikirchen, die sich sogar haufig
die Bruderhand verweigern. Aber der grofie Gredanke der
allgemeinen durch das Christentum herbeizufuhrenden Ein-
heit der Volker wird durch andre Ideale nicht ersetzt. Wir
freuen uns, wenn in dieser Welt der materiellen Interessen
ein edler Patriotismus gepflegt wird. Aber wie armselig
ist doch der Mensch, der im Patriotismus sein hochstes
Was wir von der rOmisciien Kirclie lernen und nioht lernen sollen. 253
Ideal erkennt oder im Staate die Zusammenfassung aller
Griiter verehrt! Welch ein Riickfall, nachdem wir in dieser
"Welt Jesus Christus erlebt haben! Wir sollen daher mit
aller Kraft die christliche Einheit der Menschheit erstreben,
in unsern kleinen Kreisen aufgeschlossen und weitherzig
sein, um fahig zu werden, daran zu glauben, dafi die
briiderliche Einheit der Menschheit kein Traum der Traumer
ist, sondern ein vom Evangelium unabtrennbares Ziel. DaB
wir hier stumpfer geworden sind, ist eine Folge unsrer
Trennung. Diese Trennung war notwendig; aber nur ein
ganz kurzsichtiger Protestant kann verkennen, dafi sie
nicht nur unsern G-egnern Schaden gebracht hat, sondern
auch uns.
Ich fiirchte nicht, dafi das bisher Gresagte auf Wider-
spruch stofit, auch nicht, dafi das, was wir von der romi-
schen Kirche hier lernen konnen, verkannt wird. Aber
ich habe noch andres zu erwahnen, was nicht von vorn-
herein auf Zustimmung rechnen kann. Ich werde mich
bemiihen, es so zu sagen, dafi ich jede Mifideutung aus-
schlieBe.
Richten wir unsre Aufmerksamkeit auf das innere
Leben der katholischen Kirche. Es ist das Moment der
Anbetung, das ich erstlich ins Auge fassen mochte. Unser
evangelisches Christentum ist doktrinar geworden, und
unser offentlicher Gottesdienst nicht minder. Dieser Dok-
trinarismus ist der Schatten unsrer berechtigten Eigenart
und unsrer besten GHiter, aber er ist doch ein Schatten.
Die Religion ist ein Leben, und als ein Leben soil sie sich
uberall darstellen, wo sie sich einen Ausdruck gibt — sie
ist ein Leben in Grott. Leben in Grott ist Anbetung. Wohl
ist forcierte Anbetung etwas hochst Abschreckendes , aber
ein Sprechen iiber die Religion, die Formel anstatt der
Sache, die Hulse anstatt des Kerns, ist nicht minder
schrecklich. Und nun vollends, wenn diese Formeln abge-
braucht und schal geworden sind, wenn sie auch den Yer-
254 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: lit.
stand nicht mehr interessieren , der das Herz so lange ge-
tauscht hat! Oder wenn die Theologie mit ihren histori-
sclien und kritischen Problemen sich einmischt in die
Frommigkeit und diese allmahlich durchsetzt und zum bunt-
scheckigsten G-ewande macht! Eine Studentengeschichte
will wissen, ein beriihmter Theologe habe einst gebetet:
GrroJBer Jahveh, den der unwissende Gresenius noch immer
Jehova nennt! Es ist eine schlimme Greschichte, die sicher-
lich erfunden ist, aber sie ist nicht ubel erfunden. Es gibt
einen Doktrinarismus in der Religion, der alle Religion
profaniert, und es gibt einen andern Doktrinarismus, der
sie allmahlich lahmt. Ihm gegeniiber gilt es, die Religion
immer wieder auf sich selbst zuriickzufuhren und ihr auch
in der offentlichen Darstellung Gelegenheit zu geben, sie
selbst zu sein. Wir konnen hier von der katholischen
Kirche viel lernen. Sie fordert energischer und vielfaltiger
zur Anbetung auf als wir, innerhalb und aufierhalb des
Grottesdienstes. Ich vermag keine Ratschlage zu geben,
wie wir es machen sollen; aber ich sehe deutlich, was uns
fehlt. An der altesten Kirche konnen wir uns ein Muster
nehmen. Ihre G-emeindezusammenkunfte dienten der ge-
meinsamen Anbetung und der Nachstenliebe. Wir wollen
nicht verlieren, was wir haben; aber wir miissen unser
gottesdienstliches Q-emeindeleben neu gestalten, um nicht
zu verlieren, was wir haben.
Zweitens, der Protestantismus richtete sich von Anfang
an gegen die Messe und damit gegen das Schema vom
Opfer uberhaupt. Das war notwendig nach alien den
schweren Miflbrauchen, die mit ,,0pfern" getrieben worden
waren. Aber wir haben die Idee des Opfers, die doch eine
neutestamentliche ist, im Grunde vollstandig verworfen.
Ich finde, dafi weder in der Predigt noch im Unterricht
noch in der praktischen Anwendung der Religion vom
Opfer bei uns mehr die Rede ist, es sei denn in der An
wendung des Begriffs auf das Werk Christi. Das ist ein
Was wir von der rttmischen Kirche lernen und niclit lernen sollen. 255
ungeheurer Umschwung in der Religionsgesch.ich.te; denn
noch hat es keine Religion gegeben, in der iiicht die Opfer-
idee das Leben der Religion beherrschte. Aber wir fordern
im Protestantismus doch das Hochste, die Hingabe der
ganzen Personlichkeit. Grewifi — nur fiirchte ich, dafi bei
uns das Bessere oft der Feind des Ghiten ist, und dafi wir
uns durch eine gewisse abstrakte Strenge, das Hochste zu
fordern oder nichts, oftmals die Seelen entgehen lassen.
Der Mensch lebt im Leben des Tages nicht deutlieh in
den groBen Kontrasten, sondern in dem Widerspiel abge-
stufter Stimmungen und Motive. Hier kann kein andres
Schema das des Opfers ersetzen. Man mufi Opfer bringen,
wenn man Ideale hat und geistige Giiter erwerben oder
festhalten will. Der Mensch hat nur soviele Ideale, als er
Opfer bringt. Es wird bei uns zu wenig Entsagung ver-
langt, und zu selten hort man die eindringliche Mahnung
an unser Geschlecht, dafi es opferscheu ist und deshalb lau,
mutlos und charakterlos. Das Wort „ Opfer" hat fast einen
so schlimmen Klang bei uns erhalten, wie das Wort
,,Tugend". In beiden Fallen haben grofie religionsge-
schichtliche Umwalzungen die Quieszierung dieser Begriffe
veranlafit; aber um unser geistiges und inneres Leben ge-
sund zu erhalten, welches mit den geringsten Mitteln ge-
baut ist, konnen wir diese Schemata nicht entbehren.
Wir miissen den MLGbrauch vermeiden, und doch von An-
fang an unsre Jugend wieder lehren, dafl alles religiose
und sittliche Leben auf Opfer gestellt ist, und dafi nur
der das G-rofiere gewinnt, der freudig das Gtaringere da-
hingibt.
Drittens, die Reformation hat an die Stelle des Sakra-
ments der Bufie die aus dem Grlauben entspringende buC-
fertige G-esinnung gesetzt. Es war ihre groUte und ein-
schneidendste Tat, dafi sie Bufie und Vergebung streng und
sicher aufeinander bezogen und demgemaB die Beichte
und die Satisfaktionen zuriickgestellt hat. Aber wir haben
256 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: in.
dabei doch eine Einbufie erlitten, indem die Beichte, well
dogmatisch gleichgultig, verkiimmert ist und schliefilich in
der Praxis so gut wie ganz aufgehort hat. Wohl erziehen
wir unsre Kinder so, daB sie ihre Fehler und Siinden
mundlich bekennen sollen, und auch die Verbrecher in den
Grefangnissen suchen wir zu einem Schuldbekenntnis zu
bewegen. Aber iiber Kinder und Grefangne hinaus haben
wir die Einsicht des Segens der confessio verloren. Dafur
haben wir uns an allgemeine Schuldbekenntnisse in Bausch
und Bogen gewohnt. Sie fallen uns auBerordentlich leicht,
so leicht, dafi es bereits zum guten Kirchenton gehort, wo
nur immer eine christliche Versammlung zur Besprechung
einer wichtigen Tagesfrage abgehalten wird, ein allge-
meines Schuldbekenntnis vorauszuschicken. Eine seltsame
und traurige Verwechslung ! Statt dem Einzelnen die
Uberlieferung und die Grelegenheit zu schaffen, sich zu be
kennen und durch Aussprache innerlich zu befreien, tauscht
man ein Formular ein. Jenes ist schwer, aber heilsam;
dieses ist leicht, aber vollig gieichgiiltig, ja abstumpfend.
Ich bin wohl gegen das Mifiverstandnis gedeckt, als
wiinschte ich eine obligatorische Ohrenbeichte. Sie ist das
Schlimmste von dem Schlimmen, denn sie fuhrt, wie die
Erfahrung gelehrt hat, zur Luge. Darum ist jeder andre
Zustand ihr vorzuziehen. Aber zwischen der obligatorischen
Ohrenbeichte und dem Mchts, das wir an ihre Stelle ge-
setzt haben, gibt es noch viele Stufen. Ich mochte auch gar
nicht in erster Linie die Pfarrer und offentliche kirchliche
Einrichtungen herangezogen wissen, sondern ich mochte,
dafi man es auch den Erwachsenen eindringlich einpragt,
welch ein Mittel fur die Gresundheit der Seele und welch
ein Mittel fur eine geistige G-emeinschaft sie damit preis-
geben, dafi ein jeder seine eigne Last tragt und darauf
verzichtet, sich auszusprechen. Gewifi gibt es Menschen,
so stark und so zart, daB sie mit sich und ihrem Grott
allein fertig werden konnen und miissen; aber sie sind
Was wir von der rOmischen Kirche lernen und nicht lernen sollen. 257
nicht in der Mehrzahl. Fur die meisten gilt es, daB sie
sich von sich selbst und von boser Schuld nur in dem
MaBe zu befreien vermogen, als sie offen gegen andre sind
und ihre Seele von der Liebe eines Bruders fiihren lassen.
Jede Aussprache starkt bereits den Charakter, und zu wissen,
dafi eine andre Seele die eigne Last, die man bekannt hat,
mit tragt, ist einer der starksten Hebel zum Gruten. Diirfen
wir sagen, dafi in unsrer evangelischen Kirche in dieser
Richtung etwas Nennenswertes geschieht? Haben wir eine
Uberlieferung hierfiir? Konnen wir hier nicht von der
katholisehen Kirche lernen, und ist es nicht strafliche
Torheit, der wurmstichigen Friichte wegen den ganzen
Baum der Beichte auszurotten?
Viertens, die Reformation hat das Monchtum abgetan
und jener vermessenen Frommigkeit den Krieg erklart, die
da glaubte, furs Leben iiber sich entscheiden zu konnen.
Wer aus der Geschichte den Jammer des obligatorischen
Zolibats und den Jammer des Monchtums, der gebrochenen
Seelen, der befleckten Grewissen und der gezwungenen „ Re
ligion" kennt, wird nicht aufhoren, die befreiende Tat der
Reformation zu preisen. Aber lag nicht eine Wahrheit in
dem Monchtum? Niemand wird diese Frage verneinen,
der die Institution unsrer Diakonissen schatzt. Er wird
auch nicht in Abrede stellen, wenn er das Leben kennt,
dafi ohne Regel keine Gremeinschaft von Arbeitern bestehen
kann, und dafi die, welche sich zum Dienst am ISTachsten
im besondern Sinne verpflichten, den besondern irdischen
Griitern freiwillig ent sagen und Qehorsam iiben miissen.
Aber was uns erst in diesem Jahrhundert, nicht ohne Wider-
spruch, in bezug auf die Diakonissen aufgegangen ist, ist
uns in bezug auf Diakonen, oder wie man sie nennen mag,
noch nicht oder nur in bescheidenster Weise klar geworden.
Und doch ist es mir keinen Augenblick zweifelhaft, dafi
wir in den sozialen und kirchlichen Noten der Gregenwart
Gremeinschaften brauchen, erfullt von dem Greiste, wie ihn
Harnack, Reden und Aufsiitze. 2. Aufl. U. 17
258 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
die rechtschaifenen und lauteren Monche besessen haben
und noch besitzen. Wir brauchen Menschen im Dienste
des Evangeliums , ,,die alles verlassen haben", urn denen
zu dienen, die niemand bedient. Die Parallele mit den
katholischen Monchen schreckt mich nicht. Die evan-
gelisclien Monche werden von Verdiensten nichts wissen
und werden deshalb jeden Augenblick zuriicktreten konnen,
ohne Schmach und Schande. Man wendet ein, dafl die
Kraft des Monchtums eben in der Unwiderruflichkeit des
Greliibdes liegt, also in dera Zwang. Aber ware das wahr,
so ware das Monchtum von seiner Wurzel her profaniert,
also unmoglich. Die evangelischen Kirchen werden ent-
weder noch kiimmerlicher werden, als sie schon sind, oder
die Liebe wird sie erfinderisch machen, und sie werden das
in sich erwecken, was heute noch keine Form hat, aber
sich in dem dringenden Bediirfnis bereits ankiindigt und
in kleinen Anfangen lebt. So gut wir Missionare haben
fur die Heiden, die freiwillig vieles entbehren miissen, so
gewiJB konnen wir auch Gremeinschaften von Briidern haben,
die um des besondern Berufs willen Entsagung iiben, um
frei zu sein fur den Dienst derjenigen, die an den Land-
straBen und Zaunen liegen.
Aber noch in einer andern Richtung konnen wir von den
Klostern lernen. Wir haben Zuchthauser und Arbeitshauser,
aber wir haben keine Statten, in welche sich die zuriick-
ziehen konnen, die im Sturme des Lebens Schiffbruch er-
litten haben und sich in der grofien Welt nicht mehr zu
halten vermogen. Wie viele gibt es, die sich zuriickziehen
sollten, und die es auch wollen, wenn ihnen nur irgend
ein Hafen winken wiirde, sei es zum Ausruhen, sei es vor
allem zu neuer Tatigkeit! Wie viele konnten bewahrt wer
den, wenn sie E/iickhalt fanden an einer geschlossenen
Gremeinschaft, in der sie nach stronger Regel zu gemein-
nutzigem Wirken angeleitet wiirden und sich selber dienten,
indent sie andern dienstbar werden. Doch ich darf diesen
Was wir von der rttmischen Kirche lernen und nicht lernen sollen. 259
Punkt nicht naher ausfuhren. Sie wiirden meine pia de-
sideria vielleicht allzu kuhn finden. Aber ich weifi, dafi
ich nicht der einzige bin, der sie hegt, dafi sie vielmehr
jeder teilen moG, der nicht den Protestantismus zur Kon-
fession des latenten Christentums fortzuentwickeln den Mut
hat, und ich weiG auch, dafi die Geschichte der christlichen
Kirche, wie sie sich im Monchtum darstellt, nicht nur die
Greschichte eines groJBen Irrtums ist.
Noch manches andre ware zu nennen, was wir von
der katholischen Kirche lernen konnen. Ich brauche nur
zu fragen, in welcher Kirche Deutschlands das sogenannte
,,Laienchristentum" eine grofiere Macht ist, ob in der Kirche
des allgemeinen Priestertums oder in der romischen Kirche?
Doch auf diesen Punkt einzugehen, wiirde zu weit fiihren;
denn die ,7groBere Macht", wie sie sich aufierlich darstellt,
entscheidet noch nicht und ist nur unter Voraussetzungen
wiinschenswert, die im Katholizismus nicht erfullt sind.
Ich beschranke mich auf das bisher Angedeutete und wende
mich zu der zweiten Frage: wWas wir von der romischen
Kirche nicht lernen sollen?"
Sie werden antworten, nicht ihre Dogmatik, nicht ihre
Verfassung, nicht ihren Kultus. Aber damit ist so viel
gesagt, dafi ich furchte, es ist sehr wenig Eindrucksvolles
gesagt. Ich werde mich auf einige besonders wichtige
Punkte beschranken.
Erstlich: wir sollen unser Christentum und unsre Kirche
nicht festnageln auf einer bestimmten Stufe der Erkennt-
nis und Kultur. Die romische Kirche vermag es, alle mog-
lichen Erkenntnisse , Formen und Mittel unsrer Zeit zu
ihrem Nutzen zu verwerten; aber im Grrunde steht sie be-
harrlich fest auf der Stufe des Mittelalters, des dreizehnten
Jahrhunderts. Alles iibrige, was sie herbeizieht, ist nur
Dekoration oder politisches Mittel zum Zweck. Die kirch-
liche Yerfassungsform , die sie fur die gottliche ausgibt,
ist die Kirchenverf assung , wie sie Innocenz III. und IV.
17*
260 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
abschlieflend ausgebildet haben; die Dogmatik, die sie allein
gelten lafit, ist die des heiligen Thomas und seiner laxeren
Nachfolger; die Wissenschaft, die sie allein brauchen kann,
ist die mittelalterliche. Wohl liebt sie es, sich durch einige
halbgelehrte Leute mit agyptischen und assyrischen Ent-
deckungen ausstatten und die Steine in der Weise moderner
Archaologie fiir sich reden zu lassen, auch sich, wo es
geht, mit neuester Naturforschung auszustafneren! Sand
in die Augen! An alien wirklichen Problemen mufi sio
voriibergehen , und das, was heute Geschichte, Kritik und
philosophische Erkenntnis heiBt, darf fiir sie nicht existieren.
Diese Kirche ist noch immer das Mittelalter, ist um sechs-
hundert Jahre zuriick und lebt noch, weil die Modernen
Fehler machen und nicht alle Bediirfnisse zu befriedigen
verstehen. Auch alles das, was wir in den letzten zwei-
hundert Jahren iiber die Greschichte der Bibel und des
Urchristentums gelernt haben, ist fiir diese Kirche nicht
vorhanden oder doch nur als Spielzeug oder als Mittel, den
Verstand zu uben und das, was der geschichtliche Sinn
feststellt, durch die Kunst des Geschichtsadvokaten mit
ihrer eisernen Geschichtsbetrachtung zu verklittern.
Aber wie steht es bei uns? Sind wir nicht seit den
Heaktionen am Anfange unsers Jahrhunderts , die uns so
viel Grutes und so viel Schlimmes gebracht haben, in Ge-
fahr, es der romischen Kirche nachzutun? Steht der Pro-
testantismus im Bunde mit alien wirklichen Erkenntnissen
der Zeit, wie einst die Apologeten des zweiten Jahrhunderts,
oder schleicht er nicht vielmehr hinter der Zeit mifitrauisch
und scheltend einher? Schmahen nicht viele seiner an-
gesehensten Vertreter iiber die Wissenschaft, wie einst
Epiphanius iiber Origenes? Brauchen sie sie nicht ledig-
lich als Dekoration, alien wirklichen Problemen aus dem
Wege gehend, Miicken seihend und Kamele verschluckend?
IsTehmen die evangelischen Kirchen wirklich das in ihren
Pienst, was nachst dem Evangelium unsre besten Giiter
Was wir von der rOmisclien Kirche lernen und nicht lernen sollen. 261
sind, die Ansbildung des geschichtlichen Sinnes, die wir
eiiebt haben, und die sichere Methode der Wissenschaft
auf jedem Grebiet, die uns geschenkt ist? Richten die
Kirclien ihren Unterricht em nach den geschichtlichen und
den allgemeinen Erkenntnissen, von denen sich heute nur
der Religioiislehrer emanzipiert, und auch der nur so lange,
als er Religion lehrt? Ist's denn nicht schon so, dafl Tau-
sende unsre offentliche Weise, Religion zu lehren, als eine
Superstition empfmden und die Ernstesten sich abwenden,
weil sie ihr intellektuelles Grewissen verletzt fuhlen? Sollen
auch die evangelischen Kirchen zu Petrefakten werden?
Man mifiachtet die ^natiirlichen" Wahrheiten ebensowenig
ungestraffc wie die ?,naturlichen" Ordnungen. In beiden
Fallen ist ein Monchtum schlimmster Art die Folge. Es
lebt im Rafnnement des Kontrastes und verschiittet die
gesunde Quelle heller und freudiger Frommigkeit. Schon
die Unterscheidung natiirlicher und ubernaturlicher Wahr
heiten ist ein bedenklicher mittelalterlicher Irrtum. Jede
Erkenntnis der "Wahrheit ist aus der Q-ewissenhaftigkeit
und Selbstveiieugnung geboren und dient dem Herrn
der Wahrheit. Ubernatuiiich ist das Leben in Gott; die
Wahrheiten sind ,,naturiich". Sie miBachten, heifit un-
fromm und unwahrhaftig werden. Was aber ist der Pro-
testantismus , wenn er unwahrhaftig wird, er, der iiber-
haupt nur ein Charisma besitzt, den ,,verniinftigen Q-ottes-
dienst" auf Grrund der gewissen Erkenntnis Grottes. Wenn
der evangelische Christ nicht jeder Wahrheit frei, froh-
lich und dankbar ins Auge schauen kann, wenn seine
Lehre nicht so eingerichtet ist, daB er es darf, so ist er
arm, bettelarm! Aber wahrend sonst auf alien Grebieten
der Erkenntnis die Frage: Was ist Wahrheit? heute die
regierende ist und ein unsaglich.es Mafi von ernster Arbeit
an sie gesetzt wird, sieht man diese Frage innerhalb der
evangelischen Kirchen langsam von der Tagesordnung ver-
schwinden, weil sie im Zeitalter der kirchlichen ^Aktua-
262 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
litat" nicht opportun 1st. Man halt es fur richtiger, Land-
und Kirchenpfleger zu sein im Sinne der Pilatusfrage : Was
1st Wahrheit? Die so tun, wissen oft nicht, was sie tun,
und haben den gewichtigen Schild fur sich, dafl man Kirchen
nicht beunruhigen diirfe. Aber um Zehn nicht zu be-
unruhigen, werden Hunderte abgestofien, und um die
flSchwachen", die sich doch die Starken diinken, zu scho-
nen, treibt man die Starken in die Wiiste oder zwingt
schliefilich einen kleinen Teil von ihnen zur Unterwerfung.
In der romischen Kirche ist das alles wohl verstandlich.
Sie hat angeblich ein eisernes Gesetz von Gott empfangen
und setzt sich auf Grund desselben iiber Geschichte und
Wissenschaft , Individualitat und Gewissen hinweg. Aber
wir haben nichts dergleichen empfangen und wollen auch
nichts andres, als die Verkiindigung des Evangeliums Gottes
in Christo. Wer zwingt und notigt uns denn, uns an ein
Gesetz zu verkaufen, statt es zu reformieren, wo es in un-
sern Tagen der Reform bedarf?
Damit bin ich schon auf ein Zweites gekomnien, was
wir von der romischen Kirche nicht lernen sollen: uns zu
begniigen mit der Unterwerfung unter das Kirchentum,
mit dem blofien G-ehorsam, mit dem, was der Kunstaus-
druck fides implicita nennt. Einst gab es eine Zeit, wo
man im Protestantismus vor diesem Gift nicht zu warnen
brauchte; aber es ist lange her. Wo in religiosen Dingen
der absolute Gehorsam regiert, da gibt es kein individuelles
Gewissen mehr. Das haben uns alle jene Bischofe gezeigt,
die nach der Proklamation der Unfehlbarkeit sich fiir sie
entschieden, obgleich sie ihr vorher heftig widersprochen
hatten. Im Sinne der katholischen Religion brachten sie
das groJSte Opfer, und ich wurde mich nicht wundern, wenn
man sie allesamt selig sprache. Im Sinne der Religion,
die mit dem Gewissen steht und fallt, haben sie eine schwere
Schuld auf sich geladen. Das ist ein drastisches Beispiel.
Aber minder drastisch wiederholt sich dasselbe hundertmal
"Was wir von der rttmischen Kirche lernen nnd nicht lernen soil en. 263
for jede Seele, die sich ihrenWeg blind durch Autoritaten
vorschreiben lafit. Mcht die Abhangigkeit ist das schlimmste,
sondern die Selbsttauschung, in der man an die Stelle der
Frommigkeit, d. h. eines Lebens, die Beobachtung von Vor-
schriften setzt. Ob man nun in Weise Ludwigs XIV. und
Voltaires diese Unterwerfung aus einer unbestimmten Angst
iibt, die sich mit Frivolitat wohl vertragt, oder ob aus Sorge
fur das Gemeinwesen und den ,,gemeinen groben Manna
oder aus Unruhe und wirklicher Verzagtheit des Herzens,
ist freilich ein sehr groBer Uiiterschied. Aber in dem ne-
gativen Ergebnis kommen alle diese Motive auf eins heraus
— die Furcht bleibt iibrig und die Friedelosigkeit. Diese
,,Kirchlichkeit" wollen wir der romischen Kirche iiberlassen,
die sie nicht missen kann; denn wie klein ware die Zahl
ihrer Q-laubigen, wenn man ihr alle die entzoge, die bloB
mittun!
Aber noch ein Drittes mochte ich hier anschliefien,
was wir von der romischen Kirche nicht lernen sollen: nur
aufierlich angeeignete Ideale machen fanatisch, und eine
Kirche, die auch ein Staat sein will, braucht den Egoismus
und Fanatismus des Staates. Wir aber konnen diesen
Fanatismus nicht brauchen; er ist ein fremdes Grewachs
auf unserm Boden. Wenn es richtig ist, dafi das evan-
gelische Christentum die hochste Stufe in der kirchlichen
Ausbildung des Christentums ist, so haben wir diesen
unsern Standort dadurch zu bezeugen, daB wir die untern
Stufen in ihrer Bildung verstehen, verstandig wiirdigen
und in diesem Sinne tolerant sind. Toleranz ist freilich
selbst schon ein schlimmes Wort. Wir haben mehr zu
iiben als Toleranz, namlich Anerkennung. Auch ist es
eine ganz iible Maxime, zu sagen, man miisse gegen alle
tolerant sein, nur nicht gegen die Intoleranten. Wodurch
will man sie denn sonst gewinnen? Und auf das Gewinnen
kommt es doch an, nicht auf das Niederschlagen. Mag
uns die romische Kirche wie immer begegnen — so lange
264 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: III.
sie nicht eingreiffc in die Sphare des Rechts, das wir zu
schiitzen haben, soil sie unsrer Achtung und ihre GHieder
unsrer Liebe sicher sein. Wir konnen doch unsre eigne
Geschichte niclit verleugnen oder ummachen ! Die Gre-
schichte der katholischen Kirche aber bis zum sechzehnten
Jahrhundert ist unsre G-eschichte, und es steht uns iibel an,
niitzt auch nichts, die Zuriickgebliebenen zu schelten. Wir
treten aber auf eine niedere Stufe, namlich auf die Stufe
der romischen Kirche, wenn wir sie mit ihren Waffen be-
kampfen wollten. Eben diese Waffen haben wir nieder-
gelegt, als wir sie verliefien, und trat das auch niclit am
Anfang zutage, so mufi es heute jedeni offenbar sein.
Denn dafi die Kirche der Reformation verbesserlich, perfek-
tibel ist und seit Luther sehr viel zugelernt hat, das mufi
auch das blodeste Auge erkennen, und dafi wir imstande
sind, zuzulernen, das ist unser Stolz und unsre Freude.
Noch ware vieles zu sagen uber das, was wir von
Rom nicht lernen sollen. Ich konnte zusammenfassend
sagen, dafi unsre Kirche kein Staat, keine Schule fur ewig
Unmiindige und keine sakramentale Versicherungsanstalt
werden soil. Ich konnte den Finger auf den Unterschiecl
von Klerus und Laien legen und fragen, ob uns die G-e-
fahr so fern liegt, von den Greistlichen und Theologen ein
andres Christentum zu fordern als von den Laien. Aber
ich will diesen Punkt nicht anders beriihren, als indem
ich ihn positiv wende: moge sich aus alien Grarungen
unsrer Zeit eine evangelische Kirche herausgestalten mit
einem festen, aber weiten Bekenntnisse ; moge sie es besser
lernen, das Evangelium unserrn Greschlechte zu verkiinden
und mit jeder Wahrheit im Bunde zu stehen, und moge
sie sich dann entfalten zu einem Bruderbunde inmitteii
dieser gespaltenen Menschheit, zu einem Bunde, so um-
fassend, wie das menschliche Leben, und so tief, wie die
menschliche Not.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
2^ ZWEITER BAND • ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: IV
DAS TESTAMENT LEGS XIII.
DAS PAPSTLICHE RUNDSOHREIBEN AN DIE FUE-STEN
UND VOLKEB DES ERDKREISES VOM 20. JUOT 1894
Erschienen in den PreuBischen Jahrbtichern, Band 77 (1894) Heft 2.
Na.ch dem Evangelium Johannis hat der scheidende
Heiland in der Nacht, da er verraten ward, Abschiedsreden
an seine Jiinger gerichtet. Sie miinden aus in das hohe-
priesterliche G-ebet: ut omnes unum. ,,Da Wir Stellvertreter
des allmachtigen Grottes tier auf Erden sind, und Tins an-
dererseits das hohe und sorgengebeugte Alter mahnt, dafi
das Ende der Zeitlichkeit fur Uns unauf halts am herannahe,
so haben Wir geglaubt, das Beispiel Unseres Erlosers und
Lehrmeisters Jesus Christus nachahmen zu sollen, der kurz
vor seiner Hiickkehr in den Himmel in heiOem G-ebete vom
ewigen Vater erflehte, dafi seine Anhanger und Jiinger
Eines Sinnes, Eines Herzens seien: «Ich bitte . . , . dafi
alle Eins seien. >a
Also niehts Qeringeres hat der gegenwartige Papst
mit diesem Rundschreiben beabsichtigt, als ein Seitenstiick
zu der letzten Rede, die der vierte Evangelist Jesus in den
Mund gelegt hat , zu liefern - - eine hohepriesterliche Gre-
betsrede, wie sie der Sohn Q-ottes halten wlirde, wenn er
heute sichtbar in der Mitte seiner Kirche stiinde, um von
ihr auf Erden Abschied zu nehmen. Den Erloser in neuen
Worten sprechen zu lassen, hat schon manche fromme
Seele und mancher Dichter versucht, und wir horten ihneii
mit Teilnahme zu. Aber wenn der Versuch von einem ge-
macht wird, der sich selbst ,,den Stellvertreter des allmach
tigen Gottes auf Erden" nennt, so regt sich im Grrunde
unserer Seele etwas wie ein Schauder. Nur weil wir durch
die haufige Wiederholung gegen die Anmafiung schon ab-
gestumpft sind, bricht dieser Schauder nicht mehr kraftig
268 Zweiter Band, zweite Abteilung. Anfsatze: IV.
hervor. Ob es dem, der sie sich erlaubt, selbst anders
geht? oder ob ih.ni wirklich niemals mehr bei seiner Grott-
ahnlichkeit bange wird? wer kann das wissen! So frucht-
los es ist, dariiber nachzusinnen , so interessant und lehr-
reich ist es aber, die Knndgebung selbst zu betrachten
nach der religiosen und nach der von ihr nicht zu trennen-
den kirchenpolitisclien Bedeutung. Was hat der scheidende
Hohepriester der romischen Kirche dieser seiner Kirche, was
hat er ,,den Fiirsten und Volkern des Erdkreises" zu sagen?
Unzweifelhaft haben wir in dieser Enzyklika vom 20. Juni
sein Testament zu erkennen, zwar nur sein offentliches
Testament ohne die ,,Ausfuhrungsbestimmungen", die nicht
vor das forum publicum gehoren, aber doch seinen letzten
Willen, besser seine letzten Wiinsche und Ratschlage; denn
ein eigentliches Testament kann kein Papst seinem Nach-
folger oder der Kirche hinterlassen.
Der Papst beginnt mit der Erinnerung an sein Jubi-
laum. Es hat seinen Mut und seine Freudigkeit gestarkt;
denn ,,in jenen Tagen schien es, die ganze katholische Welt
habe gleichsam alles andere vergessen und den Blick ihrer
Augen und die Gredanken ihrer Seele nur auf den Vatikan
geheftet". Ein sehr optimistischer Zug geht infolgedessen
durch das ganze Rundschreiben: ,,Unsere Zeiten sind der
Wiederherstellung der Eintracht und der weiteren Verbrei-
tung der Wohltat des christlichen Grlaubens aufierst giinstig;
denn niemals hat das Greftihl der allgemeinen menschlichen
Briiderlichkeit die Q-eister so tief bewegt, und zu keiner
Zeit sah man die Menschen sich eifriger aufsuchen, um
sich gegenseitig kennen zu lernen und sich zu niitzen."
Dieser optimistische Zug der Greschichtsbetrachtung ist den
grofien Kundgebungen der katholischen Kirche seit den
Tagen der Kontrareformation eigentiimlich. Nur voriiber-
gehend, wenn die Zeitlaufe zu schlimm erschienen, ist er
in den Hintergrund getreten. Durch ihn unterscheidet sich
der Katholizismus sehr scharf von dem orthodox-pietistischen
Das Testament Leos XIII. 269
Protestantismus, dessen Vertreter haufig nach der Schablone
arbeiten, dafi es von Tag zu Tag in der Welt schlimmer
werde, und durch Jammern und Wehgeschrei Eindruck zu
machen suchen. Dieser Kundgebung dagegen ist die hoff-
nungsvolle Stimmnng so scharf aufgepragt, dafi der Papst
sich am Schlnsse des Schreibens selbst genotigt sieht, sie
etwas zu dampfen; aber wie es geschieht, 1st hochst merk-
wiirdig: ,,M6glich, dafi dem einen oder anderen Unsere
Hoffnungen als allzu rosig erscheinen, da sie sich. auf Dingo
beziehen, die viel mehr zu wiinschen als zu erwarten sind.
Aber wir setzen all Unsere Hoffnung, all Unser Vertrauen
auf den Erloser des Menschengeschlechts Jesus Cliristus
und ermutigen Uns durch den Q-edanken, wie vieles und
wie grofies einstmals vollbracht ist durch die Torheit des
Kreuzes und die Predigt vom Kreuze zum Staunen der
Welt und zur Beschamung ihrer Weisheit."
Jeden evangelischen Christen werden diese Worte, in
denen sowohl die Jungfrau Maria, als auch die Heiligen und
die Macht der Kirche aus dem Spiel gelassen ist, erfreuen.
Sie stehen aber in dem Schreiben nicht isoliert, vielmehr
— und damit hebe ich ein zweites wichtiges Merkmal an
diesem Rundschreiben hervor - beobachtet man durcli-
gehends, dafi der Papst bestrebt ist, in der religiosen Aus-
sprache lediglich die okumenisch-christlichen Gredanken zum
Ausdruck zu bringen unter Absehen von alien strittigen
Sonderlehren und romisch-katholischen Eigentumlichkeiten.
Nur die Erwahnung des 7,rechtmaJBigen Lehramts, das dem
Petrus und seinen Nachfolgern ubertragen ist", bildet
natiirlich eine Ausnahme. Aber die Konsequenzen des-
selben werden mehr angedeutet, als ausgesprochen. Selbst
von der Unfehlbarkeit ist nirgends in dem weitschichtigen
Aktenstiick die Rede, und alle Ziige spezifisch-katholischer
Frommigkeit fehlen vollstandig. Man darf darum ohne
Ubertreibung sagen, dafi sich Leo XIII. in diesem Schsei-
ben so 6'kumenisch und nevangelisch" ausgedruokt hat, als
270 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IY.
es die Uberlieferung seiner Kirche irgend zulaflt — in welch
hohem Mafie sie es wirklich zulafit, das zeigen uns eben
diese Ausfuhrungen, die z. B. in dem fiir die Protestanten
bestimmten Abschnitt mit den Worten schliefien: ndamit
Ihr Gott mit Uns in Heiligkeit dient, mit Uns in voll-
kommener Liebe vereint durch das Bekenntnis Eines
Evangeliums, Eines Grlaubens, Einer Hoffnung." Dafl das
flEvangelium" hier besonders genannt und dem Grlauben
und der Hoffnung vorangestellt ist, erscheint wie eine Ak-
komodation an die protestantische Ausdrucks weise , natiir-
lich ohne dafi deshalb der katholischen Lehre irgend etwas
vergeben ware. Aber zufallig ist es gewifi nicht, zumal
wenn man die Kundgebungen Pius IX. vergleicht, daB wir
von der allerseligsten Jungfrau, von den Anrufungen der
Heiligen, von der Macht des Beichtstuhls , von Ablassen
und dergleichen nichts horen.
Ein drittes charakteristisches Merkmal dieses Rund-
schreibens endlich ist der freundliche Ton gegeniiber den
,,Ketzernu. Zu alien Zeiten freilich hat die romische
Kirche neben dem Stab ,,Wehe" den Stab ,,Sanft" zur
Verfugung gehabt und je nach den Verhaltnissen zwischen
den beiden Staben abgewechselt, auch eine Grruppe von
Polemikern streng und fanatisch, eine andere gleichzeitig
mild und einladend schreiben lassen, dort mit der Holle
gedroht, hier die ^Verirrten" freundlich angerufen. Aber
so durchweg milde, so entgegenkommend, so bestrickend
ist selten von einem Papste geschrieben worden. Man
darf noch mehr sagen — der Papst fordert, wie wir sehen
werden, geradezu auf, das Vergangene vergangen sein zu
lassen; er raumt, wenn wir ihn recht verstehen, gegeniiber
den Protestanten sogar ein, daJS in der Zeit der Trennung
der Kirchen einige dunkle Punkte liegen, die nicht ledig-
lich Schuld der Ketzer sind: dariiber moge man sich hin-
wegsetzen und rein sachlich und von neuem die Frage der
Wahrheit erwagen. Nur an einer Stelle wird das Schreiben
Das Testament Leos XIII. 271
streng, namlich dort, wo es sich um die Freimaurer handelt,
aber das betrifft nicht die fremden Konfessionen , sondern
den innern Zustand der romanischen rein katholischen
Lander. Davon abgesehen hat der Papst seine Feder nur
in Wohlwollen, Liebe und Sehnsucht getaucht. Hit diesem
Tone halte man das Verfahren zusammen, welches Je-
suiten noch heute gegen die Ketzer als notwendig und
heilsam empfehlen und durchfiihren wiirden, wenn sie die
Macht hatten. Soil auch die Todesstrafe nicht in Anwen-
dung kommen, so doch Kerker, Entziehung der Nahrung,
Stockschlage und dergleichen. ,,Sie behandeln," sagte der
Graf Montalembert kurz vor seinem Tode von der Civilta
cattolica und der Kurie,*) ,,die Kirche wie eine jener wilden
Bestien, welche man in den Menagerien herumfuhrt. Be-
trachtet sie wohl, scheinen sie zu sagen, und versteht, was
sie will, und was zum Wesen Hirer Natur gehort. Heute
ist sie im Kang, gebandigt und gezahmt durch die G-ewalt
der Umstande; aber bedenket wohl, dafi sie Klauen und
Krallen hat, und wenn sie jemals losgelassen wird, dann
wird man es euch wohl zeigen.a Wie ist damit der freund-
liche Ton Leos zu vereinigen? Zu vereinigen ist er wohl;
denn auch der Erlkonig im Goetheschen Liede singt: ,,Ich
liebe Dich, mich reizt Deine schone Gestalt — und bist
Du nicht willig, so brauch1 ich Gewalt." Dieser letzte Akt
aber ist in dem E/undschreiben Leos aus guten Griinden
verschwiegen; denn die Zeiten sind der Anwendung von
Gewalt nicht giinstig, wahrend der Papst Grund zu der
Vermutung zu haben glaubt, dafi die Friedensschalmeien
und freundlichen Einladungen hier oder dort willige Horer
finden werden.
Blicken wir nach diesen allgemeinen Bemerkungen auf
das Einzelne. Der Papst beginnt mit der Anfeuerung zur
Heidenmission. ,,Da alles Heil von Jesus Christus kommt,
*) Zitiert nach DOllinger, Yortrage HI (1891) S. 293.
272 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
und kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen
gegeben 1st, durch den wir selig werden sollen, so haben
Wir keinen sehnlicheren Wunsch, als dafi dieser hochheilige
Name Jesus recht bald in alien heidnischen Landern be-
kannt nnd anerkannt werde." Er belobt die Kirche dann
dafiir, dafi sie wallezeit" das anvertraute Amt der Mission
gewissenhaffc zu erfiillen gesucht habe, bittet, dafi die Zahl
der treuen Arbeiter gemehrt wiirde, und schliefit mit einer
befremdlichen Apostrophe an Jesus Christus, wie solche
aber ofters in papstliehen Bullen vorkommen, z. B. auch
in der Bulle 7,Exsurge domine", durch die Luther verdammt
worden ist:
,,Du aber Erloser und Vater des menschlichen Gre-
schlechts, Jesus Christus, eile und saume nicht, das zu
vollbringen, was Du einst zu tun verheifien hast, indem
Du sagtest, Du wiirdest, wenn Du von der Erde erhohet
warest, Alle an Dich ziehen. Steige also endlich (!) herab
in die Herzen und zeige Dich all den Unzahligen, die
noch bis zur Stuiide der grofiten Wohltaten beraubt sind,
welche Du mit Deinem Blute der Menschheit erworben
hast," usw.
Hierauf wendet sich der Papst den morgenlandischen
Kirchen zu. In der Presse ist dieser Abschnitt als der
eigentliche Kern des Rundschreibens betrachtet worden,
alles iibrige nur als Umrahmung. Grewifi liegt auf ihm ein
besonderer Nachdruck, und er ist mit grofiter Sorgfalt aus-
gefuhrt; aber dafi er allein den Kern des Riindschreibens
und seine wahre Absicht darstellen soil, kann ich nicht
finden.
Der Papst beginnt damit, dafi er alle morgenlandischen
Kirchen ohne Unterschied der Nation und des Partikular-
bekenntnisses streng zusammenfafit; erst in dem letzten
kurzen Abschnitt dieses Teiles wendet er sich speziell an
die slavischen Volker. j^on dem Morgenlande ist zu An-
fang das Heil ausgegangen und hat sich uber den ganzen
Das Testament Leos XIII. 273
Erdkreis verbreitet." Diese captatio benevolentiae stellt er
voran, und nun wird alles aus der Kirchengeschichte auf-
geboten, was irgend imstande ist auf die Orientalen Ein-
druck zu machen. Ausdriicklich wird ihnen die Recht-
glaubigkeit bescheinigt: ^Trennt Uns ja doch auch nicht
eine unendliche Kluft, wissen wir Uns ja sogar, wenn wir
von einigem "Wenigen absehen" — so geringschatzig spricht
der Papst von der Differenz in der trinitarischen Lehre — ,,so
vollkommen Eins mit ihnen, daft Wir Selbst bei der Ver-
teidigung des katholischen Dogmas nicht selten aus der
Lehre, aus den Sitten und Gebrauchen, wie sie bei den
Morgenlandern ublich sind, Zeugnisse und Beweise ent-
nehmen. Den wesentlichen Streitpunkt bildet nur der
Primat des romischen Papstes." Indem der Papst auf
diesen Punkt naher eingeht, vermeidet er die Unfehlbar-
keit zu beriihren und spricht nur von der obersten Re-
gierungsgewalt der romischen Papste, die in alterer Zeit
von den Griechen anerkannt worden sei, resp. von der
,,Einheit der Regierung", die zur Einheit des Glaubens
hinzukommen miisse, damit die von Christus gewollte wahre
Yereinigung der Christglaubigen sich verwirkliche. Hier-
bei ist aber folgendes noch von Wichtigkeit. Erstlich deutet
der Papst, wohl nicht ohne Absicht, darauf hin, dafi in der
altesten Zeit nicht wenige Morgenlander auf dem Stuhl
Petri gesessen haben — was einst war, kann sich wieder-
holen, wenn nur die Einheit wiederhergestellt ist; auch ein
Grieche kann dann einmal wieder Regierer der Kirche wer-
den. Zweitens widerspricht er ausfuhrlich dem G-edanken,
die romischen und die griechischen Kirchen konnten bereits
auf Grund ihrer fast vollstandigen Glaubens einheit in eine
Art Konfoderation treten — nein, ,,Wir meinen die voll-
kommene, riickhaltslose Vereinigung. Das kann aber nicht
jene sein, die in nichts anderem besteht, als in jeder be-
liebigen Gemeinschaft von Glaubenslehren und in einer
gewissen gegenseitigen briiderlichen Liebe. u Es muJS ,,die
Harnaok, Reden und Aufsatze. 2. Aufl. n. 18
274 Zweiter Band, zweite Abteilung. Anfsatze: IV.
Einheit der Regierung" sein. Diese Ausfuhrung gibt zu
denken. Denn sie deutet darauf hin, dafi irgend welche
Plane zu einer naheren Verbindung der Kirchen bei voller
Grleichordnung derselben an irgend einer Stelle aufgetaucht
sein miissen. Wie kame der Papst sonst dazu, dergleichen
ausdriicklich abzulehnen? Nun, zwischen den katholischen
und den griechischen Slaven gibt es heute ,,Vermittler"
genug, und manche mogen im Interesse des anderen Drei-
bundes davon traumen, es sei eine Konfoderation zwischen
dem Zaren und dem Papst und damit auch zwischen den
beiden katholischen Kirchen, deren Haupter sie sind, mog-
lich. Diesen Traumen begegnet der Papst: iiber die Heine
Grlaubensdifferenz will er hinwegsehen, die Rechte und Pri-
vilegien der orientalischen Patriarchen wird er nicht schma-
lern; die Riten und Grebrauche der einzelnen Kirchen wird
er nicht beschranken — ausdriicklich wird das zugesichert:
,,wir werden gebiihrende Rechnung tragen ohne alle Eng-
herzigkeit" — , aber 7,die Einheit der Hegierung" ist con-
ditio sine qua non; man soil daher von jedem Q-edanken
absehen, auf Grlaube und Liebe allein ein innigeres Ver-
haltnis zu begriinden oder den Bund zwischen dem Papst-
tum und den griechischen Kirchen als ein Kartell zu ge-
stalten. Nun folgt der besondere Appell an die slavischen
Volker (das Wert ,,russischu ist vermieden):
,,Hier mochten Wir Uns noch in besonderer Weise an Euch
wenden, Ihr slavischen Volker alle, von deren Ruhme uns
die Q-eschichtswerke so Mannigfaches erzahlen (?). Ihrwisset,
was die Slaven dem h. Cyrillus und Methodius verdanken,
diesen Vatern Eures Q-laubens, deren Andenken Wir selbst
vor einigen Jahren mit neuem Grlanze umgaben. Sie sind
es, die durch ihre Tugend und ihre Arbeiten den meisten
Volkern Eures Stammes (?) die Wohltaten der allgemeinen
Bildung und der Erlosung zuganglich gemacht. So ge-
schah es, daC zwischen den Slaven und den Romischen
Papsten lange Zeit die schonste Wechselseitigkeit bestand (?),
Das Testament Leos XIIL 275
von Wohltaten auf der einen, von treuester Hingebung auf
der anderen Seite. Wenn nun eine ungliickselige Zeit Eure
Vater zum grofien Teile dem Romischen Grlauben, den sie
einst bekannten (?), entfremdet hat, so bedenket wohl,
welchen Segen es Euch bringen wird, wenn Ihr zur Ein-
heit des Grlaubens zuriickkehret. Auch Euch laflt die Kirche
nicht ab, in ihre Arme zuriickzurufen, um Euch mancher-
lei Hilfsmittel zu bieten zur Forderung Eures Heils, Eurer
irdischen Wohlfahrt und Eurer GrroBe."
Faflt der Papst ernsthaft die Moglichkeit der ^Ruck-
kehr" der Griechen, Orientalen und der griechischen Slaven,
bez. eines Teils derselben, ins Auge oder spricht er nur die
konventionelle Sprache des romischen Stuhls ? Ich glaube, man
darf nicht verkennen, dafi er wirkliche Hoifnungen hegt.
,,Wir haben die Bemerkung gemacht, dafi sich die
Morgenlander in unseren Tagen viel versohnlicher gegen die
Katholiken zeigen, ja sogar ein gewisses Entgegenkommen
und Wohlwollen an den Tag legen."
Haben diese Hoffnungen eine tatsachliche Unterlage?
Erinnert man sich der Ausfuhrungen eines Fallmerayers
iiber den uniiberbriickbaren Gregensatz des ,,Q-enius von
Rom und des Grenius vonByzanz", denkt man an die starke
Antipathie der Griechen gegen den Papst, die sich auch
oifenblich haufig genug noch kundgibt, iiberschlagt man,
dafi der echte Grrieche die ,,kleinen" Abweichungen Roms
anders beurteilen mufi, als Rom selbst sie beurteilt — sie
sind ihm Abfall von dem kirchlichen Altertum — , so mochte
man die Frage verneinen; aber die Ausfuhrungen Fallme
rayers, so viel Wahres sie enthalten, sind doch sehr ab-
strakt und rechnen zu wenig mit den Verwicklungen der
tatsachlichen Verhaltnisse. Sieht man zunachst von der
grofien russischen Kirche ab, so leuchten dem Papste wirk-
lich im Osten einige Hoffnungssterne.
Erstlich sind es die unierten Kirchen, mit denen be-
reits das ganze Grebiet des orient alischen Kirchentums be-
18*
276 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
setzt 1st. Es gibt unierte slavische, griecliische, armenische,
syrische und koptische Kirclien, und sie sind zum Teil zahl-
reich. Auffallend 1st, dafi der Papst in dem Rundschreiben
von ihnen schweigt, daU er den vorhandenen bedeutenden
Besitz Roms im Orient nicht erwahnt. Wir werden sehen,
dafi er dem Protestantismus gegeniiber anders verfahrt, dafi
er sich hier ausdriicklich auf die bereits Konvertierten be-
ruft. "Wenn das gegeniiber den Orientalen nicht geschieht,
so laflt sich vielleicht annehmen, dafi er in den nnierten
Kirchen die Briicke nicht erkennt, auf der er das Granze
heruberfuhren will. Diese nnierten Kirchen haben fiir be-
sehranktere G-ebiete ihre besondere Mission — aber, wenn
es sich um die Aussicht handelt, das Granze zu gewinnen,
wird man bei ihnen nicht anzukniipfen haben; denn sie
haben sich durch ihre vorzeitige Union in eine schiefe
Stelhmg zu ihrer Nation gebracht und geniefien dort kein
Ansehen.
Zweitens kommt die Tatsache in Betracht, daB der
Patriarchat von Konstantinopel immer mehr abbrockelt und
besonders in den letzten Jahrzehnten sehr viel verloren hat.
Was er verliert, kommt der Ausgestaltung nationaler orien-
talischer Staats- und Volkskirchen zugut. Entspricht dieser
Prozefi auch in einer Hinsicht der Eigenart des orienta-
lischen Kirchentums, so kann dieses doch als katholisches
niemals das Ideal der Selbstandigkeit und Okumenizitat
der Kirche ganz vergessen, ja dieses Ideal wird sich in
steigendem Mafie geltend machen, je kleiner das Gebiet
ist, auf das sich die einzelnen j,selbstandigenu Kirchen des
Orients beschranken mussen und je starker der Staat die
betreffende Kirche beherrscht. Heute mussen sich die zahl-
reichen orthodoxen orientalischen Kirchen mit der blofien
flldee" behelfen, dafl sie alle zusammen um der Einheit des
Grlaubens willen die eine orthodoxe Kirche bilden und
,,geistig" mit dem Patriarchate von Konstantinopel ver-
bunden sind. Es ist nicht wahrscheinlich, daU auf die
Das Testament Leos XIII. 277
Dauer diese ?,Idee" geniigen wird; clenn sie sind eben ;,ka-
tholische" Kirchen, und deshalb mufi jede Erstarkung nnd
religiose Vertiefung, die sie erfahren — auch die durch
eine hohere Bildnng, falls sie nicht zu einer Art von Pro-
testantismus fiihrt — , dem Bestreben zugut kommen, die
Selbstandigkeit und aufiere Einheit der Kirche wirksamer
darzustellen. Hier nun vermag Rom einzusetzen. Es kann
den national gespaltenen und staatlich bevormundeten Kir
chen das BewuBtsein und die Form einer tatsachlichen Ein
heit geben. Jlingst las man in den Zeitungen, in Rom
denke man daran, einen romisch-katholischen Patriarchen
von Konstantinopel fiir den Orient zu ernennen. Ein Schritt
von der hochsten Bedeutung, aber auch von der hochsten
G-efahr; denn, zur Unzeit gemacht, kann er den entgegen-
gesetzten Erfolg haben. Man wird sich daher wohl noch
besinnen, ihn zu tun; aber, zur rechten Zeit gemacht, kann
er aufierordentliche Erfolge haben, zumal wenn der Papst
diesen Patriarchen in besonderer Weise ^in partem sollici-
tudinis" beruft, ihm gewisse Regierungsrechte iiber die
Kirche des Orients ,,abtrittu und sich selbst zuiiachst sozu-
sagen nur im Hintergrunde halt.
Drittens ist zu erwagen, daB die Stellung eines Teils
der orientalischen Yolker zu Rufiland eine ganz andere
geworden ist als friiher. Solange der Zar-Befreier nicht
befreite, war er die Hoffnung, auch die HofFnung der
Q-laubigen; nachdem er zu ,,befreien" begonnen, ist er der
Schrecken geworden. Rumanen und Bulgaren, selbst
Griechen und Armenier wollen von ihm nichts wissen.
Ein patriotischer Armenier sagte mir, trotz aller Schrecken,
die die tiirkische Herrschaft bereite, sei man lieber tiirkisch
als russisch. Rumanen und Bulgaren wissen, wo ihr eigent-
licher Feind sitzt, und der Grieche zittert davor, Konstan
tinopel konnte eines Tages russisch werden. Dazu: die
Bildung, welche diese alten und doch jungen Volker auf-
nehmen, ist die abendlandische; in Rumanien und Bui-
278 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
garien sitzen abendlandische , katholische Fiirsten; das
katholische Osterreich reicht bis tief in das Herz der Bal-
kanhalbinsel hinein; deutsche und italienische Monche
arbeiten zahlreich und mit grofiem Erfolge im Nordwesten
der Halbinsel, und die Bahn, die nach Saloniki fiihrt,
zieht die Nordkiiste des agaischen Meeres an die oster-
reichische Monarchic heran. Diese Neugestaltung der Ver-
haltnisse koramt liberal! der romischen Kirche zu statten;
auch hat sie in jenen Landern nicht nnr ,,unierteu Grlaubige,
sondern es bestehen dort von altersher grofie Gruppen
romisch-katholischer Bosnier, Serben und Albanesen. Wie
sollte sie nicht hoffen, daB ihr dort noch eine grofie Ernte
erwachsen werde, zumal da sie einen Agitator von solcher
Kraft und solchem Ansehen bei den Slaven besitzt, wie
den Bischof Strofimayer?
Allein, wendet man ein, das sind schliefilich doch alles
nur untergeordnete Komplikationen. Die griechische Kirche
ist Hufiland, und R-ufiland ist die griechische Kirche. So-
lange der Papst Rufiland nicht hat, hat er nichts, und
Rufiland wird er niemals bekommen. Wird doch erzahlt,
die russische Regierung habe dieses papstliche Rund-
schreiben verbreiten lassen, weil es ihr nicht nur ungefahr-
lich, sondern sogar willkommen gewesen — zu dem ent-
gegengesetzten Zweck, den der Papst im Auge hatte. Ich
weifi nicht, ob daran etwas wahres ist, sonderlich glaub-
wiirdig klingt mir die Nachricht nicht. R/ufiland wird in
dem Rundschreiben iiberhaupt nicht erwahnt (wahrend
z. B. Frankreich und Italien ausdriicklich genannt sind);
es wird aber auch nicht vor den Kopf gestofien — denn
das eine, was der Papst veiiangt, hat er immer verlangt — ,
im Gregenteil, es wird ihm durch die Zuerkennung der
vollen Orthodoxie geschmeichelt. Mehr kann dem offiziellen
Rufiland gegeniiber der Papst heute iiberhaupt nicht tun;
aber das offizielle RuBland ist nicht das ganze Rufiland.
Die Kenner der russischen Zustande wissen, dafi es im
Das Testament Leos XIII. 279
Herzen Rufllands, in Moskau, und in dem gebildetsten Teil
der russischen Gesellschaft eine patriotisch-russische Partci
(vielleicht besser ,,Richtung") gibt, die eine Neugeburt der
heimischen Kirche im Sinne der abendlandischen Kirche
(und zwar der romischen, nicht der evangelischen) ersehnt,
vorbereitet und in ihr das einzige Heil fur die russische
Kirche erkennt. Sie ist auch literarisch, soweit es die
russischen Zustande zulassen, mit hinreichender Deutlich-
keit hervorgetreten und hat bewiesen, dafl Manner von
ungewohnlichen Talenten, unerschiitterlicher Vaterlands-
liebe und warmer Anhanglichkeit an die griechische Kirche
in ihrer Mitte sind. Sie hat auch dariiber nachgedacht,
wie sich die Weltstellung Rufllands und seine Traditionen
mit einer Veranderung des Kirchenwesens im romischen
Sinne vereinigen lassen, und glaubt an diese Moglichkeit.
In Westeuropa viel weniger bekannt als die ,,Stundisten" —
die evangelisch - abendlandische Bichtung in Rufiland — ,
weil sie keine Sekte bildet und sich auf die Kreise der
hoheren Bildung beschrankt, darf diese Richtung als ein
Faktor der inneren Spannungen Rufilands doch nicht ge-
ring geschatzt werden. DaB man sie in Rom kennt und
wiirdigt, dariiber kann angesichts der Beziehungen, die sie
zum Abendland hat, kein Zweifel sein. Dafi man von ihr
nicht spricht, ist wohl verstandlich. Eine politische Be-
deutung kann sie zurzeit nur auf indirektem Wege ge-
winnen; aber wenn einmal das starre Staatskirchentum
RuBlands nicht mehr zu halten ist — und wer darf sagen,
dafi es ewige Dauer in sich tragt? — , so hat diese Partei
eine Zukunft, und man versteht es, dafi Rom schon jetzt
mit ihr rechnet. Graiiz anderer Art, aber auch nicht zu
unterschatzen, sind die Hoffnungen, die man in Rom auf
die Kleinrussen und ihren G-egensatz zu den Groflrussen
setzt. Die Kleinrussen stehen durch ihre Greschichte dem
Abendland naher als die Grrofirussen und fuhlen sich ge-
driickt — freilich auch durch die romisch-katholischen
280 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Polen. Immerhin liegen hier Spannangen vor, die eine
Rom giinstige Losung als moglich erscheinen lassen.
Aber mogen dem Papsttum zurzeit noch so giinstige
Sterne im Orient leuchten, mag der Abscheu des offiziellen
RuBlands vor dem Protestantismus und dem iiberwiegend
protestantisclien Deutschland noch so grofi sein, mag die
politische Konstellation „ Rutland - - Frankreich - - der
Papst" den letzteren zu Hoffnungen berechtigen : Rom
selbst hat seit dem Jahre 1870 seine Expansionskraft durch
die formliche Proklamierung des Unfehlbarkeitsdogmas aufier-
ordentlich geschwacht. Diese Proklamierung mag um der
inneren Lage der romischen Kirche willen eine Notwendig-
keit gewesen sein und sie hat unzweifelhaft die Einheit
der Kirche im Innern gestarkt; aber fur die ,,Wieder-
bringung" der verirrten Volker bedeutet sie ein schweres
Hemmnis. Man wird sich dessen gewiJS in Rom bewufit
gewesen sein; aber man scheint den Grewinn hoher ver-
anschlagt zu haben als die Gefahr der Verengung, in die
man sich -- notgedrungen — hineinbegeben hat. Solange
die Unfehlbarkeit des Papstes nicht definiert war, waren
wEinheit der Regierung der Kirche", ,,0berstes Lehramt",
,,Apostolischer Stuhl", ,,Primat" immer noch sehr dehn-
bare Begriffe. Gralt und gilt doch auch in alien Kirchen
des Orients der Bischof von Rom als der erste Bischof
der Christenheit , und haben doch selbst Reformatoren er-
klart, man konne sich den Papst gefallen lassen, wenn er
das Evangelium zuliefie! Welch einen Spielraum besafl
Rom, welche Konzessionen konnte es an die Landeskirchen,
Bischofe und Fiirsten zeitweilig und dauernd machen, wie
konnte es die Begriffe ,,Primat" und ,,Regierungsgewalt"
dehnen und abmessen, wie konnte es die alten Konzilien
betonen, solange es kein Infallibilitatsdogma und keine
unzweideutige Lehre gab, dafi der Papst in alien Diozesen
die ordentlichen bischof lichen Grewalten besitze! Das ist
heute anders, und an diesem Zustand vermag der Papst
Das Testament Leos XIII. 281
durch Verschweigen des Unfehlbarkeitsdogmas , wie er es
tut, nichts zu andern. In der Tat, jenes neueste Dogma
ist nicht das einzige, aber es 1st das schwerste Hemmnis
bei der Verwirklichung der hochfliegenden Hoffnungen
R,oms. Es ist nicht abzusehen, wie sie sich jetzt noch
erfiillen konnten. Oder kann auch dieses Dogma ,,elastisch
behandelt werden? Ich sehe nicht ab, wie das moglich ist.
Ideen kann man beliebig verdichten oder verdiinnen; von
Dogmen lafit sich mit geringerer oder groBerer Offenheit
behaupten, daB sie einen liturgisch-dekorativen Charakter
haben und keinen Einsichtigen zu genieren brauchen; aber
personliche Kompetenzen, als Qlaubenssatze formuliert,
sind starr. Auch die Versicherung , dafi man keinen oder
einen mafiigen Grebrauch von ihnen machen werde, ver-
bessert nichts; sie bleiben dennoch bestehen. ETicht in der
nationalen Eigenart der griechischen und slavischen Volker,
nicht in ihrer unzweifelhaft vorhandenen Antipathie gegen
den Westen, nicht in dem Stolze der Griechen, die alte
Kirche zu besitzen, nicht in der Unveranderlichkeit des
russischen Staatswesens , sondern in der Formulierung der
Unfehlbarkeit und des Episcopus universalis liegt das
starkste Hemmnis der Propaganda Roms im Orient und die
sicherste Biirgschaft der Selbstandigkeit der orient alischen
Kirchen — wenigstens fur einige Generationen noch; weiter
hinaus reicht iiberhaupt keine menschliche Berechnung.
Yon den orientalischen Kirchen wendet sich der Papst
zu den protestantischen : 7,Mit nicht geringerer Liebe weilt
Unser Blick auf jenen Volkern, welche in neuerer Zeit eine
ganz ungewohnliche Umwalzung aller Zustande und Ver-
haltnisse von der Romischen Kirche getrennt hat. Mogen
sie die verschiedenen Wechselfalle vergangener Zeiten ver-
gessen, ihren Blick iiber alles Irdische erheben und einzig
von dem Wunsche beseelt, die Wahrheit und mit ihr das
Heil zu finden, die von Jesus Christus gegriindete Kirche
282 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
bei sich betrachten. Wenn sie ihre Religionsgesellschaften
mit der Kirche vergleichen und erwagen wollen, wie es in
denselben mit der Religion steht, so werden sie leicht ein-
raumen, daC sie, des alten Q-laubens uneingedenk, sich
durch mannigfachen Irrtum in vielen mid hochwichtigen
Stiicken zu Neuerungen haben hinreifien lassen."
Auf den merkwiirdigen Ausdruck: ,,Mogen sie die ver-
schiedenen Wechselfalle vergangener Zeiten vergessen",
habe ich oben bereits hingedeutet. In einem Zusammen-
hang, in dem wir sonst Schmahworte iiber Luther und
iiber die Reformatoren als Aufriihrern und unsittlichen
Menschen, die das ganze Elend der Gegenwart verschuldet
haben, zu horen gewohnt sind, werden wir diesmal aufge-
fordert, aus der Lethe zu trinken und das Vergangene
vergessen sein zu lassen. Der Papst scheint zuzugestehen,
dafi wirklich manches nur durch Vergessen beseitigt werden
kann. Das Motiv, die Wahrheit und mit ihr das Heil zu
finden, moge uns — das wiinscht der Papst — einzig be-
stimmen. Aber in echt katholischer Weise, gegen die
freilich in alter Zeit selbst noch ein Tertullian und Cyprian
protestiert haben („ Chris tus se veritatem, non consuetudi-
nem nominavit"), wird dann sofort das Alte und die Wahr
heit identifiziert : die ,7Religionsgesellschaften" haben sich
in vielen und hochwichtigen Stiicken zu ?,N~euerungen"
hinreifien lassen. 1st schon dieser Appell wenig iiberzeugend;
denn er fordert uns dazu auf, an die ISTeuerungen der
romischen Kirche zu denken, so ist die allgemeine Auf-
forderung, zu erwagen, wie es in unseren Kirchen ,,mit
der Religion steht", vollends unvorsichtig ; denn wie steht
es in der romischen Kirche z. B. Italiens oder Frankreichs
mit der Religion? Allein dies alles ist nur ein Vorlaufiges;
das Wichtigste folgt in der nachsten Satzgruppe:
,,Ebenso wenig werden sie leugnen, dafi ihnen von dem
Erbteil der Wahrheit, welches die Urheber der Neuerungen
bei ihrer Lossagung von der Kirche mit sich genommen,
Das Testament Leos XIII. 283
kaum eine sichere und verbiirgte Grlaubensformel iibrig ge-
blieben 1st. Ja, so weit 1st es schon gekommen, dafi viele
sich nicht entbloden, das Fundament selbst, anf welchem
die ganze Religion und alle Hoffnung der Menschenkinder
ruht und welches kern anderes 1st, als die gottliche Natur
des Erlosers Jesus Christus, dieses Fundament anzugreifen.
Ebenso sprechen sie den Buchern des alten und neuen
Testaments, welche sie ehedem als vom heiligen Geiste
inspiriert annahmen, nunmehr alles gottliche Ansehen ab.
Freilich dahin mufite es unbedingt kommen, nachdem ein-
mal einem jeden das Recht zugestanden war, die Schrift
nach eigenem Qutdiinken und Ermessen zu erklaren. Daher
auch die Erscheinung, dafi unter Zuriickweisung jeder
anderen Lebensregel das Grewissen des Einzelnen als alleinige
Norm, als einzige Richtschnur ihrer Handlungen aufgestellt
wird. Daher die vielen sich einander widersprechenden
Meinungen und Sekten, die schliefilich in den erklarten
Naturalismus und Rationalismus ausarten. Aus diesem
Grrunde verzweifeln sie an einer Einigung in den Lehr-
meinungen und predigen und empfehlen nur noch eine
Vereinigung, deren Band die briiderliche Liebe ist. An
diesem letzteren tun sie nun allerdings gut; denn wir alle
miissen durch gegenseitige Liebe miteinander verbunden
sein. Hat ja doch auch Jesus Christus dieses vor allem
anderen anbefohlen und gewollt, daB eben diese gegen
seitige Liebe das Kennzeichen seiner Jiinger sei. Aber
wie kann die vollkommene Liebe die Gremiiter verbinden,
wenn die Greister nicht durch den Glauben geeinigt sind?"
Diese Satzgruppe ist ein Meisterstiick kurialer Schrift-
stellerei, und der Papst hat mit ihr wirklich eine Richtung
im Protestantismus in Verlegenheit gesetzt, wie die Haltung
einer angesehenen konservativen Zeitung den papstlichen
"Worten gegeniiber beweist. Sehr geschickt setzt er bei der
modernen Entwickelung des Protestantismus ein. Indem er
die beiden Richtungen in ihm zu trennen sucht, spricht er
284 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IY.
der einen das Erbteil der Wahrheit, wenn auch das ge-
schmalerte, der anderen die protestantische Konsequenz zu.
Aber sofern sie noch zusammenhalten, sind auch die Alt-
glaubigen fur die Neuglaubigen verantwortlich : die evan-
gelische Kirche ist das nicht mehr, was sie im 16. Jahr-
hundert gewesen ist; sie hat den G-lauben an die gottliche
Natur des Erlosers und an die Inspiration der h. Schriften
aufgegeben. Sie konnte freilich nicht anders; denn diese
Preisgabe ist erne notwendige Konsequenz des Prinzips der
freien Forschung und des souveranen Grewissens. Also sind
diese Prinzipien gerichtet; denn sie fuhren zum Naturalis-
mus und Rationalismus.
Leider irrt sich der Papst nicht in der Annahme, dafi
diese Argumentation in gewissen Kreisen der evangelischen
Kirche Eindruck machen wird; denn sie selbst argumen-
tieren so; aber er irrt sich, wenn er meint, dafi sie deshalb
zum romischen Katholizismus iibergehen werden. Davon
kann - - soviel ich sehe — keine Rede sein; denn der Ab-
scheu vor dem, was man alles mit in den Kauf nehmen
muB, wenn man das alte Dogma ungeschmalert aus der
Hand Roms wieder enipfangt, ist iiberall in dem prote-
stantischen Grebiete zu grofi. Nur einzelne konnen, wie
schon friiher, in Betracht kommen. Aber von besonderem
Interesse ist, dafi selbst der Papst bei dem blofien Verdikt
des modernen Protestantismus als in den Naturalismus
und Rationalismus ausartend nicht stehen bleiben kann.
Augenscheinlich bemerkt er oder der, der ihm hier die
Feder gefuhrt, dafi trotz der Auflosung der dogmatischen
Einheit Krafte der Liebe im Protestantismus vorhanden
sind, und dafi sie ein Gremeinschaftsband bilden, dafi also
nicht ein allgemeiner Verfall die Folge der theologischen
Zersplitterung ist, sondern dafi positive Krafte vorhanden
sind. Dieser Beobachtung gegeniiber bemuht er sich mit
der dogmatischenExklamation: ,,Wie kann die vollkommene
Liebe die Gremiiter verbinden, wenn die Greister nicht durch
Das Testament Leos XHL 285
den Grlauben geeinigt sind?" Es bedarf wenig Aufmerk-
samkeit, nm den Doppelsinn des Wortes „ Grlauben" hier zu
erkennen. Grewifi — eine Verbindung in der Liebe mufi
durch eine Einheit der Gresinnung getragen sein; aber diese
mit dem romisch-katholischen Dogma oder sonst einem aus-
gefiihrten theologischen Grlauben zu identifizieren , ist ein
alter theologischer Irrtum.
Der Verfasser verweist nun auf die herrlichen Bei-
spiele protestantischer Konvertiten, die nach ihrem Uber-
tritt die katholischen Wahrheiten aufs Treffliehste auch
durch Schriften bewiesen hatten. Er meint Manner wie
Manning, Newman und wohl auch manchen Deutschen:
wAngesichts dieses herrlichen Beispiels so vieler Manner
redet vielmehr Unser Herz als Unser Mund zu Euch, teu-
erste Briider, die Ihr nun schon dreihundert Jahre von
uns im Grlauben getrennt seid, und zu Euch, die Ihr Euch
in der Folge aus irgend einem Grrunde von uns losgesagt:
Finden wir uns alle zusammen in der Einheit des Glau-
bens und der Erkenntnis Jesu Christi."
Die Sehnsucht des Papstes, die Gretrennten als "Wieder-
gewonnene begriifien zu konnen, ist gewifi eine ungeheu-
chelte, und die Ausdrucks weise : ,,Teuerste Briider" und
j,finden wir uns alle zusammen in der Einheit des Grlau-
bens und der Erkenntnis Christi", ist so freundlich und
konziliant wie moglich. Allein — was freilich selbstver-
standlich — iiber den freundlichen Ton hinaus fehlt jede
tatsachliche Konzession. Allerdings von der Unfehlbarkeit
wird auch hier nicht gesprochen, obgleich bei denen, die
sich in der Folge ,,aus irgend einem Grrunde" von uns los
gesagt (die Altkatholiken), die Erwahnung besonders nahe
lag und mit Befremden vermifit wird. Aber was hilffc das
Verschweigen? Man kann vielmehr umgekehrt fragen: Ist
das Verschweigen hier so verstandlich, wie gegeniiber den
griechischen Kirchen?
Ich mochte diese Frage nicht unbedingt bej alien. So
286 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IY.
paradox es in dem ersten Moment klingen mag und so
unerfreulich es an sich 1st — die Unfehlbarkeit ist gegen-
iiber einem Teile der ,,Protestanten" kein so starkes Hemm-
nis fiir die romische Propaganda wie gegeniiber den Grie-
chen. Die griechische Kirche ist selbst eine Autoritats-
kirche; aber die Autoritat, d. h. die Unfehlbarkeit der
Kirche, ist den Grieehen ein Stiick Altertum oder vielmehr
als der Inbegriff des Altertums die Gewahr fiir den "Wahr-
heitsbesitz der Kirche. Daruber hinaus hat sie keine Be-
deutung. In bezug auf die Frage der personlichen Heils-
gewiflheit kommt sie wenig in Betracht, einfach deshalb,
weil diese Frage in den griechischen Kirchen keine Rolle
spielt. Die Folge hiervon ist, dafi nur die Autoritat dort
ein Recht hat, die das unveranderte Altertum reprasentiert.
Den Trager der Autoritat andern heifit die Autoritat selbst
abtun. Der Grieche empnndet die Unfehlbarkeit eines Ein-
zelnen an Stelle der G-esamtkirche als Revolution, weil sie
die starkste Neuerung ist. Nun hat freilich der Protestant
ihr gegeniiber noch ganz andere, viel tiefer liegende Be-
denken. Er lehnt im Nameii des Evangeliums den Ge-
danken der Unfehlbarkeit der Kirche iiberhaupt ab, und
damit fallt die Frage, wer der Trager derselben ist, einfach
fort. Aber der Protestant ist nicht immer der Protestant.
Wer gewohnt ist, konservativ-kirchliche Zeitungen zu lesen,
der weiO, dafi mit dem Gedanken der Autoritat der Kirche
heute ein begehrliches und hochst bedenkliches Spiel ge-
spielt wird. Man mochte die Kirche womoglich als abso
lute Autoritat hinstellen, ja tut manchesmal so, als ware
sie es. Der Versuch will freilich niemals recht gliickeri;
denn die kleine und hochst kompliziert verfafite Landes-
kirche, der man angehort, kann man doch nicht ernsthaft
mit dem Schimmer absoluter Autoritat bekleiden wollen.
Man sieht sich also genotigt, auf einen idealen Faktor in
ihr zu verweisen, sei es auf das 7,Bekenntnis", das man so
auszubeuten sucht, wie der Katholik die Tradition, sei es
Das Testament Leos XIII. 287
auf die heilige Schrift. Aber das Bekenntnis 1st auch bei
den Strengsten nicht mehr einhellig und unerschuttert, und
dafi die heilige Schrift der geschichtlichen Kritik unter-
liegt, wagen wenigstens in thesi wenige mehr zu bestreiten.
Solange sich aus diesem Zustande nur kirchenpolitische
Schwierigkeiten entwickeln, ist die Q-efahr fur den Prote-
stantismus noch nicht brennend: solche Schwierigkeiten
lassen sich immer noch durch halbe Gedanken und halbe
Mafiregeln beschwichtigen. Aber brennend wird die Ge-
fahr, wenn das alte evangelische Hauptinteresse, die Frage
nach dem Grunde der personlichen Heilsgewiflheit, ins
Spiel kommt. Fahrt man in den evangelischen Kirchen
fort, die Fragenden auf eine aufiere formale Autoritat zu
verweisen, wahrend doch die Autoritaten, die man nennen
kann, samtlich unzureichend sind, so darf man sich nicht
wundern, dafi schliefilich der unfehlbare Papst als die Ret-
tung erscheint. Hier und hier allein geschieht dem aufieren
religiosen Autoritatsbediirfnis ein vollkommenes Geniige.
Diese Autoritat allein laBt keine Zweifel mehr iibrig, wie
sie eine geschriebene Urkunde oder eine ideale Autoritat
wie die ,,Kirche" immer iibrig lassen mufi. Der Fromme,
der heute den Protestantismus verlaBt und zur romischen
Kirche iibertritt, tut das nicht trotz der Lehre von der
Unfehlbarkeit des Papstes, sondern eben diese Lehre ist
es, die ihn anzieht. Fur den ungeheuren Halt, den sie
ihm gewahrt, bringt er das Opfer des Intellekts. Gewifi,
das Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes ist nicht
aufgestellt worden, um denen, die in heifiern Bingen nach
dem Grunde der Heilsgewifiheit suchen, einen festen Boden
zu gewahren — so tief hat man weder in Rom noch ini
Jesuitenorden jemals gedacht — , aber es erweist sich tat-
sachlich als diejenige Fixierung der Autoritat, welche allein
alien Zweifel ausschliefit, sofern man sie selbst nur nicht
bezweifelt. Darum sehen wir auch, dafi die beriihmten eng-
lischen und deutschen Konvertiten unserer Tage mit we-
288 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IY.
nigen Ausnahmen iiberzeugte Infallibilisten waren und sind.
Wer eine protestantische Frage, die nach der Heilsgewifi-
heit, katholisch, d. h. mit Beziehung auf eine aufiere for-
male Autoritat, und zugleich konsequent beantwortet, der
kann weder bei der Unfehlbarkeit der heiligen Schrift nocli
des Bekenntnisses noch der wKirche" stehen bleiben: er
mufi Infallibilist werden.
Auf G-rund dieser Erwagungen darf man behaupten,
dafi das Dogma von der papstlichen Unfehlbarkeit — min-
destens in einer Hinsicht — der romischen Propaganda
nnter den Protestanten nicht so hinderlich ist wie unter
den Griechen. Allerdings gehort diese Erwagung mehr
der Zukunffc an, wenn sich die grofie innere Auseinander-
setzung des Protestantismus mit seiner eigenen Greschichte
und mit seinen Grrundlagen, in deren Anfangen wir stehen,
scharfer vollziehen wird. Auch. diirfen wir hoffen, dafi
dann nicht nur die Indifferenz oder die vertiefte geschicht-
liche Bildung, sondern auch das geklarte evangelische Be-
wuBtsein den romischen Lockrufen Widerstand leisten wird ;
aber immer werden wir gut tun, uns daran zu erinnern,
dafi die monstrose Lehre von der Unfehlbarkeit des Papstes
eine Seite hat, durch die sie sich einem zarten, aber ge-
bundenen und unruhigen Q-ewissen empfiehlt. Wer die
Verantwortung fur die eigene Seele nicht tragen will oder
kann, auf wen sollte er sie lieber abladen als auf den un-
fehlbaren Statthalter Christi? DaJJ es einen solchen gibt,
ist freilich ein harter Grlaube; aber was glaubt der Mensch
nicht, wenn er in wirklicher innerer Not istl
Die zweite Halfte des Rundschreibens bezieht sich aus-
schliefilich auf die katholische Kirche. Wir konnen uns
uber sie kiirzer fassen; denn diese Halfte steht nicht auf
der Hohe der ersten. Hier wird man vielmehr aufs kraf-
tigste daran erinnert, dafi der romischen Kirche die kirchen-
politischen Dinge im Vordergrunde stehen und die E/eligion
Das Testament Leos XIII. 289
ihnen tmtergeordnet 1st. Der Papst behauptete im Ein-
gang, er wolle in Nachahmung des hohenpriesterlichen Q-e-
bets Jesu reden; aber nur gegeniiber den Schafen waus
dem anderen Stalle" hat er den Ton des Hirten getroffen;
sobald er sich der eigenen Kirche zuwendet, spricht weniger
der Hirte als der Herrscher. Um so bemerkenswerter ist,
dafi, wie in der ersten Halfte die Unfehlbarkeit fehlt, so
in dieser zweiten die Forderung der Wiederherstellung des
Kirchenstaates. Das ist gewiB kein Zufall, zumal da der
Papst indirekt die Frage beriikrt und auch den allgemeinen
Ausdruck braucht, man habe wdie Kirche ihrer Giiter be-
raubt und ihre Freiheit aufs auflerste beschrankt". Jeden-
falls ist anch hier das Bestreben, dieses B/undschreiben an
die Fiirsten so konziliant wie moglich zu gestalten, wirk-
sam gewesen. Es wird immer denkwiirdig bleiben, dafi
Leo Xin. in diesem seinem Testamente davon abgesehen
hat, rand die Zuriickgabe des Kirchenstaates zu verlangen.
Zwei Q-egner bekampft der Papst in dieser zweiten
Halfte und nennt sie anch bei Namen: den Febronianismus
und die Freimaurerei; sie erscheinen ihm im SchoBe des
Katholizismus als die schlimmsten Feinde. Der dritte alte
Gregner, der Gallikanismus, ist augenscheinlich nicht mehr
zu furchten. Unter dem Namen nfebronianische Grund-
satzeu fafit der Papst alle Bestrebungen zusammen, die
wir als wstaatskatholischeu zu bezeichnen pnegen: die Be-
schrankung der Freiheit der Kirche durch den Staat, das
Mifitrauen gegen die Kirche als eine politische Q-emein-
schaffc, die einseitig staatliche Q-esetzgebung usw. Neues
oder durch die Formulierung Bemerkenswertes wird nicht
vorgetragen. Der Papst kampft hier gegen die ,,Tragheit
und Fahrlassigkeit" , die 7,Engherzigkeit und das Mifi-
trauen" nicht der Ketzer, sondern der Katholiken. Hieran
schliefit sich die Polemik gegen die Freimaurerei, vor-
nehmlich in Italien und Frankreich. Leider bin ich aufier-
stande anzugeben, wie es mit den tatsachlichen Unterlagen
Harnack, Reden und Aufsiitze. 2. Ann. n. 19
290 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IT.
dieser Polemik steht. Wir liier diesseits der Alpen nnd des
Rheins wnndern nns sowohl dariiber, daB den Freimanrern
eine so ungehenre Bedentung beigelegt wird, als anch
dariiber, dafi sie so grundschlecht sein sollen. Jedenfalls
irrt sich der Papst, wenn er schreibt, dafl wdie verwerf-
lichen Grnndsatze dieser Sekte, Hire gottlosen Plane, aller
Welt bekannt sind". Anch werden es nicht wenige mit
Erstannen lesen, dafi wdie Sekte lehrt, der Mensch miisse
die Natnr verehren nnd allein ans ihren Grundsatzen Mafi
nnd Richtschnnr fiir alle "Wahrheit, Sittlichkeit nnd Ge-
rechtigkeit nelnnen"; ferner: 7,nnd was das Tranrigste bei
der Sache ist; wohin tmmer sie den Fnfi setzt, dringt sie
in alle Schichten des Volkes ein, misclit sie sich. in alle
Einrichtungen des Staates, nm schliefilich alles nnd jedes
in ihrer Hand zn haben . . . .a ,,Anf diese Weise mnfi
der Mensch mehr oder weniger in heidnische Sitten nnd
Grewohnheiten znriickfallen, die bei den so vervielfaltigten
Reizmitteln nnr noch nm so nngebnndener sein werden."
Sind die romanischen Freimanrer wirklich so schlimm, wie
der Papst sie s child ert — in bezug anf ihre Bekampfnng
spricht er das etwas brenzliche Wort: ,,wir scharfen wieder
nnd wieder ein, daft bei so grower G-efahr keine Mafiregel
wirksam genug ist, nm eine andere noch wirksamere iiber-
fliissig zu machen" — , so diirfen wir mit Genngtunng
darauf hinweisen, dafi sie in dieser Grestalt nach dem eige-
nen Urteile des Papstes eine spezinsche Erscheinnng katho-
lischer Lander sind.
Wahrhaft iiberrascht ist man nach dieser Bekampfnng
des Febronianismns nnd der Freimanrerei folgendes zn lesen :
?5Wenn so die zwei Grefahren beseitigt nnd die Reiche und
Staaten wieder znr Einheit des Gf-lanbens znrnckgekehrt sind,
welch wirksames Heilmittel gcgen alle TJbel, welch wunder-
barer UbernnG an alien Giitern ware damit der Welt ge-
geben! Wir wollen die hanptsachlichsten wenigstens be-
rlihren." Man sieht, das Rnndschreiben nimmt von hier
Das Testament Leos XIII. 291
ab, indem es sich zum Schlufl neigt, eine rhetorische Wen-
dung. Aber dafi ein wahrhaft paradiesischer Zustand sich
einstellen werde , sobald nur die Kircheneinheit wieder
hergestellt ist und Febronianismus und Freimaurerei be-
seitigt sind, ist dock eine wunderbar obernachliche Behaup-
tung, die auf einer volligen Verkennung der christlicheii
Religion und einer ebenso starken Verkennung ihrer eigent-
lichen Gegner beruht. An diesem einen Satze, der iibrigens
aus den mittelalterlichen Zustanden sofort widerlegt wer-
den kann, vermag man sich den ganzen Unterschied zwischen
Katholizismus und Protestantismus klar zu machen. Und
welche Griiter nennt der Papst als die hauptsachlichsten?
Erstlich die Wiederherstellung des gebiihrenden Rangs der
Kirche und ihrer Freiheit zum Segen und Heile der V61-
ker, zweitens die wesentliche Forderung der gegenseitigeu
Annaherung der ISTationen — der bewaffnete Friede wiirde
aufhoren; ,,die unerfahrene Jugend wiirde nicht mehr mit
Grewalt auf die gefahrliche Militarlaufbahn gedrangt (!)";
die Erschopfung des Staatsschatzes durch die ungeheuren
Ausgaben und die schwere Schadigung des Yermogens der
Einzelnen wiirde ein Ende nehmen (dies ist wohl mit be-
sonderer Beziehung auf Italien gesagt) — , drittens die heil-
same Beschleunigung der Losung der sozialen und, wie es
in dem Schreiben heifit, der politischen Frage (d. h. der
Frage des Verhaltnisses von Freiheit und Autoritat). In
Hinsicht auf die soziale Frage findet sich eine sehr treffende,
freilich nicht neue Erwagung: wWie viel mehr als durch
alles andere wiirde die Losung der sozialen Frage beschleu-
nigt, wenn die Menschen allgemein angeleitet wiirden, von
innen heraus durch die Grand satze des christlichen G-lau-
bens ihren Sinn fur Recht und Pflicht auszubilden. u Was
die politische Frage betrifft, so bringt der Papst ein, wie
man furchten mufi, zu einfaches, ich mochte sagen salo-
monisches Rezept waus der christlichen Philosophic": ,,Wenn
man davon ausgeht, was alle zugeben (?), dafi namlich die
19*
292 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: IV.
Autoritat von Q-ott komme, gleichviel, welches die Re-
gierungsform 1st, so sieht die Vernunffc sofort, dafi bei den
einen das Recht zu befehlen durchaus gesetzlich, bei den
andern die Pflicht zn gehorchen ganz ordnungsmafiig sei.
Durch den G-ehorsam wird auch keineswegs der mensch-
lichen Wiirde zu nahe getreten; denn schliefilich wird doch
viel mehr Gott als den Menschen der G-ehorsam geleistet.
Andererseits wird denjenigen, welche befehlen, von Gott
das strengste G-ericht angekiindigt , wofern sie ihn nicht
vertreten, wie sie sollen, als Forderer des Rechts und der
Gerechtigkeit. Die Freiheit der Einzelnen kann aber nie-
mandem verhafit, niernandem verdachtig sein; denn ohne
jemandem zn schaden, entfaltet sie sich nnr in dem (?), was
wahr, was recht, was in vollem Einklange mit der offent-
lichen R/tihe steht."
Indem der Papst die herrlichen Giiter weiter iiber-
schlagt, die der wiederhergestellten Kjrcheneinheit und
Kirchenfreiheit folgen werden, erhebt er sich zu einer pro-
phetischen Schilderung: ^Wir sehen in der Feme, welch
gliickhche Ordnung der Dinge dann auf Erden sich an-
heben wurde, und Wir kennen nichts Angenehmeres , als
die Betrachtung der Giiter, die daraus erfolgen. Man kann
sich kaum vorstellen, welchen Aufschwung, G-roJJe und
Wohlstand (hier ist die Ubersetzung nicht in Ordnung)
plotzlich auf der ganzen Welt nehmen wiirden, wenn Ruhe
und Frieden der Erde wiedergegeben , wenn die Wissen-
schaft auf alle Weise gefordert, wenn iiberdies nach Unserer
Anweisung auf christlicher Grundlage Vereine von Landwirten,
Handwerkern, Geschaftsleuten gegriindet und vervielfaltigt
wiirden, mit deren Hilfe der alles verschlingende Wucher
aus der Welt geschafft und heilsamen Arbeiten ein weites
Feld geofFnet ware." Auch auf die jetzt noch nicht christ-
lichen Volker wiirde sich der Segen erstrecken • — damit
kehrt das Schreiben nach strengem Stile wieder zu seinem
Anfang zuriick, um mit einer Bitte an die Fiirsten, die
Das Testament Leos Xill. 293
Ratschlage vomrteilsfrei in Erwagung zu ziehen, und dem
Votum zu schliefien: ,,DaB sich die VerheiBung Christi bald
erfiillen moge: Es wird nur Ein Schafstall und Ein Hirte
sein."
Diese letzten Ausfuhrungen des papstlichen Schrei-
bens lassen sich nicht kritisieren ; denn Prophezeiungen und
Zukunftshoffnungen sind nicht zu diskutieren. Offenbar liegt
aber iiberhaupt der Schwerpunkt der ganzen Kundgebung
nicht in diesen Abschnitten, sondern in der ersten Halfte.
Tiefe und warme Worte an die Herzen seiner Grlaubigen
hat der Papst in diesem seinem Testamente nicht zu finden
gewuBt. Augenscheinlich hat er die Religion sozusagen
,,vorausgesetzt" und es nicht fur notig gehalten, von ihr
zu handeln und sich in ihr wie ein Seelsorger zu bewegen.
Der schlichteste evangelische Pfarrer, der seiner Gremeinde
ein Testament hinteiiafit, wiirde anders zu ihr sprechen,
als dieser Statthalter Christi. Er wiirde die Religion nicht
einfach ,,voraussetzen", sondern er wiirde von dem Einen
handeln, was not tut. Den ganzen Unterschied des evan-
gelischen Wesens und dieses Katholizismus kann man
an dieser Unteiiassung erkennen, und alle freundlichen
Lockungen, die im ersten Teile aufgeboten sind, konnen
den Eindruck nicht verwischen, dafi die Religion in diesem
Testamente zu kurz gekommen ist.
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND - ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: V
DIE BEDEUTUNG DER REFORMATION INNERHALB
DER ALLGEMEINEN RELIGIONSGESCHICHTE
Erschienen in der: wChristlichen Welt" 1899 Nrn. 1—6
(5. Jan. bis 9. Febr.)
Was die Reformation innerhalb der Kirchengeschichte
bedeutet, ist seit dem sechzehnten Jahrhundert G-egenstand
des Nachdenkens bei Freund und Feind gewesen, und ihr
Wesen gegeniiber dem Katholizismus ins Licht zu setzen,
ist auch heute noch eine Hauptaufgabe der historischen und
der systematischen Theologie. Dafi bei diesen Bemiihungen
die Q-rundfragen der Religion iiberhaupt gestreift werden,
ist unvermeidlich ; aber, so viel ich sehe, ist die Frage, ob
und inwiefern durch die Reformation ein neuer Religions-
begriff zum Durchbruch gekommen ist, noch nirgendwo
mit der gebiihrenden Aufmerksamkeit untersucht worden,
oder — wo es geschehen ist - - hat man das Problem in
einen zu engen Rahmen gespannt. Wohl hat Ritschl fast
alle Beobachtungen in bezug auf die Reformation angestellt,
die ihn zu einer umfassenden Beantwortung der Frage be-
fahigt hatten; aber bei der grundsatzlichen Beschrankung
auf die Kirchengeschichte , die sich dieser grofie Theolog
auferlegt hat, sah er davon ab, seine Erkenntnisse auf den
weiten Plan der allgemeinen Religionsgeschichte zu stellen.
Man muB katholischen Historikern den Ruhm lassen, dafi
sie sicherer als die protestantischen liber die willkiirlichen
Schranken hinausbhcken , die dem vollen Verstandnis der
Reformation durch den Namen „ Reformation" gezogen sind.
Dollinger sagt (Akad. Vortrage, 3. Band, S. 58): ^Luther
miissen wir unzweifelhaft zu den Religionsstiffcern rechnen,
wenn er auch selbst diese Bezeichnung entschieden zuriick-
gewiesen haben wiirde — nur Reformator wollte er sein.
Aber so ist es ja von jeher gegangen, dafi Reform versuche
298 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsfttze: V.
zur Bildung eigner Religionssysteme ausgeschlagen sind
oder im Lauf der Zeit sich dazu entwickelt haben. Die
Grenossenschaft, die die Wittenberger Lehre zu der ihrigen
machte, hat das auch riclitig erkannt und unbedenklich
von der ,,lutherischen Religion" in Biichern und im Leben
gesprochen. Die Q-abe der sozialen Organisation ging dem
Wittenberger Reformator freilich ab; er vermochte, mochte
man sagen, eine Religion, aber keine Kirche zu griinden."
Dies Urteil Dollingers wird protestantischen Ohren
empfLndlich sein — auch ich mochte es nicht ohne Vorbe-
halt unterschreiben — , aber es ist doch tiefer, freier und
darum wertvoller als die meisten Schlagworte, in denen
man Luthers Bedeutung zusammenzufassen pnegt. Vor
allem dadurch, dafi es Luther von der ,,Kirche" abriickt
und zur „ Religion" stellt, eroffnet es die richtige Perspek-
tive. Aber leider hat Dollinger nicht angedeutet, worin er
die religionsgeschichtliche Bedeutung Luthers erkennt, ja
er hat die ganze Frage vollstandig verdunkelt, indem er
Heinrich VIII. von England, Cromwell und Calvin ebenfalls
zu den nReligionsstiftern" zahlt. Bereits diese Zusammen-
stellung lehrt, dafi der Begriff 7,Religionsstifter", wie er ihn
fafit, weder den allgemeinen Sprachgebrauch fur sich hat,
noch aufklarend ist, vielmehr notwendig Verwirrung an-
richtet. Wir lassen daher die Frage nach den Religions-
stiftern aus dem Spiel und setzen dafur die andre ein nach
dem Religionsbegriff. Wer den wesentlichen Begriff der
Religion, wie er ihn vorfand, durchgreifend geandert hat
— nicht in Biichern, sondern im wirklidhen Leben — , der
kommt gewifi den Religionsstiftern sehr nahe, aber ob er
zu ihnen gerechnet werden darf, ist eine zweite Frage,
deren Beantwortung von mehr als einer Erwagung abhangt.
Hat Luther den wesentlichen Begriff der Religion, wie
er ihn vorfand, umgebildet und zwar so umgebildet, dafi
die Modifikation nicht nur den Katholizismus betrifft, son
dern die Religion iiberhaupt? — das ist die entscheidende
Bedeutung der Reformation innerhalb der allg. Religionsgeschichte. 299
Frage. Ich stelle die Antwort an die Spitze und werde
sie dann zu erlautern und zu rechtfertigen versuchen.
Die Reformation bedeutet einen epochemachen-
den Umschwung in der Religionsgeschichte iiber-
haupt; denn Luther hat das, was man bisher fiir
das Wesen der Religion hielt, als voriibergehende
oder sekundare oder gar als bedenkliche Ersehei-
nung betrachtet, und er hat das, was bisher als
abgeleitete Wirkung der Religion gait, als ihr
Wesen beurteilt, oder doch den Anstofl zu solchen
Beurteilungen gegeben.
Das Wesen der Religion kommt in der direkten per-
sonlichen Inspiration*) und der ihr entsprechenden Heilig-
keit des Lebens zum Ausdruck — das ist die allgemeine
Uberzeugung der katholischen Kirchen, in denen nur die
Heiligen und die Monche als die eigentlich ,,Religiosen"
gelten. Die Kirchen mogen sich diese Uberzeugung selbst
verdunkeln, es bleibt doch dabei, dafi in ihnen Inspiration
und weltfLuchtige Heiligkeit die Religion konstituieren.
Indem die katholischen Kirchen diesen Begriff festhalten,
bejahen sie einen Religionsbegriff, den sie nicht geschaffen,
sondern ubernommen haben,**) und der zugleich der hochste
zu sein scheint; denn er fafit den Einzelnen als selbstandige
und selbst verantwortliche Personlichkeit, bezeichnet die
Beziehung auf Qott als reale Einwohnung der Q-ottheit
und unterwirft ihr das ganze Leben. Neben der so ge-
fafiten Religion konnen andre Auspragungen derselben nur
eine Religion zweiter Ordnung darstellen, und so ist es
*) Ich brauche das Wort nlnspiration" in seinem urspriingliclien,
weitern Sinne, nach dem es die wirkliche Einwohnung G-ottes (des
Geistes Gottes) bedeutet, die sich in mannigfaltigen ubernatiirlichen
Wirkungen bekundet.
**) Davon wird spater noch die Kede sein.
300 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
tatsachlich im Katholizismus : das Gefuge von Religion,
das in ihm dureh die Sakramente und die Bufiordnungen
einerseits, durch den Vorsehungs- , Vergeltungs- und Er-
losungsglauben andrerseits zustande kommt, gilt zwar als
das eben noch zureichende Minimum von Religion, scheint
aber qualitativ von der Religion verschieden zu sein. Doch
ist die qualitative Verschiedenheit nicht so stark zu betonen
wie die Abstufung. Man kann das zwischen ihnen be-
stehende Verhaltnis am besten so ausdriicken: Die Religion
stellt sich als ein engerer und als ein weiterer Kreis dar.
Der engere Kreis ist bestimmt durch die Einwohnung des
Gottesgeistes (Christusgeistes) und das engelgleiche Leben;
der weitere Kreis ist bestimmt durch die Sakramente, durch
den Q-lauben an das, was jene andern tatsachlich erfahren,
und durch moglichste Annaherung an das engelgleiche
Leben innerhalb des natiirlichen weltlichen Lebens. Die
christliche Religion ist eben deshalb die absolute und zu-
gleich die Offenbarung der vollkommenen Barmherzigkeit
Gottes, weil sie aufier und neb en ihrer wahrhaffcen Art und
Erscheinung, die sich nicht alle aneignen konnen, in Heils-
mitteln, Glauben und Werken eine zweite abgeleitete Form
darbietet, auf die jedermann einzugehen vermag.
Diese Grundanschauung, die der Katholizismus mit
dem Buddhismus sowohl als auch mit der philosophischen
Religion der untergehenden Antike teilt, ist von Luther
umgestiirzt worden. In den Heilsmitteln (Wort und
Sakrament) und dem Glauben erkannte er die Religion,
neben der es keine andere, also gewifi auch keine hohere
gibt. Der gottliche Akt ist die Schenkung des Glaubens
(durch Wort und Sakrament), und die Betatigung der
Religion ist der Erlosungs- und Vorsehungsglaube. Daneben
hat weder die Inspiration, noch die Heiligkeit, wenn sie
etwas andres sein will als die Lebensfuhrung im kindlichen
Vertrauen zu Gott, irgend welchen wesentlichen Spielraum.
Sie konnen bei diesem oder jenem als individuelle Zuge
Bedeutung der Keformation innerhalb der allg. Keligionsgeschichte. 301
ertraglich sein; sie konnen bei Andern besondre und for
ihren eigentiimlichen Beruf notwendige Begabungen dar-
stellen — in der Regel werden sie aber als Anmafiungen
,,stolzer Heiliger" und darum als irreligiose Erscheinungen
zu beurteilen sein; denn Religion haben ist nichts andres
als an Gott glauben, das heiUt sich in die Hande des ver-
sohnten Gottes mit Leib und Seele beschliefien. Der Ei-
losungs- nnd Vorsehungsglaube ist die Religion; die wln-
spiration" und die ,,Heiligkeit" sind daneben nichts.
Eine griindlichere Umkehrung des alten Religions -
begriffs ist nickt denkbar! Die letzten scheinen die ersten
geworden zn sein, und die ersten miissen zufrieden sein,
wenn sie unter jenen iiberhaupt noch einen Platz find en!
Eine Fiille von Fragen drangt auf uns ein, wenn wir iiber
diesen Wechsel nachzusinnen uns anschicken. Ist diese
Vertauschung nicht vielmehr eine Unifizierung , d. h. eine
Zusammenziehung des doppelten Religionsbegriffs zu einem
einzigen? Oder ist sie vielleicht gar eine Sakularisierung
der Religion? Entzieht sie nicht der Religion ihr eigen-
tumliches Leben? Weiter, bedeutet sie nicht eine furcht-
bare Verstarkung des autoritativen Elements in der Religion,
das sie an die Stelle eignen Erlebens setzt? Das ist die
eine Reihe der Fragen; aber auch eine andre taucht auf.
Hat nicht schon Augustin oder doch sicherlich Paulus den
neuen Religionsbegriff? Wie steht es mit dem ganzen
altesten Christentum? Gelten im Katholizismus wirklich
Inspiration und Heiligkeit allein als die konstituierenden
Faktoren der Religion? Ist nicht schon in ihm eine
kompliziertere Auffassung vorhanden? Diese Fragen sollen
uns in den folgenden Artikeln beschaftigen. Hier moge
zum Schlusse eine geschichtliche Parallele stehen.
Nicht durch die Reformation sind zum erstenmal in
der Religionsgeschichte die letzten die ersten geworden.
Im ersten Jahrhundert der Kirchengeschichte hat sich
schon einmal ein ahnlicher ProzeB abgespielt. Um die
302 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
zahlreichen Synagogen im romischen Reiche fanden sich
iiberall heidnische Proselyten gesch.art, sie hielten das Ge-
setz nicht, sondern nnr einige wenige G-ebote desselben,
aber sie glaubten an den einen geistigen Gott, an seine
Vorsehung und an sein Gericht; sie suchten ein tugend-
haftes Leben zu fiiliren und fafiten alle Erzahlungen des
Alten Testaments geistig. Sie galten nicht als voile Juden,
nicht als wirkliche Sohne Abrahams; aber man sagte ihnen,
dafi sie als Juden zweiter Ordnung auch Aussichten auf
ein bescheidnes Erbe hatten. Da kamen die christlichen
Missionare und verkiindigten ihnen, dafi gerade sie die
rechten Kinder Israels seien, dafi unter der Bedingung
des Glaubens an Christus ihr Verhalten dem Gesetz und
dem Alten Testamente gegeniiber das richtige und gott-
gewollte sei, ja dafi es geradezu Siinde sei, Zeremonial-
gesetze zu beobachten. Das, was bisher fur Religion erster
Ordnung gegolten — das punktliche Halten ernes Zere-
monial- und Kultusgesetzes — , wurde gestiirzt, und die
Religion zweiter Ordnung — eine Vergeistigung, aber in
gewissem Sinne auch eine Sakularisierung supranaturaler
Grofien — riickte mit souveraner Kraft in den Mittelpunkt.
n.
Wir haben in dem ersten Artikel das Problem scharf
zu bestimmen versucht, indem wir es also formulierten:
Die Reformation bedeutet einen epochemachenden Um-
schwung in der Religionsgeschichteiiberhaupt; denn Luther
hat das, was man bisher fur das Wesen der Religion hielt,
als voriibergehende oder sekundare oder gar als bedenk-
liche Erscheinung betrachtet, und er hat das, was bisher
als abgeleitete Wirkung der Religion gait, als ihr Wesen
beurteilt, oder doch den Anstofi zu solchen Beurteilungen
gegeben.
Als das, was man bisher fur das Wesen der Religion ge-
halten hatte, bezeichneten wir die Inspiration und das engel-
Bedeutung der Eeformation innerhalb der allg. Eeligionsgescliiclite. 303
gleiche Leben; als das, was Lntlier dafur eingesetzt, den
Erlosungs- und Vorsehungsglauben.
Bevor wir die Fragen erortern, die die Erkenntnis
dieses Umschwungs hervorruft, wollen wir uns die Ver-
schiedenheit der Frommigkeit, wie sie sich hier und dort
darstellt, vergegenwartigen. Auf beiden Seiten schildern
wir ihre klassische Gestalt:
Dort ist es das Innewerden der Gottheit, das alles be-
herrscht; nicht nur der Geist und die Seele, sondern auch
die geheiligten Sinne nehmen sie wahr: Gott wird gefiihlt,
gehort, geschaut und geschmeckt. Diese iiberwaltigenden
Erfahrungen reifien den Frommen aus der Welt heraus und
fiihren ilin hock uber sie. Er kann gar nicht mehr in und
mit der Welt leben oder vielmehr — nur die irdischen
Dinge bleiben ihm ubrig, die Gott als Mittel erwahlt hat,
urn sich ihm erkennbar zu machen: die heilige Speise, das
Kruzifix, der Geifielstrick, der arme Bruder. Aber wer Gott
nur in der Einsamkeit vernehmen kann, der muB in die
Wuste ziehen. Ein Unterschied der Begabungen zeigt sich
hier: der heilige Antonius, der ihn nur dort findet, und der
heilige Franziskus, der ihn an der Sonne, den Blumen und
den Fischen, im Elend, in der Krankheit und im Hunger
sich offenbaren sieht. In der Sache ist kein Unterschied,
und darum auch nicht in der Lebensfiihrung. Sie beide
sind jedem weltlichen Beruf und jeder irdischen Aufgabe
entriickt: der Franziskaner, der dem Hungernden ein Siipp-
lein erarbeitet, dem Miitterchen das Holz abnimmt und den
Pestkranken pflegt, sieht Christus in ihnen und dient Christo,
das heifit Gott. Das Irdische ist \lnrr\ nur ein leichter
Schleier, hinter dem ihn iiberall die Gottheit selbst an-
blickt; je tiefer die Not und Armseligkeit, um so heller
und tiefer ihr grofies Auge. Wie ein Traumender schaut,
handelt und hilft er. AuBere Gefahren und Hemmungen
von Menschen gibt es eigentlich nicht mehr; aber zwei
machtige Feinde lauern: der Teufel und das Fleisch. Je
304 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze; V.
lebendiger sich die Grottheit zu erkennen gibt, desto hef tiger
werden die Anlaufe jener. Sie suchen die Seele aus der
Gremeinschaft mit Grott zu reifien; sie verdunkeln seinen
Lichtglanz und stiirzen den Greist in Finsternis. Ein fort-
wahrender Kampf ist die Folge, und das Schrecldichste
ist: die Gottheit scheint sich selbst manchmal zuriickzu-
zielien:
Willst du mich sogleich verlassen,
Warst im Augenblick so nah,
Dich umfinstern Wolkenmassen,
Und nun bist du gar nicht da.
Im Augenblick noch. unter Choren von Engeln, und
vielleicht schon im nachsten Moment unter Teufeln; eben
noch geborgen im Schofie Grottes, und gleich darauf ge-
peitscht vom bosen Feind; eben noch auf Wolken schwe-
bend als Seher und Prophet — ein Sturz, und am Boden
kriimmt sich ein zertretner Wurm.
In diesen Kontrasten spielt sich, aufregend und zer-
marternd, das innere Leben ab, und es gibt nur noch ein
inneres. Aber all die Not und Qual wird immer wieder
ausgeloscht durch einen Moment wirklichen Gottesgefiihls.
In ihm erscheinen auch die erlittnen Anfechtungen als ge-
rechte Strafen des heiligen G-ottes, und man erkennt, dafi
sie nicht ausbleiben konnten.
Und nun vergleichen wir damit den Frommen im Sinne
Luthers. Er hat die G-ottheit nie geschaut, und wenn er
sie gefuhlt hat, will er sich auf dies Q-efuhl nicht verlassen.
Worauf er sich verlaUt, das ist das Wort G-ottes, das Evan-
gelium, das ihm verkiindigt ist. Weil er dem Worte glaubt,
glaubt er an G-ott, und das Wort wandelt seine unsichern
oder schrecklichen Grottgefuhle in ein trostliches Wissen
und in eine lebendige GrewiGheit. Zu wissen braucht er
nur Eines : dafi das dunkle und heilige Wesen, dem gegen-
uber er sich verantwortlich und schuldig ftihlt, fur ihn
nicht mehr der schreckliche Richter ist, sondern der Vater.
Bedeutung der Eefonnation innerhalb der allg. Keligionsgeschiclite. 305
Im Worte, d. h. in, mit nnd unter Christus, 1st er davon
iiberzeugt word en. Die Erweckung dieser Uberzeugung ist
das grundlegende und alles bestimmende Erlebnis. Es wirkt
sich aus in dem kindlichen Grebet und in der Zuversicht,
fortab bei Grott geborgen zu sein. wLafi dir an meiner
G-nade geniigen" nnd ,,Wir wissen, dafi denen, die Grott
lieben, alle Dinge zum Besten dienen" — diese beiden
Worte bezeichnen die Eigenart des innern Lebens, das
nun entstanden ist. In der Breite und Peripherie des ir-
dischen Lebens andert sich gar nichts, und auch nach
,,hohen Offenbarungen" schaut ein solcher Mensch nicht
aus. Es gibt nur eine Bitte: ,,Herr, starke mir den Grlau-
ben." Wohl tritt die ganze Welt und der Weltlauf in das
Licht des vaterlichen Grottes, ohne dessen Willen kein Sper
ling vom Dache fallt; aber nichts Einzelnes - - weder im
Sittlichen noch im Physischen — erhalt an sich eine be-
sondre Bedeutung; ja, grofier als die Sorge, Grottes Walten
iiberall zu erkennen, ist die Scheu, die G-nade, die das Herz
fest macht, nicht mit andern Eindriicken und Erlebnissen
zu vermischen: nFreuet euch nicht, daC euch die Greister
untertan sind; freuet euch aber, dafi eure Namen im
Himmel angeschrieben sind." Der Seher, der Heilige, der
Asket — sie sind verschwunden; sie haben dem Grlaubigen
Platz gemacht.
Die Wirkungen dieses Umschwungs umfassen den
ganzen Bereich der Erscheinungen des religiosen Lebens.
An die Stelle fortwahrender Erregungen eines psychischen
Reizzustandes ist eine stetige Stimmung getreten; man
vergleiche die Meditationen und G-esange katholischer My-
stiker mit den Kreuz- und Trostliedern Paul Gerhardts!
Aber auch das Weltbild, das dort und hier entsteht, ist
ein ganz verschiednes : in eine Welt, die des Teufels ist,
greift Grott hinein mit Wundern und Zeichen, offenbart an
diesem und jenem seine leibhaftige Gregenwart und schafft
mitten in der Welt der Siinde und des Todes eine z\veite
H a r n a c k , Eeden nnd Auf satze. 2. Aufl. H. 20
306 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
Welt des Heiligen — so 1st es dort; nein, er leitet diese
Welt rait ihrer Not und ikrem Elend zu seinem Ziele —
so 1st es Mer.
Der ungeheure Wechsel, der bier entstanden 1st, mufi
zunachst mit der ganzen Starke des Kontrastes empfunden
werden, wenn man beiden Teilen gerecht werden will. Erst
dann darf man nach den geschichtliclien und sachlichen Ver-
mittlungen fragen und nach dem Rechte, das jeder der beiden
Auffassungen gebiihrt. Wie fremd aber den evangelischen
Christen der friihere Religionsbegriff ge word en 1st, davon
kann man sich gerade in unsern Tagen leicht iiberzeugen.
Da alle geschichtlichen Erscheinungen heutzutage vorur-
teilsloser, ich mochte sagen positiver studiert werden, als
in dem Zeitalter der philosophischen Konstruktionen , so
kam man auch dazu, die altern Erscheinungsformen der
Religion sicherer zu beobachten und genauer wiederzu-
geben als friiher. Man begniigte sich z. B. nicht mehr
damit, die Unterschiede des Protestantismus und Katho-
lizismus nach den Katechismen darzustellen und das, was
nicht im Katechisnius der katholischen Kirche steht, als
unerhebliches Beiwerk zu betrachten, sondern man suchte
die wirkliche Lebensgestalt der Frommigkeit zu ermitteln
und sich klar zu machen. Man wollte auch das alte Christen-
tum nicht mehr nur an seiner Dogmengeschichte studieren,
sondern in alien seinen Erscheinungen und an alien seinen
Kundgebungen. Diese Versuche hatten fur die, die sie an-
stellten, ein unerwartetes Resultat. Es wurde uns mit-
geteilt, daB nun erst das Wesen der Religion entdeckt sei,
und daft es mit der Religion eine ganz andre Bewandtnis
habe, als wir bisher geglaubt hatten. Die einen erzahlten
uns, dort, wo die Religion wirklich lebendig sei, sei sie
eine mit Zauberei verbundene Art von Manie, und man
miisse sie studieren, wie man psychische Ekstasen und
Alchemie studiert; sie lebe im Absurden, gefalle sich in
tausend seltsamen Hervorbringungen, und wo sie anfange
Bedeutung der Reformation innerhalb der allg. Religionsgeschichte. 307
verniinftig zu werden, da sei ihr bereits Fremdes beige-
mischt. Die andern aber berichteten noch Uberraschenderes
von ihrem Streifzug in das Land der Religion. Sie brachten
im Unterschied von jenen die Religion als ein Ghit nach
Hanse, aber als ein Gut, vor dem der evangelische Glaube
nicht mehr bestehen konne. Sie teilten uns mit, dafi Re
ligion Inspiration und asketische "Weltnucht sei. Es war
der alte Religionsbegriff und die katholische Religion, die
sie entdeckt batten; aber sie wufiten das nicht. So fremd
waren sie innerlich dieser Art von Religion geworden, dafi
sie sie nicht einmal zu identifizieren vermochten. Aber frei-
lich, noch fremder standen sie der evangelischen Religion
gegenuber; denn jene, wenn sie sie auch bisher nicht ge-
kannt hatten, begriifiten sie nun wie eine Offenbarung,
diese aber verblaBte ihnen augenblicks und schien iiber-
haupt nichts mehr zu sein als ein wesenloser Schein oder
als ein verfehltes geschichtliches Experiment.
Unter der OberfLache der Ereignisse und geistigen Ent-
wicklungen bereitet sich, soweit iiberhaupt die Religion
unter uns noch lebend ist, eine erschiitternde Krisis vor.
Es gilt dem Protestantismus , es gilt dem evangelischen
Christentum in dem Grundprinzip seines Daseins. Man sagt
uns, der Protestantismus habe mit dem Ultramontanismus
zu kampfen und es drohe ihm von diesem grofie Gefahr.
Das ist wahr, aber diese Gefahr ist nicht die hochste. Viel
ernster ist die Krisis, die iiber den evangelischen Religions
begriff selbst hereinbrechen wird, ja schon hereingebrochen
ist. Es handelt sich zum zweitenmal um eine Auseinander-
setzung mit dem Katholizismus ; denn der ?,neue" Religions
begriff ist in Wahrheit der katholische. Wie viele die Krisis
bereits empnnden, tut nichts zur Sache. Um ihren An-
bruch zu verkiindigen, bedarf es keines Propheten mehr.
Um welche Gegensatze es sich handelt, haben wir in den
beiden Artikeln kurz darzustellen versucht, in den folgen-
den soil sich die Beurteilung anschliefien.
20*
308 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
in.
,,Eure Kurfurstliche G-naden weifi oder weiJB niclit, so
lasse Sie es Ihr hiemit kund sein, dafi ich das Evangelium
nicht von Mensehen, sondern allein vom Himmel durch
unsern Herrn Jesum Christum liabe, dafi ich mich wohl
hatte mogen, wie ich. denn hinfort tun will, einen Knecht
und Evangelisten riihmen und schreiben."
So hat Luther, als er von der Wartburg zuruckkehrte,
an den Kurfursten geschrieben. Selten und nur auf den
Hohepunkten seines Lebens hob sich sein reformatorisches
Bewufitsein zu dieser Hohe; aber die G-ewiGheit seiner
christlichen Erfahrung und seines Berufs, die aus diesen
"Worten spricht, war doch das Fundament seines ganzen
Wirkens. Die Kirche, die nach ilim genannt worden ist,
hat diese Uberzeugung bis zur Zeit der Aufklarung fest-
gehalten. Man braucht nur an den bekannten Spruch zu
erinnern: ^Grottes Wort und Luthers Lehr vergehen nun
und nimmermehr" und an den Abschnitt ,,Von Luthers
Berufung" in lutherischen Dogmatiken. Ja noch im acht-
zehnten Jahrhundert hat der Grofivater Jung Stillings,
iibrigens ein Eeformierter, seine Sehnsucht nach dem
Himmel in die Worte gekleidet:
,,Ich erwarte ohne Furcht den wichtigen Augenblick,
wo ich von diesem schweren, alten und starren Leib be-
freit werden soil, um mit den Seelen meiner Yoreltern und
andrer heiliger Manner in eine ewige Ruhe eingehen zu
konnen. Da werd ich finden: Doktor Luther, Calvinus,
Okolampadius , Bucerus und andre mehr, die mir unser
seliger Pastor, Herr Winterberg, so oft geriihmt und ge-
sagt hatte, dafi sie nachst den Aposteln die frommsten
Manner gewesen."
Der Mafistab, nach dem die Frommigkeit und die Be-
deutung dieser Reformatoren hier gemessen ist, war nicht
die Inspiration oder die asketische Heiligkeit, sondern ihr
Bedeutung der Eeformation innerhalb der allg. Religionsgeschichte. 309
G-laube. Weil sie den rechten G-lauben auf den Leuchter
gestellt nnd den Weg zu ihm gewiesen haben, danun
haben sie ein apostelgleiches Ansehen.
Der alte Stilling hatte ganz richtig empfunden. Es
war durch jene Manner im sechzehnten Jahrhundert wirk-
lich etwas geschehen, dem sich kein Vorgang aus der frii-
heren Geschichte der Kirche an die Seite setzen liefi. Ent-
weder waren sie Verstorer oder trotz aller personlichen
Schwachen Manner, denen ein Platz neben Paulus gebiihrte.
Aber waren sie nicht Verstorer? Das ist eine ernste Frage.
Je nnd je sind im Q-ebiet des Katholizismus Manner auf-
getreten, die den doppelten Religionsbegriff, wie er dort
herrscht, unertraglich fanden und zu einem einzigen zu-
sammenzielien wollten. Aber dann war es stets der monchi-
sche, den sie allein gelten lieflen, und dem die Religion
der in der Welt stehenden Christen, die G-laubensreligion,
als eine halbschlachtige und unwerte weichen sollte. So offc
sich solche Propheten erheben, zuletzt noch Tolstoi und vor
ihm der Protestant Kierkegaard, geht ein Zittern durch
die ganze Christenheit. Wo nur immer ernstere Christen
sind, da regt jene Verkiindigung alle Tiefen der Religion
auf, erschiittert die Grewissen und entfesselt Sturme in den
Abgriinden der Seele. Jene Manner aber des sechzehnten
Jahrhunderts suchten die Einheit zu schaffen, indem sie
die G-laubensreligion zur einzigen erhoben. G-ewifi, darin
liegt eine Art von Sakularisierung der Religion mit den
schwersten Grefahren. Haben sie alle die lebendigen, sinn-
lich-iibersinnlichen Empfindungen der Frommigkeit fur
gleichgiiltig oder nebensachlich oder bedenklich erklart,
haben sie das Opfer abgelehnt, das in der Darbringung
des ganzen weltlichen Lebens besteht, so haben sie un-
zweifelhaft ein gewagtes Spiel gespielt. Wo ist dann noch
die Religion? Ist ihr nicht ihr eigentiimliches Leben ent-
zogen? Ist es nicht sehr bequem, Religion zu haben, wenn
sie nichts andres ist als die Weiterfiihrung des taglichen
310 Zweiter Band, zweite Abteiluiig. Aufsatze: Y.
Lebens, wie man es lebt, nur begleitet von einem ratsel-
haften Glauben, der selbst nur auf Treue und Glauben
hingenommen wird — ohne Feuer in der Seele, ohne Furcht
nnd Zittern im Gewissen, ohne Energie in der Tat?
Ja, das ist die G-efahr! Aber Gefahren entscheiden
nicht iiber das Recht und die Wahrheit einer Sache. Mit
„ Gefahren" konnen wir auch von der andern Seite reich-
lich aufwarten; denn Religion ist, wie man sie auch nimmt,
immer ,,gefahrlich". Oder sind die Saulenheiligen , die
G eifilerbruderschaften , die Ertotung des Lebens, die Yer-
6'dung der ganzen Schopfung und wiederum die Ausbriiche
ekstatischer Leidenschaffc , die Raserei der Seele, die Blen-
dung des Verstandes, die Verkehrung aller Vernunft —
sind das alles keine Gefahren? Von den Gefahren wollen
wir daher absehen. Dagegen bietet sich sofort ein andrer
Mafistab der Beurteilung an. Wie steht es mit den Friich-
ten dort und hier? Nun, man darf wohl, ohne sich dem
Vorwurf der Parteilichkeit auszusetzen, behaupten, daJS es
mit ihnen bei den protestantischen Yolkern mindestens
nicht schlimmer steht als bei den katholischen. Allein
dieser MaCstab ist doch nicht ohne weiteres brauchbar;
denn man kann ihm entgegenhalten, es miisse zuvor unter-
sucht werden, was bei jenen wirklich aus ihrem evangeli-
schen und bei diesen aus ihrem katholischen Christentum
geflossen ist. Das ist eine schwierige, wenn auch nicht
aussichtslose Untersuchung, und da-rum mufi sie hier bei-
seite bleiben. Es fragt sich, ob nicht die richtige Beur
teilung aus der Sache selbst gewonnen werden kann.
,,Mihi adhaerere Deo bonum est" (Q-ott anhangen, das
ist mein Grut) — in diesem Satze liegt doch wohl das G-e-
meinsame, was die beiden Standpunkte verbindet, sofern
sie wirklich Religion sind und nicht leere Ekstase oder
toter ,,Glaube". Wo aber der Gredanke des von der Welt
unterschiednen , lebendigen Gottes sich der Seele bemach-
tigt hat und als Wirklichkeit festgehalten wird, da ist
Bedeutung der Reformation innerhalb der allg. Keligionsgeschichte. 311
immer Inspiration, und zugleich spaltet sich in dem Be-
wuJBtsein der natiirliche und der geistliche, der alte Tind
der neue Mensch. In dieser Erfahrung, die durch das Gre-
bet bejaht und gekraftigt wird, ist zwischen dem Eksta-
tiker, wenn anders er in Grott lebt, und dem schlichtesten
evangelischen Christen kein Unterschied. 7,Wir haben nicht
empfangen den Greist der Welt, sondern den Greist aus
G-ott, dafi wir wissen konnen, was uns von Grott gegeben
ist" — der niichternste Lutheraner mufi in diesem Be-
kenntnis sein eignes sehen, oder seine Heligion ist iiber-
haupt keine. Und nicht anders ist es in bezug auf die
Lebensfuhrung: in der Bitte um ein reines Herz und in
dem kraftigen Streben nach Freiheit von der Welt treffen
sich die Standpunkte.
Aber doch ist der Unterschied noch ein sehr grower.
Dort bleibt der innere Sinn scheinbar lebendiger und inni-
ger an der Wirklichkeit Grottes haffcen, und darum stofit
er die Welt ab als einen eklen Schein oder als die Beute
des Todes. Hier dagegen scheint die Kraftigkeit des Er-
lebnisses schwacher zu sein; denn jene Energie offenbart
sich nicht so sinnenfallig. Nein — sie ist nicht schwacher,
sondern starker; denn sie ist mit dem klarsten Bewufitseir
bezogen auf einen Punkt: Frieden in Q-ott, der die Schuld
vergibt und die Seele bewahrt. Alles ubrige fallt ab und
wird bedeutungslos gegenuber diesem Herzstiick. Selbst
die ,,hohen Offenbarungen" stiirzen zusammen und werden
gleichgiiltig fur einen Menschen, dem Grott aufgegangen
ist als die gnadige Macht, die den innern Zwiespalt auf-
hebt, und als der, der seine Fliigel breitet iiber sein Kind.
Einst offenbarte sich die Grottheit den Menschen an
heiligen Zeichen, an Zeremonien und an einer Kultusord-
nung. Fiirwitz und Torheit ware es, zu leugnen, dafi sie
nicht wirklich an ihnen empfunden wurde. Aber als die
Zeit erfullt war, wurden dieselben Zeremonien und dieselbe
Kultusordnung als Grotzendienst erkannt. Einst offenbarte
312 Z-w«iter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
sich die Gottheit den Menschen in einer Fiille erhabner
G-efiihle, in iiberschwenglichen Erlebnissen, und in der
Wiiste der Askese leuchtete ihr Feuer. Fiirwitz nnd Tor-
heit ware es zu lengnen, daB sie nicht wirklich in ihnen
empfunden wurde, ja noch empfunden wird. Aber als die
Zeit erfiillt war, wurden dieselben erhabnen G-efiihle und
uberschwenglichen Erlebnisse eine geringe Sache gegeniiber
dem schlichten Bekenntnis : ,,Ich glaube an Gott, der Siinde
vergibt, und ich befehle mich in seine Hande."
1st Luther wirklich im absoluten Sinn der Erste ge-
wesen, der der Religion diese Wendung gegeben und ihren
Bereich und ihre Form durchgreifend korrigiert hat? Dann
ware er Religionsstifter im vollen Sinne des Worts. Das
ist er nicht gewesen; denn das, was er in der Kirchen-
geschichte vollzogen hat, ist nur die Enthullung dessen,
was in der Weltgeschichte langst aufgeleuchtet, aber wieder
verdunkelt war.
IV.
Vor bald zwei Jahren schrieb ich in einer wissen-
schaftlich-theologischen Zeitschrift :
,,Wenn nicht alles triigt, gehen wir in bezug auf die
Erklarung und geistige Vermittlung des Urchristentums
und der altesten Kirchengeschichte einer Epoche entgegen,
die man als altertumelnde bezeichnen darf. Im G-egensatz
zu jener Betrachtung, die die geistigen Hohepunkte einer
geschichtlichen Erscheinung hervorhebt, werden wir an-
gewiesen, vielmehr ihre breite Basis und substanzielle
Natur zu studieren. Aus dem "Wurzelgenecht, aus Stamm
und Rinde sollen wir Bliite und Frucht bestimmen. Wir
werden gewiO viel dabei lernen; aber mogen die Zukunf-
tigen besonnene Lehrer bleiben, sonst gibt es einen vor-
zeitigen Riickschlag. Die teleologische Betrachtung der
geschichtlichen Erscheinungen ist die entscheidende. Nur
Bedeutung der Eeformation innerhalb der allg. Religionsgeschiclite. 313
sofern sich etwas aus seinen Urspriingen losgerungen hat,
1st es eine Macht geworden."
Der Unfug, der auch sonst in der modernsten Gre-
schiclitsclireibung mit dem ^Milieu" getrieben wird — die
Sache 1st so wenig anziehend wie das Wort — , dringt
auch. in die Kirchengeschichte ein und wird uns dort als
die 7,reKgionsgeschichtliche Betrachtung" empfohlen. In
dem ^Milieu" werden dann nock die barocken Ziige mit
besonderm Eifer aufgesucht und so erklart, als hatte in
ihnen das eigentliche Leben pulsiert. Wie ware es, wenn
heute einer in unsre Kirchen trate und daselbst dekorative
Frachtguirlanden, spielende Engel u. dergl. ins Auge fafite,
punktlich nachwiese, woher diese Dinge kommen, und nun
behauptete, die G-emeinde huldige noch einem heimlichen
Naturdienst? Oder wenn er die religiosen Bilder, die wir
brauchen, mit vieler Q-elehrsamkeit auf ihre Urspriinge
zuruckfuhrte, um dann zu erklaren, die babylonisch-assy-
rische Eeligion sei unter uns noch nicht ausgestorben?
Nicht wesentlich anders mutet uns manches an, was wir
heute iiber Religionsgeschichte und naher uber das Ur-
christentum zu lesen bekommen, oder was uns angekiindigt
wird. Wer sich dagegen einen Sinn fur das Produktive
und Fortwirkende in der Q-eschichte bewahrt hat, der wird
bei allem Interesse fur die Formen Schale und Kern nie
verwechseln konnen. —
Wir haben den vorigen Artikel mit der Behauptung
geschlossen, Luther sei nicht der erste gewesen, der jene
Wendung in der Religionsgeschichte herbeigefiihrt habe,
die durch das Bekenntnis kurz bezeichnet ist: wlch glaube
an Q-ott, der Siinde vergibt, und ich befehle mich in seine
Hande"; wohl habe er zuerst in der Kirchengeschichte die
christliche G-emeinde ausschliefilich auf dies Bekenntnis
gestellt, aber er habe damit nur etwas enthullt und in
Kraft gesetzt, was lange vor ihm bereits vorhanden ge
wesen sei.
314 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
Auf wen wir damit abzielten, konnte wohl niclit
zweifelhaffc sein. Der Herr selbst hat diese Religion ver-
kiindigt. Q-ewifi, er hat nichts aufgelost von der vater-
lichen Religion, und so mogen uns jiidische und christliche
Rabbiner belehren, daB er eben nur ein Jude gewesen sei.
Oder es mogen andre kommen und uns sagen, seine Ver-
kiindigung sei nichts andres gewesen als eine erschiitternde
Predigt von dem Grericht und dem zukiinftigen Q-ottesreich,
in dem man mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische
sitzen werde. Oder es mogen die Dritten erklaren, die
Botschaft von der bessern G-erechtigkeit, d. h. von dem
neuen Q-esetze, sei der eigentliche Inhalt seiner Predigt.
Diese sind der Wahrheit schon nahe gekommen, aber
verfehlt haben sie sie auch; denn das Hauptstiick seiner
Predigt ist der Grott, der Siinde vergibt und die Haare
auf dem Haupte gezahlt hat. Darum sind der Zollner im
Grleichnis vom Pharisaer und Zollner und ,,der verlorne
Sohn" die grofien Paradigmen seiner Religion.
Wie kann man das beweisen? Nun, aus der Sache
selbst und aus der Entwicklung, die sie in den achtzehn
Jahrhunderten genommen hat. Aus der Sache selbst;
denn es ist unmoglich, dafi jene Verkiindigung ein neben-
sachliches Element darstellt. Mag sie von noch so ver-
schiednen Momenten begleitet und in sie verflochten ge
wesen sein: wo sie iiberhaupt ist, ist sie das Hauptstiick;
denn alle iibrigen haben neben ihr etwas Fragmentarisch.es
und Unstetiges. Aber sie tritt auch in der Predigt Jesu
mit souveraner Kraft hervor. Jiingst ist ein herrliches
Buch erschienen: Jiilicher, Die Grleichnisreden Jesu
(Freiburg, 1899). Dreiundfunfzig G-leichnisse und Parabeln
sind hier ihrem urspriinglichen Sinn zuriickgegeben, gegen-
iiber jener Exegese, die viele Kiinste treibt und nur weiter
vom Ziele kommt. Dieses Buch sollte in den nachsten
Monaten von alien Theologen gelesen werden; denn besser
als irgend ein andres ruft es zur Erkenntnis des Wesent-
Bedeutung der Eeformation innerhalb der allg. Religionsgesehichte. 315
lichen. Es wird die Zuversicht zu dem wevangelischenu
Glauben beleben und starken, zu jener Uberzeugung, dafl
der demiitige Kindessinn gegeniiber dem Vater im Himmel
in der Gewifiheit seiner G-nade und seines Schutzes das
G-eheimnis der christlichen Religion ist, das den Weisen
und Klugen verborgen, aber den Unmiindigen geoffenbart
ist. Und die Geschichte dieser Religion — was lehrt sie
anderes vom Urchristentum an bis zu Augustin, von Augu-
stin zu Franziskus, von Franziskus zu Luther, als die
Enthiillung dieses Evangeliums ? Gewifi, man kann in der
Geschichte sehr verschiedne Linien konstruieren mit ganz
verschiednen Effekten. Aber nach mlihsamen Experimenten
kehrt man zuletzt zu der Lime zuriick, die die Geschichte
selbst mit ehernen Ziigen auf ihre Tafeln eingegraben hat.
Sie schreibt auch allerlei daneben, und die Gelehrten solleii
es lesen; aber sie fuhrt nicht irre.
Im Urchristentum entwickelte sich mit einem Schlage
alles zur hochsten Kraft, was irgendwie Religion des
Heiligen war. Die apokalyptischen und eschatologischen
und wiederum die weltfliichtigen und sittlichen Elemente
strebten empor; ein jedes suchte an dem neuen Eiiebnis
Halt zu gewinnen und den ganzen Bereich des Religiosen
allein auszufiillen. Aber mitten aus dieser unruhigen und
sturmischen Bewegung heraus vernehmen wir den sichern
Glockenton: ,,Wir wissen, dafi denen, die Gott lieben, alle
Dinge zum Besten dienen." ,,~Wer will uns scheiden von
der Liebe Gottes?" und in dem hohen Liede der Liebe
(1. Kor. 13) schwingt sich der grofie Apostel uber alle
Propheten und iiber alle Virtuosen der Selbstaufopferung.
In der ?,Kirche" hat man das nicht uberhort, aber
nicht so gehort, wie sich's gebiihrt. Sie stellte sich bald,
ja eigentlich von Anfang an, auf andre Grundlagen. Eine
kompliziertere Struktur, als diese Kirche schon nach drei
Menschenaltern aufweist, hat niemals eine religiose G-e-
meinde empfangen, freilich ein Beweis ihrer Universalitat
316 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
nnd der ungeheuern positiven Kraft, mit der sie alles
Positive an sich zog. Was seit den Tagen des Moses
und des Plato an der Religion erlebt nnd iiber sie gedacht
worden war, das zog die Kirche in ihren Organisnms
hinein, bildete es als eines ihrer Organe aus und benutzte
es, sei es als Waffe, sei es als Klammer. Das Zollner-
bekenntnis, Rom. 8, nnd 1. Kor. 13 waren dabei wahrlich
nicht vergessen, aber die heilige Einfalt und Schliclitheit
der Gresinnung, von der sie zeugen, der sichere Trost, den
sie gewahren, und die Tatkraffc, mit der sie das Herz er-
fullen, waren niedergehalten.
Aber nun begannen die Reduktionen. Man kann nicht
nur, man soil und mufi die ganze innere Religionsgeschichte
der christlichen Kirchen bis auf Luther beschreiben als
eine Qeschichte, in der sich das Evangelium herausarbeitet
aus Apokalyptik, Eschatologie , asketischer Weltflucht und
wiederum aus Metaphysik, Pradestinationslehre, Kirchen-
dogmatik, um das innere Leben allein zu bestimmen. An
dem Bilde Christi und an seinen Worten arbeitete es sich
heraus: Mittel und Zweck fallen hier zusammen. Soil ich
erzahlen, wie ein Clemens Alexandrinus innere Freiheit
gewinnt am Evangelium, und wie sein dem Evangelium
scheinbar so fremdes Ideal ,,der wahre Grnostiker" ihm
in "Wahrheit so nahe gekommen ist? Soil ich an Augu-
stins ,,Konfessionen" erinnern, daran erinnern, wie dieser
tiefsinnigste und gefahrlichste Spekulant doch nahe daran
gewesen ist, alle Spekulation zu verabschieden : ,,~Wer Grlaube,
Liebe und Hoffnung hat, hat alles, hat Qott selbst und
bedarf nichts anderes, keine »0ffenbarungen«, kein Monch-
tum, kein Gresetz." Soil ich der grofien Wendungen im
Monchtum gedenken, als der Weltschmerz in die G-ottes-
freude, das beschauliche Leben in das tatige iiberging, bis
zuletzt Martin Luther kam und der Christenheit den
Grrund und das Ziel dieser ganzen Entwicklung enthullte
und deutete? Er hat vieles stehen gelassen und trug, wie
Bedeutung der Keformation innerhalb der allg. Beligionsgeschiclite. 317
wir alle, das Q-ewand seiner Zeit. Aber er hat in einer
Q-emeinschaft von Millionen die Uberzeugung erweckt, dafi
Qott mit uns nicht anders handelt als durch den G-lauben,
daft G-ott das "Wesen ist, auf das man sich verlassen kann,
und dafi er grower und giitiger ist als unser Herz. Auf
dieser Uberzeugung, mit Ablehnung alles Enthusiasmus7
und aller selbstgewahlten "Werke, hat vor ihm niemals eine
religiose G-emeinschaft, eine Kirche, gestanden. Langst
war sie aufgeleuchtet — in der Verkiindigung Jesu selbst — ,
darum ist Luther kein Religionsstifter; aber in der Kirehen-
geschichte, als die Grundlage einer G-emeinschaffc, hat er
sie durchgesetzt, und in diesem Sinn gebiihrt ihm auch
eine Stelle in der allgemeinen Religionsgeschichte.
V.
,,Den einzelnen Verkehrtheiten des Tags," sagt Groethe
einmal, 7,sollte man immer nur grofie weltgeschichtliche
Massen entgegensetzen. " Die Eorchenhistoriker, die zum
G-liick noch nicht Historiker eines Jahrhunderts sind, sollen
das universalgeschichtliche Material, das ihnen zu Gebote
steht, brauchen, um den Verkehrtheiten zu begegnen, die
aus der Uberspannung einzelner Beobachtungen und aus
der Tagesmode entspringen. Falsche Querschnitte , die in
der Geschichte gemacht werden, werden als solche durch
richtige Langendurchschnitte erwiesen. In diesen taucht
oft gar nicht oder an ganz untergeordneter Stelle auf, was
im willkiirlich gemachten Querdurchschnitt sehr bedeutend
erscheint. Ein Beispiel: es ist nicht schwer, an einer be-
stimmten Stelle der Kirchengeschichte einen Querschnitt
so durchzulegen, dafi der Engelglaube als eines der wich-
tigsten Stiicke in Lehre, Kultus und Leben hervortritt;
aber jeder Langendurchschnitt, den man an der Kirchen
geschichte vollzieht, wird beweisen, dafi jener Grlaube ein
hochst untergeordnetes Moment gewesen ist. Das Produk-
318 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
tive, Fortwirkende nnd darum Wesentliche in der Gre-
schichte lafit sich immer nur an ihrem Verlaufe ermitteln
und studieren; in der groBen Frage, die uns hier beschaf-
tigt, legt dieser Verlauf Zeugnis dafiir ab, dafl das, was in
der Predigt des Herrn die Hauptsache war, auch das sich
durchringende Hauptstuck geblieben ist, aber erst durch
Lnther das ausschliefiliche Fundament einer religiosen Gre-
meinde wurde.
Ist das geschichtliche Urteil an der Erkenntnis des
Verlaufs der Greschichte gereiffc, so wird es auch Sich.erh.eit
gewinnen in der Abstaining und Wiirdigung der charakte-
ristischen Momente eines bestimmten Zeitalters. Ich wahle
wiederum ein Beispiel. Nichts scheint sicherer zu sein als
die Tatsache, dafi die Christen des zweiten Jahrhunderts
von einem massiven ,,G-eistes"-, Geister- und Damonen-
glauben so beherrscht waren und so sehr in einer Welt
von Visionen, Wundern und Mirakeln lebten, daJB daneben
alles andre unkraftig war, oder doch nur ein streng auto-
ritatives Kirchentum, das die Enthusiasten in Schranken
hielt, aufzukomnien vermochte. Sieht man aber naher zu,
so gewahrt man erstens, daB jene Welt der Ekstase und
der Wunder den Christen damals keineswegs eigentumlich
gewesen ist, sondern ein gemeinsames Merkmal des Zeit
alters gebildet hat, zweitens, dafi sich die ernsteren Christen
— und uberall diirfen nur sie in Betracht gezogen werden
— nicht unbedingt auf jene Erscheinungen verlassen haben,
und drittens, daU das Erlebnis, durch die Grottesoffenbarung
Siindenvergebung, sichere Freudigkeit und die Kraft zu
einem sittlichen Leben gewonnen zu haben, das eigentliche
Hauptstiick ihres neuen Bewufitseins gewesen ist. Diese
Erkenntnis getraue ich mir gegen jedermann streng histo-
risch zu erweisen. Ist dem aber so, dann legt auch das
zweite Jahrhundert Zeugnis dafur ab, dafl Luther etwas
zum Fundament der G-emeinde gemacht hat, was schon in
den friihern Jahrhunderten die hinter den Ekstasen einer-
Bedeutung der Eeformation innerhalb der allg. Eeligionsgeschichte. 319
seits and deii Kirchenlehren andrerseits ruhcnde Kraft ge-
wesen und aus der Predigt Jesu Christi geflossen 1st.
Aber, wendet man ein, es mag mit dem Religions-
begriff Luthers oder selbst des Herrn wie immer stehen —
entsprungen sei er schliefllich doch aus jener primitiven
Religion des Pathos und des Enthusiasmus ; daher miisse
er entweder diese Zuge noch tragen oder sei, wenn sie ihm
fast ganz fehlen, als ein schwachlich.es Endprodukt zu be-
urteilen. Dieser Einwand verlangt eine besondre Beaeh-
tung; denn in ihm steckt der Grundfehler der entwick-
lungsgeschichtlichen Methode in ihrer Anwendung auf die
Greschichte.
Wir leugnen das Recht der entwicklungsgeschicht-
lichen Methode nicht, aber wir fordern, dafi, wer sie an-
wendet, seinen Blick scharfe und befreie und sich nicht
bei einfaltigen Betrachtungen beruhige. Die Entwicklung
verlauft doch nicht nur in auf- oder absteigenden konti-
nuieiiichen Linien, sondern sie steigert sich an den Knoten-
punkten zu Metamorphosen. In der Naturgeschichte 1st
uns diese Tatsache ganz gelaufig: aus der Raupe wird der
Schmetterling, der unter vollig andern Lebensbedingungen
steht wie die Raupe. Kame heute jemand und teilte uns
als neuste und tiefste Weisheit mit, der Schmetterling
konne gar nicht fliegen, da ja die Raupe nur gekrochen
sei, man miisse deshalb den Mug des Sommervogels wider
den Augenschein als eine Art gesteigerten Kriechens be-
urteilen, so wiirden wir seine ,,entwicklungsgeschichtliche
Betrachtung" fur Unsinn erklaren und ihn auslachen. 1st
es in der Geschichte anders? Dennoch lachen dort nur
wenige, wenn ihnen als das Ergebnis ,,entwicklungsge-
schichtlicher Studien" mitgeteilt wird, es gebe keinen freien
Willen, denn einst habe es nur einen unfreien gegeben, es
gebe keine Religion ruhiger und stetiger Zuversicht, denn
einst habe es nur eine pathetische gegeben, die Religion
habe nichts mit dem Sittlichen zu tun, denn einst sei sie
320 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
von ihm ganz getrennt gewesen. Solange sich die Ent-
wicklungshistoriker noch nicht davon iiberzeugt haben, dafl
die Dinge innerhalb der Entwicklung anders werden, dafi
Bewufltsein und Willenskraft sich transformieren, ja dafi
ein nenes psychologisch.es Vermogen sich entwickelt, das so
sicher funktionieren kann wie eine primitive Naturkraffc —
solange wirken sie verwirrend und gemeinschadlich. Dem
heutigen, durch die Greschichte, d. h. durch die christliche
Religion wirklich erzognen Menschen ist das Sittengesetz
als natiirliches Gresetz in das Herz geschrieben; es ist zur
Natur seiner verniinftigen Seele ge word en, und er kann es
schlechterdings nicht los werden. DaB das fruher nicht so
war, liegt am Tage, aber deshalb den heutigen Tatbestand
leugnen wollen, ist ein verkehrtes Unterfangen. Die dilet-
tantische Rede vom 7,"Ubermenschen" hat ihr gutes Eecht,
nur sucht sie ihn am falschen Ort. Der ^Ubermensch" ist
langst da: die Greschichte des sittlichen Menschen ist seine
Entwicklungsgeschichte — die Greschichte des sittlichen
Menschen im Bunde mit dem Q-ott, der sich ihm nicht
mehr als geheimnisvoll sturmische Macht, sondern als
Norm, Kraft und Schutz seines sittlichen, iiberweltlichen
Daseins offenbart.
In dieser Betrachtung sind wir zum Kern der Frage
gelangt, die uns hier beschaftigt; denn das, was durch
Luther zum ausschliefilichen Fundament einer religiosen
Q-emeinde gemacht worden ist, was in der friihern Periode
der Kirchengeschichte sich durchzuringen strebte, was das
Hauptstiick in der Verkiindigung Jesu gebildet hat — es
ist die exklusive, das ganze Grebiet des Religiosen beherr-
schende Verbindung der Religion mit dem Sittlichen. Man
schwacht sie aber bereits ab, ja zerstort sie, wenn man ihr
den Charakter des ,,Naturlichen" nimmt. So tritt sie in
den Reden Jesu hervor; man schlage ein beliebiges Q-leich-
nis auf. Die Voraussetzung ist immer die, dafi jeder Mensch
sittliche Pei'son ist, und dafi daher das, was er, Jesus, sagt,
Bed.eutu.ng der Eeformation innerhalb der allg. Religionsgeschichte. 321
auGerhalb jeder Kontroverse liege nnd zugleich das natiir-
liche Verhalten bezeichne. Der Einwurf, dafi man einst so
nicht zu den Menschen sprechen konnte, verschlagt nicht:
jetzt konnte man so zu ihnen sprechen, und von jetzt an
soil man so zu ihnen reden. Die ganze gewaltige Predigt
von der Gottheit fallt jetzt nicht rnehr wie eine rein aufier-
weltliche, fremde Kraft iiber das armselige Menschenleben
her, urn es zu zerbrechen oder zu entsetzen, sondern sie
gehort als die Predigt von dem allmachtigen und heiligen
Vater-Gott in den Ring seines eignen Daseins hinein.
Darum mufiten die Ekstasen und die Mirakel auf horen
und muBte die alte Religion einer neuen weichen, in der
das Supranaturale ein Stetiges, ja ein Natiirliches geworden
ist. Man wird mich nicht miG verstehen : nichts andres
meine ich als jenen gut lutherischen Satz, dafi wir fur
diese Religion geschaffen sind, dafi sie nicht irgendwie nur
eine Zugabe zu unserm Leben ist, sondern die Sphare
unsres Daseins. Und nicht furchten sollen wir uns vor
den ^Entwicklungshistorikern", als konnten sie uns in die-
ser tiberzeugung beunruhigen: der Schmetterling hat sich
nicht nur aus der Raupe entwickelt — es war auch ihre
Bestimmung, nicht immer am Boden zu kriechen, sondern
einst im neuen Sonnental die Fliigel rasch und freudig
zu entfalten.
VI.
Die These, die es zu beweisen gait, ist in den voran-
gehenden Artikeln gerechtfertigt worden:
Die Reformation bedeutet einen epochemachenden Um-
schwung in der Religionsgeschichte iiberhaupt; denn Luther
hat das, was man bisher fur das Wesen der Religion hielfc,
als voriibergehende oder sekundare oder gar als bedenkliclie
Erscheinung betrachtet, und er hat das, was bisher als ab-
geleitete Wirkung der Religion gait, als ihr Wesen beurteilt
oder doch den Anstofi zu solchen Beurteilungen gegeben.
Harnack, Reden und Aufaatze. 2. Aufl. H. 21
322 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
So wollten wir diesen Satz verstanden wissen: Luther
hat den Religionsbegriif, der das Hauptstiick in der Ver-
kiindigung Jesu gebildet hat, der aber in der Kirchenge-
schichte vor ihm sich vergeblich durchzuringen snchte, in
den Mittelpunkt geriickt, nachdem er ihn aus der Verbin-
dung mit dem altern gelost hat. Dieser Religionsbegriff
aber wurzelt in der Uberzeugung, dafi Q-ott mit uns nicht
anders handeln will als durch den G-lauben. Der Grlaube
aber ist die sichere und stetige Zuversicht auf den Gott,
der Siinde vergibt und uns an seiner Hand halt. So zu
Q-ott aufzublicken ist dem ^naturliehen" Menschen fremd;
aber es ist doch das ^Naturliche" in hoherm Sinne; denn
fur dieses Verhaltnis zu Grott sind wir geschaffen.
Es eriibrigt noch einige hier auftauchende Probleme
wenigstens kurz zu beriihren. Sie zu erschopfen ist un-
moglich, aber sie mogen zur Sprache kommen, um zum
weitern Nachdenken anzuregen. Zugleich werden dabei
einige Einwiirfe beseitigt werden, denen unsre Betrachtung
ausgesetzt sein kann.
Erstens, dafi der evangelische Religionsbegriff, so ein-
fach er erscheint, psychologisch und historisch am schwie-
rigsten zu fassen ist, liegt in der Natur der Sache. Er ist
innerhalb der geschichtlichen Entwicklung geworden, was
er ist — nicht durch blofie Evolution, sondern immer durch
ein Zusammenwirken von Evolution und Personlichkeit — ;
er kann daher nur durch Riickgang auf seine Vorstufen
verstanden werden. In diesem Sinne ist die Arbeit der
Eeligionshistoriker nicht nur berechtigt, sondern schlechthin
notwendig; gerade das innerlichste Element der E/eligion,
das Bewufitsein einer iiberweltlichen Kraft und eines iiber-
weltlichen Verhaltnisses , wird nur so in ein helles Licht
geriickt werden konnen (vgl. oben S. 308 if.). Diese Uber-
weltlichkeit ist freilich hier anders bestimmt als auf den
fruhern Stufen, tragt psychologisch ein andres Q-eprage
und offenbart sich in andern Ausdrucksformen — das darf
Bedeutung der Eeformation innerhalb der allg. Eeligionsgescliiclite. 323
nicht iiberselien werden — ; aber der Gegensatz ,,Geist Got-
tes" und wGeist der Welt" wird nicht schwacher empfunden
als friilier. Dankbar haben wir jede psychologische Analyse
der Religion entgegenzunehmen, die uns ihren paradoxen
Charakter enthullt; aber urn so sicherer miissen wir unsern
Blick auf das Ende der Entwicklung richten, in dem jener
paradoxe Charakter nicht untergegangen, wohl aber mit der
gesamten geistig-sittlichen Lebensbewegung in eine Einheit
gesetzt 1st.
Durch den evangelischen Religionsbegriff ist zweitens
der Unterschied einer Religion erster und zweiter Ordnung
— Religion der Ekstatiker und Religion der Laien — auf-
gehoben. Dennoch besteht dieser Unterschied in der Form
individueller Nuancen fort, nicht nur weil die altere Stufe
niemals in der G-eschichte durch die folgende ganz beseitigt
wird, sondern auch weil Temperament, sittliche Disziplinie-
rung des eignen Lebens und besondrer Beruf fur diesen
und jenen bestimmtere und strengere religiose Ausdrucks-
formen fordern. Alles, was wir in der Geschichte des Pro-
testantismus ^Pietismus" nennen, gehort hierher, und weit
entfernt ihn zu verurteilen, wiinschen wir vielmehr, er ware
kraftiger unter uns, vorausgesetzt, dafi er die G-rundlage
des evangelischen Religionsbegriffs nicht wieder in Frage
stellt. Einen Antonius, einen Franziskus, einen Franz
Xavier, ja selbst einen Doctor seraphicus oder angelicus*)
kann und soil es im Gebiet des Protestantismus so gut
geben wie im Katholizismus ; aber nicht der hohen Offen-
barungen oder des armen Lebens soil er sich ruhmen,
sondern des Herrn, und die Gemeinde soil seine Wirksam-
keit lediglich nach der Kraft des Glaubens beurteilen, die
ihn tragt und die er entzundet. So leicht ist es freilich
*) Mit diesem Beinamen zeicluiet die katholische Kirche ihren
groBen Normaltheologen Thomas von Aquino, mit jenem den mystischen
und gelehrten Franziskaner Bonaventura aus.
21*
324 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
den flVirtuosen der Religion" nicht mehr gemacht wie im
Katholizismus , emporzustreben und sich eine Wirksamkeit
zu schaffen, in einer G-emeinde, in der die Regel gilt: ,,Es
gibt kein christlicheres Werk, als dafi die Ehlichen ihre
Kinder erziehen"; aber ein Spielranm for ihre Tatigkeit
fehlt wahrlich nicht; wollte Grott, sie waren zahlreicher!
Umgekehrt freilich soil man nicht die Schwachlichkeit, die
in religiosen Besonderheiten schwelgt oder gar nur so weit
kommt, sie zu bewundern und andern zu empfehlen, fur
Starke halten. Wenn wir heute die Neigung im Protestan-
tismus wahrnehmen, uns altrer Religionsformen mit tief-
sinniger Miene zu riihmen und nach ihnen die evangelische
zu kritisieren, so 1st das haufig nur ein Beweis fur die
Unsicherheit und Zerfahrenheit des Grlaubenslebens und die
Uberschatzung unbestimmter Religionsgefiihle, die hier zum
Ausdruck kommt. Die Ironie Jesu: ,,Korban, wenn ich's
opfere, so ist's viel niitzer," gilt nicht nur den Virtuosen
kultischer Religionsiibung.
Drittens ist das autoritative Element im evangelischen
Religionsbegriff in der Tat starker ausgepragt, als auf den
fruheren Stufen. An das Wort Jesu haben seine Jiinger
geglaubt; dieses Wort hat sie zu Grott gefiihrt, und auf
das Wort haben sie sich verlassen. Mcht anders hat es
Luther empfunden und gewufit. Mcht eignen G-efuhlen
oder Offenbarungen hat er getraut, sondern dem Worte
G-ottes. Aber Autoritat kommt diesem Worte, wie es in
den Evangelien schimmert und leuchtet, zu, weil es kein
fremdes ist, sondern weil es die Seele selig macht, und
weil wir fur dieses Wort geschaffen sind. Als ein leben-
diges trifft es unser Herz. Das braucht nicht immer direkt
das in das Bild des lebendigen Christus gefafite Wort zu
seiEL — ein Christ kann dem andern ein Christus werden
— , aber immer muB uns dies Wort in dem Feuer einer
lebendigen Personlichkeit treffen, wenn es ziinden soil. In
diesem Sinne nimmt der evangelische Q-laube die ganze
Bedenttmg der Eeformation innerhalb der allg. Beligionsgeschiehte. 325
Kirchengeschichte, ja die ganze Religionsgeschichte fur sich
in Anspruch. Er weifi sich. befreit vom Zwang und Joch
jeglicher religiosen Zumutung, die beangstigt oder verwirrt;
er braucht die Geschichte nicht, inn zu leben, wohl aber
urn sicli Rechenschaft zu geben von seinem Recht und es
zu behaupten.
Luther ist kein Religionsstifter gewesen — was er
verkiindigt hat, ist vor ihm verkiindigt worden — , aber
dennoch gebiihrt ihm in der ReKgionsgeschichte ein Platz,
und dieser Platz liegt nicht auf einer Linie, die abwarts
fuhrt, sondern aufwarts. Ich darf nicht hoffen, dafi die
Betrachtungen, die ich vorgefdhrt habe, die machtige Stro-
mung, die das Bett der evangelischen Religion zu verlassen
droht, korrigieren werden; aber vielleicht werden sie zeigen,
dafi man wentwicklungsgeschichtlichu denken kann und
doch nicht zu primitiven Stufen zuriickzukehren braucht.
Oder soil die Theologie, zur Hohe der nReligionsgeschichtea
erhoben, den Zeitgenossen ihren wissenschaftlichen Charakter
dadurch bezeugen, dafi sie gewissenhaft alle Irrtiimer der
wissenschaftlichen Mode mitmacht?
Doch nicht mit einer Abweisung will ich schliefien.
Jungst hat eine verehrte Freundin der nChristlichen Welt"
die schonen Worte geschrieben:
nUnter den vielen entgegengesetzten Stromungen, die
unsre Zeit durchziehen, macht sich ein Moment auf alien
G-ebieten geltend: man begniigt sich nicht mehr dabei, das
Leben in der Pragung iiberkommner Vorstellungen hin-
zunehmen; der Einzelne will seine Mysterien selbst erleben.
Und das gilt von alien seinen Erscheinungen und Mani-
festationen. "Was wir nicht in uns selbst erleben konnen,
besitzt keine Wahrheit, noch weniger eine Autoritat fur
nns. Man spricht vom Erlebnis der Liebe, der Freund-
326 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: V.
schaft, der Natur; vom Erleben einer Musik, eines Kunst-
werks. So aucli vom religiosen Erleben. . . . Hier beruhren
wir uns mit den Uranfangen des G-otterlebens im mensch-
lichen Q-emiit."
Auch. wir begriifien diese Entwicklnng als einen Fort-
schritt zur innern Wahrhaftigkeit und darum zur Wahrlieit;
aber fordern wird er allein dann, wenn uns die Religion
nicht nnr die Fackel ist, die ziindet, sondern die helle
Sonne, in deren Lichte wir leben.
ADOLF HARNACK • REDEN UND AUFSATZE
m ZWEITER BAND • ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: VI
DER EVANGELISCH-SOZIALE KONGRESS
ZU BERLIN
Erschienen in den PreuBischen Jahrbiiclieni, Band 65 (1890) Heft 5.
Fur den 28. und 29. Mai sind Einladungen zr. einem
Evangelisch-sozialen Kongrefi in Berlin ergangen. Die
Tagesordnung des Kongresses lautet:
Die Kirchengemeinde in ihrer sozialen Bedeutung —
Pfarrer Lie. Frh. v. Soden,
Die Frage der Streiks — Prof. Dr. Adolf Wagner,
Die Arbeiterschutz-Gesetzgebung — Dr. Kropatschek,
Die Arbeiterwohmings-Frage — Pastor D. von Bodel-
schwingh,
Die gemeimriitzigen Bestrebungen auf dem G-ebiete
der Sozialpolitik — Dr. Stegemann,
Die evangelischen Arbeitervereine, ihre Bedeutung und
weitere Ausgestaltung — Pfarrer Lie. Weber,
Unsere Stellung zur Sozialdemokratie — Hofprediger
Stocker.
Der Kongrefl 1st mit Bedacht als ,,evangelisch-sozial"
bezeich.net worden, um ihn von den ,,christlich-sozialenu
Unternehmungen zu unterscheiden, und die Namen der
Einladenden, die den verschiedensten kirchlichen und theo-
logischen Richtungen angehoren, bur gen dafur, dafi der
KongreB keine Parteiversammlung sein will. Trotzdem
hat die Ankiindigung Bedenken erregt, und zwar nicht
nur bei solchen, die sofort unruhig werden, wenn die
Religion irgendwo an das Tageslicht tritt, sondern auch
in Kreisen, die ein Verstandnis fur die Pflichten und
R/echte derselben besitzen. Diese Bedenken haben auch
bei einigen von denen bestanden, welche sich entschlossen
haben, die Einladung zu unterzeichnen, und sie werden
330 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VI.
notwendig fortbestehen, bis der Kongrefi sie tatsachlich
widerlegt hat; denn grofie Massenversaminlungen zu be-
rufen 1st immer ein Sprung ins Dunkle, doppelt gefahrlich
in Sachen der christlichen Religion. Hat man dock schon
im zweiten Jahrhundert vor unheiliger G-eschaftigkeit in
Sachen des CHaubens warnen mussen, nnd neben dem
,,Christianos" kannte man schon damals den nChristem-
porosa, den, welcher aus dem Christentum ein Metier macht.
1st der Kongrefi no tig? Was kann er leisten? Wo-
vor hat er sich zu hiiten? NUT kurz sollen die Antworten
auf diese Fragen angedeutet werden.
Zunachst soil der Kongrefi der Information dienen.
Der sozialen Frage oder vielmehr dem ganzen Komplex
von Leiden und Fragen, der durch diesen Titel bezeichnet
wird, vermag sich niemand zu entziehen, und wer ein Herz
hat fur sein Volk, darf sich ihm nicht entziehen. Den
Christen aber sind die Kbtleidenden, Schwachen und Ver-
irrten auf die Seele gebunden durch die bestimmtesten
und eindrucksvollsten Anweisungen Christi, durch sein Bei-
spiel und durch die Stiftung der Kirche, die als ein Bruder-
bund gedacht ist und aufhort, sie selbst zu sein, wenn sie
dieses Ideal preisgibt. Wo ist zu helfen und wie ist zu
helfen, wie kann mitten in dem Kampf widerstreitender
Interessen das Friedenszeichen einer geistigen und inneren
Gemeinschaft aufgerichtet werden, die starker ist als die
Machte der Zertrennung? — das sind Fragen, die keinem
Christen aus dem Sinn kommen durfen. Der christliche
Grlaube ist nichts mekr wert, der an ihrer Ltfsung ver-
zweifelt. Aber urn wirksam in ihnen zu arbeiten, mufi
man die Zustande und die Mittel kennen lernen. Hier ge-
schieht bereits viel, aber es geschieht noch immer zu wenig.
Information von sachkundiger Seite tut not. Daneben
gibt es noch eine spezielle Frage von hochster Bedeutung,
die einen evangelischen Kongrefi wiinschenswert macht.
In ihrer Jugendzeit stand die Kirche zwar vor einer un-
Der evangelisch-soziale Kongrefl zu Berlin. 331
geheuren sozialen Aufgabe, aber diese Aufgabe war nicht
kompliziert, sondern eindeutig und daher gar nicht zu ver-
kennen. Sie stand einer ihr fremden Welt und einem ihr
feindlichen Staate gegeniiber und hatte — mit einem
Wort — alles selbst zu tun. So muBte sie notwendig ein
Staat im Staate werden, und sie war das, bis sie der be-
sorgte Staat zur Staatskirche machte. Seit Jahrhunderten
und vor allem in unserem Jahrhundert liegen jedoch die
Verhaltnisse anders. Unser Staat ist nicht der Feind der
christlichen Religion; er hat sich vielmehr selbst — mag
man ihn nun einen christlichen und protestantischen nennen
oder nicht — christliche Motive und Zwecke angeeignet.
Vor dieser Tatsache verschlieBen sich zwar viele gern die
Augen, sei es, weil sie nichts vom Christlichen, sei es weil
sie nichts vom Staat wissen wollen; aber sie bleibt doch
bestehen, und es ist auf christlichem Boden einfach eine
Undankbarkeit gegeniiber dem, was uns die Q-eschichte
geschenkt hat, sie zu verkennen. Dariiber kann gar kein
Zweifel bestehen, dafi es nie ein Jahrhundert gegeben hat,
in welchem der Staat und die burgerliche G-esellschaft
soviel Sorge fur die Notleidenden und Schwachen gezeigt
haben, wie in unserem Jahrhundert. Allein eben deshalb
erhebt sich die Frage, was kann die Kirche iiberhaupt tun,
wie weit hat sie sich an der sozialen Frage als Kirche
neben dem Staat und der G-esellschaft zu beteiligen?
Innerhalb der evangelischen Kirche selbst herrschen hier-
iiber sehr verschiedene Anschauungen. Auf dem einen
Fliigel stehen diejenigen, welche sich nach altlutherischer
Uberlieferung lediglich auf die Verkiindigung des Evan-
geliums beschranken wollen. Sie sagen, die Kirche habe als
Kirche kein anderes Mittel als das Wort G-ottes: es gibt keine
spezifisch christliche soziale Politik, kein christliches sozial-
politisches Programm. Die Kirche hat keinen Beruf, irdischer
Not zu steuern und irdische Verhaltnisse zu verbessern; sie
verfiigt nur iiber Mittel, um die Not und das Elend des
332 Zweiter Band, zweite Abteilnng. Anfsfttze: VI.
Lebens ertragen zu lehren; im iibrigen muJB sie den Staat
und die Gresellschaft gewahren lassen; diese allein haben
aus ihrem Interesse heraus zu entscheiden, ob Bevormun-
dung walten soil oder Freiheit, Sozialismus oder Individualis-
mus, Arbeiterschutz oder Laisser aller. Auf dem anderen
Fliigel stehen jene, welche im Namen des evangelischen
Christentums der ,,damonischen" Sozialdemokratie die christ-
liche Sozialreform entgegensetzen, die sich zu beweisen ge-
trauen, ein wahrhaftiger Christ miisse in unserem Zeitalter
Sozialist, aber christlicher Sozialist sein, die christliche
"Weltordnung, die es durehzusetzen gelte, sei die Sozial-
monarchie, usw. Zwischen diesen Extremen von rechts
und links gibt es mannigfache Abstufungen, und dort und
nier stehen Manner mit ernstem Sinn und warmem Herzen.
Eben deshalb ist es fur die evangelischen Kirchen eine
wahrhaft brennende Aufgabe, in ihrer eigenen Mitte hier
Klarheit zu schaffen, und in diesem Sinne ist ein Kongrefi
wiinschenswert.
Damit ist bereits angedeutet, was der Kongrefi leisten
kann. Er wird seinen Zweck erfullen, wenn er neben
technischen Informationen die prinzipielle Erage klart.
Meines Erachtens kann diese Klarung nur in der Richtung
erfolgen, dafi allem zuvor zum deutlichsten Ausdruck
komnit, dafi die evangelische Kirche nichts anderes ist als
die Hiiterin des Evangeliums. Das Evangelium aber hat
es nicht mit irdischen Dingen zu tun, richtet auch kein
,,weltlich Reich" auf, sondern treibt die Bufle, den G-lauben
und die Liebe. Sehr beherzigenswerte Worte hat Beyschlag
jiingst in dem Deutschen Wochenblatt (No. 16) geschrieben:
^Das politische Programm des Evangeliums lautet: Grebt
dem Kaiser, was des Kaisers, und Grott, was Gottes ist —
Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die iiber ihn Macht
hat - - Tut Ehre jedermann, habt die Briider lieb, furchtet
Q-ott, ehret den Konig. Alles, was dariiber hinaus als spe-
zifisch christliches politisches Prinzip, als spezifisch christ-
Der evangelisch-soziale KongrcB zu Berlin. 333
liches Parteiprogramm geltend gemaclit wird, 1st ans purer
Begriffsverwirrung entstanden. Man kann ein christlicher
Nationalliberaler sein und ein unchristlicher Konservativer,
und nmgekehrt; jede politische Partei hat irdische, welt-
liche Interessen und Ziele, die man christlich und unchrist-
lich verfolgen kann; das Christentum fiir irgend ein po-
litisches Parteiprogramm in Beschlag nehmen, heifit es mit
der Selbstsucht und Siinde belasten, an der es bei keiner
Partei fehlt. Ebensowenig hat das Christentum ein spe-
zinsches Sozialprogramm. Es predigt die Achtung der
Personlichkeit, die briiderliche Liebe und Erbarmung, die
Uberwindung der Mammonsknechtschaft durch das Trachten
nach Q-ottes Reich und Grerechtigkeit: eine Volkswirtschafts-
lehre, wie Pastor Todt vor zehn Jahren in einem wunder-
lichen Buch meinte, predigt es nicht. Dem Anspruch der
besitzlosen Klassen auf eine gerechtere Yerteilung des
irdischen Grutes steht Christus noch heute gegeniiber wie
damals, da jener Mensch ihn anging, 7,Sage doch meinem
Bruder, dafi er das Erbe mit mir teile": ,,Mensch, wer hat
mich zum Bichter oder Erbrichter iiber euch gesetzt?" Was
er beiden, den Enterbten wie den Besitzenden, Positives
zu sagen hat, fiigen die folgenden Worte hinzu: Hiitet euch
vor dem G-eiz ; denn niemand lebt davon, daB er viele Griiter
hat." In diesen "Worten ist gewiO die Stellung des evan-
gelischen Grlaubens und darum auch der evangelischen
Kirche richtig bezeichnet, und es scheint daher, als miisse
man Uhlhorn beistimmen, wenn er (Katholizismus und
Protestantismus gegeniiber der sozialen Frage 1887 S. 58 f.)
erklart: wEs bedarf keiner neuen Mittel; unsere Kirche hat
auch der sozialen Frage gegeniiber nichts anderes zu tun
als das Evangelium zu predigen, die im Evangelium liegen-
den, durch die Reformation uns erschlossenen sittlichen
Krafte wirksam zu machen und damit unserem Volke eben
die Krafte darzureichen , deren es zur Losung der sozialen
Frage bedarf."
334 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VL
Allein so einfach, wie es nach den eben zitierten
Worten erscheint, 1st die soziale Frage fur die evangelische
Kirche doch nicht. Die Kirclie soil das Evangelium pre-
digen — aber wenn die, welchen es gepredigt werden soil,
nicht zur Kirche kommen? Da wird man doch nach neuen
Mitteln und Formen suchen miissen, um es ihnen nahe zu
bringen. Ferner, fur die Ausiibung der Liebe, zu welcher
der evangelische Glaube verpflichtet und fahig macht,
gibt es gewifi kein Gesetz. Man kann nicht genau angeben
• — die katholischen Scholastiker haben es freilich versucht
— , was man tun mufi, opfern mufi, leisten mufi, um die
Forderung: Liebe deinen Nachsten als dich selbst, zu er-
fullen. Allein soil man deshalb darauf verzichten, den
Leuten das G-ewissen zu scharfen, damit sie erkennen, wer
ihr Nachster ist? soil die Kirche allein organisierte Tatig-
keit, gemeinsames Vorgehen, planvolle Arbeit verbannen,
wahrend wir sonst sehr wohl wissen, dafi die Ubung aller
Tugenden durch Gemeinsamkeit, Ordnung und Organisation
gefordert wird? Niemals wird man freilich diese oder jene
bestimmte Ordnung und Tatigkeit auf diesem wie auf
irgend einem anderen Gebiete als ^die christliche" ausgeben
diirfen — schon deshalb nicht, weil, sobald wir planen,
wir uns irren, und sobald wir handeln, wir uns in der
Wahl der Mittel vergreifen. Aber deshalb diirfen wir uns
doch nicht einreden, dafi das evangelische Christentum es
nicht vertragt, dafi seine Bekenner sich dariiber beraten.
was sie als christliche und kirchliche Manner in der Not der
Zeit tun konnen, um auch das organisierte Institut, welches
sie in ihrer Mitte haben, die Kirche, zu einer wirksamen
Macht wider die soziale Not auszugestalten ! Ich sage ab-
sichtlich, das organisierte Institut, die Kirche. Diese Kirche
ist ja nicht die Kirche, welche der Glaube bekennt, nder
ganze Haufe der Kinder Gottes, die unter dem Himmel
sind", sondern sie ist ein mehr oder weniger zweckmafiiges
irdisches Institut, bestimmt den hochsten Zielen zu dienen,
Der evangelisch-soziale Kongrefl zu Berlin. 335
mangelhaft und schwerfallig, aber doch elastisch nnd einer
besseren Ausgestaltung wohl fahig. Dafi evangelisclie
Grrundsatze es verbieten sollten, diese Institute — die
Landeskirchen — , welche bis zum Beginn der Neuzeit in
wunderbarer Weise den geschichtlichen Verhaltnissen ent-
sprochen, sich ihnen angepafit nnd der christlichen Kirche
gedient haben, vollkommener anszugestalten, ist nicht ab-
ausehen. Man wird vielmehr vom evangelischen Standpunkt
nicht anders nrteilen durfen, dafi, weil wir diese Kirchen
besitzen, wir die Pflicht haben, sie auch in den Dienst
aller der Aufgaben zu stellen, welche die christliche Liebe
in der Gegenwart zu losen hat. Nur rede man nicht, wie
einige Christlich-Soziale in verhangnisvoller Begriffsverwir-
rung tun, von ,,der Kirche Christi", als handle es sich
darum, nun erst das Reich Grottes durchzusetzen und eine
Theokratie aufzurichten. Es handelt sich um etwas sehr
viel Profaneres — vor jener „ Theokratie" bewahre uns
Groit — , aber sehr Notiges und Segensreiches : um eine
zweckmafiigere Ausgestaltung der Landeskirchen im Dienste
der Liebe zu den Briidern. Diese Landeskirchen sind aber
um nichts heiliger als jeder Stand und jede Verbindung,
die in Treue ihres Berufs warten. Sie konnen untergehen,
wie diese, und die Bildungen, die an ihre Stelle treten,
mogen sie auch den Idealen begeistertster Freikirchler ent-
sprechen, werden nicht hoheren Wert besitzen, als ihre
Vorganger. Nur wer mit dieser Niichternheit die Dinge
betrachtet und zugleich die Gefahren erwagt, welche eine
energischere Tatigkeit der Landeskirchen mit sich bringt
— jede energischere Aktion der Kirche wird leicht die
Aktion des Staats und der Kommunen in derselben Eich-
tung lahmen; konnen wir aber so leichten Herzens anf
diese Wirkungen verzichten? welch' eine Bedeutung hat
z. B. die christliche Volksschule! — nur ein solcher hat ein
Recht, in dieser schwierigen Frage mitzuraten. Schwierig
ist sie; aber deshalb ist sie nicht zuriickzuschieben. In
336 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VL
den angedeuteten Grrenzen mufi sie verhandelt nnd gelost
werden; denn der Zustand 1st unertraglich, dafi Tausende
und aber Tausende heute sagen diirfen: was habe ich von
der Kirche? sie kommt nicht zu mir und ich. komme nicht
zu ihr; sie vertrostet mich auf den Himmel und fordert
mir Steuern ab. Wenn es gewifi ist, dafi die soziale Frage
nicht nur eine Magenfrage ist, sondern auch eine Gremuts-
und Herzensfrage, eine Frage aus Herzen, die sich nicht
geachtet fiihlen und nicht geliebt wissen, so erfullt die
Landeskirche , so erfullt die einzelne christliche Gremeinde
ihre PfLicht nicht, wenn sie hier nicht Abhilfe zu schaffen
sucht. Sie mufi, wie einst im zweiten Jahrhundert, wo
man doch auch wufite, dafi der christliche Grlaube der
Ewigkeit gilt und nicht der Zeit, wieder als ein Bund von
Briidern und Schwestern den Armen und Notleidenden
entgegentreten, sie mufl den Menschen im Menschen auf-
suchen und es ihm wieder zu fiihlen geben, dafi er ge
liebt und geachtet ist; sie mufi den Adel jedweder recht-
schaffenen Arbeit nicht nur in Worten predigen, sondern
die Anerkennung dieses Adels im Leben des Tages zum
Ausdruck bringen. Materiell geht es dem vierten Stande
heutzutage wahrscheinlich besser als zu irgend einer Zeit;
aber er fuhlt sich unbefriedigter als je. Hier kann nur
Liebe und Achtung helfen. Wo aber gibt es ein Institut,
welches so umfassend und zugleich so sehr auf die Pflege
dieser Tugenden angewiesen ist, wie die Kirche?
Schwarmerei — ruft man uns entgegen. Aber man
wird den verkehrten und tauben Idealismus der Sozialisten
nur zu iiberwinden vermogen durch den wahrhaftigen
Idealismus. Wenn einen in der G-egenwart etwas mit
bangen Ahnungen zu erfullen vermag, so ist es nicht die
Kraft der Sozialdemokratie an sich, sondern die moralische
Schwache ihrer Gregner. Die Welt vegetiert ohne Ideale
wohl weiter, aber regiert wird sie von den Idealen, und
die Zukunft, wenn auch nicht die nachste, gehort immer
Der evangelisch-soziale KongreB zu Berlin. 337
der entschlossenen TJberzeugung und der Opferwilligkeit.
Weil man zu wenig moralische Kraft hat, darum wird man
in Zukunft dem Sozialisnms eine Abschlagszahlung nach
der anderen bringen. Ich bin kein Nationalokonom; aber
ich fiirchte, daB man bereits im Begrrff 1st, zuviel zu
zahlen. Wir werden unseren Mangel an Wohlwollen,
Achtung, tatkraftiger Liebe von Person zu Person mit der
Bewilligung teuerer und verhangnisvoller 7,Zwange" ersetzen
miissen. Wie weit werden wir in solchen Zugestandnissen
gehen? Welche Opfer wird die individuelle Freiheit bringen
miissen? —
Wenn es anerkannt wird, dafi die evangelische Landes-
kirche hier neben dem Staat und der Kommune eine Auf-
gabe hat, und wenn diese Aufgabe richtig abgegrenzt wird,
so fragt es sich, mit welchen Mitteln sie zu losen ist. Es
gibt deren zwei: das freie Vereinswesen auf dem Boden
christlicher Gresinnung und die den Aufgaben der christ-
lichen Liebe entsprechende Ausgestaltung der Einzelge-
meinde zu einem lebendigen Korper. Wie viel wir dem
Vereinswesen, namentlich seit Wicherns und Fliedners
Tatigkeit, zu danken haben, braucht nicht ausgefuhrt zu
werden. Wir konnen es in der gegenwartigen Zeit am
wenigsten entbehren und miissen es noch immer zu starken
versuchen. Aber wir konnen uns nicht verhehlen, dafi alles
das, was wir Innere Mission nennen, vielfach ein Nbtbehelf
ist. Wir sind von christlichen Vereinen iibernutet, ange-
spannt bis an die Grenzen des Ertraglichen, und andererseits
haben sich diese Vereine liber bestimmte Kreise hinaus un-
bedingte Anerkennung selten zu verschaffen verstanden.
Sie sind niemals ^popular" geworden, nicht im unedlen
Sinne des Wortes, aber leider auch nicht im edlen. Auch
ist es nicht jedermanns Sache, Objekt eines Vereins zu
werden; der Innern Mission entzieht sich vielfach nicht
nur der Hochmut, der Leichtsinn und die Bosheit, sondern
auch berechtigter Stolz und Selbstachtung. Dazu ist das
Harnack, Reden und Anfsatze. 2. Anfl. H 22
338 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VI.
Verhaltnis dieser Art von Liebestatigkeit zu den Kirchen
bis auf den heutigen Tag ein unsicheres nnd undurchsich-
tiges. Kein Wunder, dafl die einen sie als wdie Kirche",
die anderen als eine Art von zweiter Kirche, die dritten
als unberufene, mit allerlei Fremdem, Aufdringlichem und
Zweideutigem behaftete Arbeiterin betrachten. Dafl diese
ganze Arbeit noch eine andere G-estalt gewinnen mufi, ist
das Urteil erfahrener und erprobter Sachverstandiger. Aber
wie das zu geschehen hat, ist eine hochst schwierige Frage.
Jiingst sind zwei hervorragende G-eistliche, Pastor Sulze
in Dresden (in der Protest. Kirchenzeitung) und Prediger
von So den (in einer Broschure: ,,Und was tut die evan-
gelische Kirche"), in kraftigster "Weise dafiir eingetreten,
dafi der Hebel der kirchlichen Tatigkeit bei der Einzelge-
meinde anzusetzen ist: wir miissen verhaltnismafiig kleine,
geschlossene G-emeinden bilden, die ubersehbar sind und
die in sich alle die Funktionen von Gremeinde wegen voll-
ziehen, die jetzt in Dutzenden von Vereinen zersplittert
sind. GrewiJB die allein richtige Losung — aber welch' ein
Weg ist zuriickzulegen, bis man sich ihr nahert, und wie
wird man aus der Gemeinde, wie sie heute ist, die lebendig
tatige Gemeinde schaffen? Dennoch ist diese Losung auch
fur die grofien Stadte, und vor allem fur sie, als das leitende
Ziel festzuhalten. Moge der berufene KongreB besonders
in dieser Richtung Ratschlage geben und Beschliisse fassen.
Die evangelischen Landeskirchen werden sich entweder
durch eine neue, reichere Ausgestaltung der Gemeinde-
organisation auf der Basis kleiner, geschlossener Einzelge-
meinden an der sozialen Arbeit beteiligen, oder sie werden
sich iiberhaupt nicht beteiligen oder ihre besten Anstren-
gungen werden mit Schwache behaftet bleiben und dem
MiOtrauen verfallen. Solange das Vereinswesen nicht ge-
tragen ist von dem Ansehen und der Verantwortung der
ganzen Gemeinde, die reich und arm, hoch und niedrig
umschliefit, und in der Bediirftige und Heifer einander
Der evangelisch-soziale KongreB zu Berlin. 339
gleich stehen, solange 1st auch in iTim nur ein Notstand
ausgedriickt. Der Einzelne bedarf der Freiheit; aber jede
gemeinsame Tatigkeit, jede Versammlung, jede Verbindung
bedarf der Autoritat und eines unzweifelhaffcen Mandats,
wenn ihre "Wirkungen nicht vom Zufall abhangen sollen.
Wovor hat der KongreC sich zu huten? Auch diese
Frage 1st im vorstehenden bereits beantwortet. Aber es
gilt noch einiges mit voller Deutlichkeit hervorzuheben,
anderes hinzuzufugen. Der Kongrefi soil erstens nicht Be-
schliisse fassen iiber Fragen, in denen nur Sachverstandige
und Beteiligte ihrllrteil abzugeben haben. Ein evangelisen-
sozialer Kongrefi wird sich gern informieren lassen liber
die Arbeiterschutz-Gesetzgebung, die Lohnfrage, dieArbeits-
zeit, die "Wohnungsfrage usw.; aber er ist nicht berufen,
hier als Kongrefi E-atschlage zu erteilen und Forderungen
zu stellen. Nur die Frage der Sonntagsruhe — aber auch
nicht im Sinne eines gottlichen Gesetzes, sondern einer
christlich-humanen Ordnung — gehort mit vor sein Forum.
Selbst zu der in das Familienleben so tief einschneidenden
Frage der Frauen- und Kinderarbeit darf er nur mit grofier
Behutsamkeit Stellung nehmen; denn diese Frage lafit sieh
schliefilich so wenig durch gute Wiinsche und humane
Forderungen losen, wie die Arbeiterfrage selbst. Zweitens
soil der Kongrefl sich nicht an dem Vorbilde der katho-
lischen Kirche starken und meinen, was diese Kirche in
der sozialen Frage tut, miisse sofort auch die evangelische
Kirche tun. Die katholische Kirche ist ein selbstandiges
Reich von dieser "Welt neben den Staaten; unsere evange-
lischen Landeskirchen sind das nicht. Die katholische
Kirche glaubt — vom Mittelalter her — , alle Heilmittel
fiir die Gesellschaft im Besitz zu haben; wir glauben das
nicht. Die katholische Kirche steht dem Staat und dem
modernen Leben miCtrauisch gegeniiber; wir haben Grund,
unserem Staate Vertrauen zu schenken. Damit komme ich
auf das Dritte. Der evangelische Kongrefi soil nicht iiber
340 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VI.
den Staat jammern. Eine Dosis Unzufriedenheit mit den
herrschenden Zustanden 1st freilich fur uns alle, die wir
tins gern von dem Gresetz der Tragheit regieren lassenr
eine gate Zugabe. Auch haben wir manche berechtigte
Wiinsche gegeniiber dem Staat, die unerfullt sind; wir
naben ferner iiber manche Abhangigkeit zu klagen, wo
eine groBere Freiheit der Landeskirche znm Vorteil ge-
reichen wiirde. Allein so, wie diese Landeskirchen nun
einmal seit dem Zeitalter der Reformation sind, mit all
dem offentlichen Ansehen und den Rechten, die sie ge-
niefien, und dem Vertrauen, das ihnen und ihrer Greistlichkeit
im Staatsleben geschenkt wird, konnen sie nicht verlangenr
dafi sie wesentlich selbstandiger gestellt werden. Fur die
Kirchen, wie sie gegenwartig sind, ware dies auch kein
Vorteil, sondern, wie manche Exempel gezeigt haben, ein
ITachteil. Auch haben sie bis auf den heutigen Tag viel
mehr Q-rund, dem Staate zu danken als sich zu beklagen.
Ob die Lage der Kirchen besser werden wird, wenn es
einmal zu vollkommenen Freikirchen kommen sollte, das
ist eine Frage, die kein Einsichtiger unbedingt bej alien
wird. Jedenfalls hat sich dieser KongreB nicht mit der
^Selbstandigkeitsbewegung" in der evangelischen Kirche
zu befassen, die bisher einer Vergewaltigung der Volks-
kirche und einer kiinstlichen Reaktion ahnlicher sieht als
einem gesunden Fortschritt, der mit alien guten Elementen
und alien hellen Erkenntnissen des Jahrhunderts im Bunde
steht. Endlich gilt es, noch einen Punkt ins Auge zu
fassen und vor der Beschaftigung mit ihm zu warnen:
das ist die Judenfrage. Es mag eine Judenfrage im natio-
nalen und im wirtschaftlichen Sinn geben — ich weifi das
nicht und bin dariiber nicht kompetent — , das aber weiB
ich, dafi den Antisemitismus auf die Fahnen des evan
gelischen Christentums zu schreiben, ein trauriger Skandal
ist. Die, welche das getan haben, haben freilich immer
das nationale und wirtschaftliche Interesse mithinein ge-
Der evangelisch-soziale KongreJ3 zu Berlin. 341
zogen, well sie als Christen hatten schamrot werden mussen,
wenn sie einfach im Namen des Christentums die Parole
des Antisemitisrmis ausgegeben und das Evangelium in
einen neuen Islam verwandelt hatten. Aber wer kann
leugnen, dafi auch das geschehen ist? Das heifit aber, die
Macht, welche dazu in der Welt ist, die G-egensatze der
Rassen und Nationen zu mildern und Menschenliebe selbst
dem Feinde gegeniiber zu erwecken, in entgegengesetzter
Bichtung mi Bbrauchen. Wir diirfen voraussetzen, dafi auf
dem Kongrefi, der der Verbriiderung dienen soil und nicht
der Vergiftung, kein Yersuch gemacht werden wird, die
7,Judenfrage" hineinzuziehen. Sollte er gemacht werden,
so wird eine kraftige Abwehr nicht fehlen.
Erwartungen, Wiinsche und Bedenken sind hier zum
Ausdruck gebracht. Wie konnen Bedenken fehlen ange-
sichts der herrschenden Unklarheit in den evangelischen
Landeskirchen und der Zerkluftung und Zersplitterung, die
im voraus ein Urteil dariiber nicht zulassen, welche Eich-
tung man wahlen und welchen Weg man einschlagen wird?
Das schwerste Bedenken in bezug auf die Kraft solcher
Unternehmungen, wie sie in dem geplanten Kongresse ver-
sucht werden, habe ich noch nicht einmal genannt. Es
liegt in der Schwache der evangelischen Kirchen an sich.
Diese Schwache aber hat ihren G-rund nicht, wie einige
sich selber tauschend meinen, in der Gebundenheit der
Kirchen, sondern darin, dafi die grofie Mehrzahl der Q-e-
bildeten und Ungebildeten dem Glauben, wie ihn die
Kirchen offiziell bekennen, entwachsen ist. Daran hat
nicht nur die nSiinde" ihren Anteil, wie man, wiederuiu
sich selber tauschend, behauptet, sondern in hochstem MaCe
auch die Ehrlichkeit und der Wahrheitssinn. Die Aufgaben,
welche die Landeskirchen auf dem sozialen Gebiete zu losen
342 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VI.
haben, konnen nur gelost werden durch die Hervorbringung
neuer Formen. Neue Formen erzeugt aber nur ein leben-
diger und wahrhaftiger Greist, der sich seiner Kraft be-
wuflt 1st, im Evangelium wurzelt und zugleich mit alien
Erkenntnissen und Kraften der Gregenwart im Bunde steht.
So 1st es zu alien produktiven Zeiten in der Greschichte
des Christentums gewesen, im 2. Jahrhundert, im 12. nnd
13. Jahrhundert und im Dezennium der Reformation. Wo
aber ist dieser Greist heute? Wie kann er vorhanden sein,
wenn doch die Grrundbedingung seiner Existenz nicht vor
handen ist, voile Zustimmung und darum voiles Zutrauen
zur eigenen Sache in dem ganzen Umfang ihres Bestandes?
Man kann nicht etwas als Stiitze und Trager empfehlen,
was man selbst mit vieler Not, Anstrengungen und Be-
schwichtigungen tragen mufi. Die oberste Aufgabe fur
die evangelischen Kirchen ist daher zurzeit nicht die, in
immer neuer Greschaftigkeit auf Mittel und Mittelchen za
sinnen, sondern ein solches Yerstandnis des Evangeliums
wiederherzustellen , dafi es in keinem Sinn als Last, son
dern als die Macht der Befreiung und Erlosung empfunden
wird. Das ist die Frage der Fragen und die Aufgabe der
Aufgaben, vor der alles andere zuriicktreten mufi. Bevor
man sich ihr energisch zuwendet, ist wirkliche Besserung
nicht zu erhoffen. Aber man predigt tauben Ohren, wenn
man diese Aufgabe stellt. Die einen wollen sie nicht horen,
weil sie uberhaupt bereits an der Kirche verzweifelt haben
und meinen, es bliebe nichts iibrig, als sie schonend fortvege-
tieren zu lassen oder sie zu zerstoren ; die anderen wollen die
bequemen Pfade, die sie bisher gewandelt sind, nicht lassen,
sie wollen nichts lernen; und die dritten, die Vorsichtigen,
meinen, dafi man an dem, was man besitze, nicht riitteln
diirfe, damit nicht alles einstiirzt. Dennoch darf man nicht
aufhoren, die evangelischen Kirchen vor die Forderung zu
stellen, ihr Bekenntnis, ihre Predigt und ihren Unterricht
nicht nach den Wiinschen des Tages — daran denkt nie-
Der evangelisch-soziale KongreB zu Berlin. 343
mand — , wohl aber nach den sicheren Erkenntnissen, die
wir gewonnen haben, zu korrigieren, damit dem evange-
lischen Christen im 19. Jahrlmndert die Kirche wiedemm
ein Q-ut werde und er mit Wahrheit und Ehrlichkeit an
ikrem Leben Anteil zn nehmen vermag. Im anderen Fall
ist alle Arbeit zwar nicht vollig umsonst, aber ein Not-
behelf, nur vom Tage zum Tage reichend. "Wem die Not
der Zeit auf der Seele brennt, wird sich freilich auch an
soldier Arbeit beteiligen, aber schweren Herzens und mit
unfreudigem Mut.
ADOLF HARNACK . REDEN UND AUFSATZE
S^ ZWEITER BAND - ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: VII
RITSCHL UND SEINE SCHULE
1897 Nr. 37 und 38.
GUSTAV ECKE
DIE TKEOLOGISCHE SCHULE ALBRECHT EITSCHLS UND
DIE EVANGELISCHE KIRCHE DEE GEGENWART. I. BD. 1897.
I.
Der Verfasser dieses Baches ist Pastor am evangelischen
Diakonissenhause in Bremen. Kaum in einer andern Stadt
unsres Vaterlandes fand man und fmdet man noch die ver-
schiednen kirchlichen und theologischen Bichtungen so
vollstandig vertreten wie in jener Reichsstadt. Vielleicht
auch an diesen Verhaltnissen hat Herr Ecke die vornehmste
Regel gelernt, die sich der Historiker zu stellen hat — un-
besteehliche Grerechtigkeit und Wahrheitsliebe , "Wahrheits-
liebe in jenem hohern Sinne, wie sie Groethe denniert hat:
wdafi man iiberall das Grute zu finden und zu schatzen
wisse." Die Grerechtigkeit hat seinen FleiJS gespornt und
ihn angeleitet, an keiner Aufierung voriiber zu gehen, die
den Gregenstand in ein helleres Licht zu setzen geeignet
schien. So ist ein Buch entstanden, das man aus verschied-
nen Grriinden zu den erfreulichen theologischen Arbeiten
der letzten Jahre zahlen darf. Noch mehr — man darf
dieses Werk als ein Friedenszeichen im Streit der Parteien
begriiBen. Mcht dem ehrlich Kampfenden predigt es Friede,
wohl aber zwingt ea jene giftigen und friedelosen Streitig-
keiten nieder, die von der Ignoranz, dem Fanatismus und
der Parteipolitik gefuhrt werden.
n.
Herr Ecke hat dariiber keinen Zweifel gelassen3 von
welchem Standort aus er Ritschl und die theologische
Schule E/itschls ins Auge fafit und beurteilt. Er ist vor
allem strenger Biblizist. An sich ist damit noch nichts
348 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VII.
gesagt; denn man kann Biblizist in vielfaltigem Sinne sein.
Er ist es in dem Sinne, den heute ein jecler kennt, der
sich mit der kirchlichen Gregenwart beschaftigt, der aber
nicht leicht zu definieren ist — ein milder Pietisnms ver-
scliwistert mit einer milden Orthodoxie, die fest auf die
flbiblischen Vorstellungen" halt, aber den kirchlichen Formu-
lierungen gegeniiber weitherzig ist. Der Komplex von
Grlaubenslehren, der sich. am Ende des neunzehnten Jahr-
hunderts allmahlich ergeben hat, wird von dem Verfasser
streng festgehalten und als ein untriiglicher Mafistab jedem
Urteil zugrunde gelegt.
Das ist nichts EigentumLich.es ; dennoch aber ist der
Verfasser unter seinen Gresinnungsgenossen ein Mann von
charaktervoller Eigenart. Er gehort zu den immer seltener
werdenden orthodoxen Theologen, die die Abhangig-
keit der theologischen Aussagen vom innern Leben der
Religion noch ins Auge fassen und daher fiir das "Werden
religioser und theologischer Uberzeugungen einen Sinn be-
sitzen, noch mehr — er wendet diese Erkenntnisse auch
an, wo es sich um die Deutung der theologischen Satze
der Gregner handelt. Ob ihm diese Methode, die seiner
Darstellung nnd Kritik Freiheit, Farbe und Elastizitat ver-
leiht, von seinen Freunden nicht bereits als ,,LiberalismTisu
angerechnet werden wird, weiC ich nicht, furchte es aber.
Sie taten ihm freilich bittres Unrecht damit; denn sie haben
keinen bessern nnd wiirdigern Kampfesgenossen als den
Verfasser dieses Werkes, und er gehort vor allem deshalb
ganz zu ihnen, weil ihm iiber die geschichtliche Richtigkeit
und Wahrheit seines 7,biblisch-apostolischen Grlaubens" nie-
mals ein Zweifel kommt. Der sonst so freie und umsichtige
Mann ist augenscheinlich davon iiberzeugt, dafi die Frage,
ob es iiberhaupt ein einheitliches biblisches Christentum
in dogmatischer Auspragung gibt, hochst iiberfliissig sei.
Er ist ebenso davon iiberzeugt, dafi die milde, pietistische
Orthodoxie sich mit dem Inhalt der heiligen Schriften ein-
Bitschl und seine Schule. 349
fach decke. Dennoch hat er ein trefflich.es und gerechtes
theologisches Buch geschrieben, und man fiihlt sich ihm
innerlich verwandt. Wie das moglich 1st, 1st schon gesagt
— well er weifi, was religiose Uberzeugungen sind, und
wie theologische G-edanken werden und wachsen.
ni.
Es sind hauptsachlich zwei Probleme, um deren Unter-
suchung es dem Verfasser zu tun gewesen ist. Erstlich
die theologische Individualitat Ritschls zu studieren und
aufzumerken , wo etwas von ihm zu lernen ist. Zweitens
festzustellen, in welchen Bichtungen sich die Schule Bitschls
bewegt, in welchen Punkten sie von dem Meister abweicht,
und wie diese Abweichungen zu beurteilen sind. Die zweite
Aufgabe ist meines "Wissens hier zum ersten Male gestellt
und bearbeitet; denn die umfangreiche Schmahschrift, die
Nippold geschrieben hat, wird vom Yerfasser mit Recht
der Vergessenheit uberlassen, in die sie gleich nach ihrem
Erscheinen verfallen ist. Er hat nur die Sache und ihre
innere Bewegung im Auge. In Wahrheit aber gestaltet sich
— zwischen den Zeilen, aber deutlich genug — seine Arbeit
zu einer Anklage gegen die landlaungen Gregner der von
Ritschl ausgegangnen Bewegung, also gegen seine eignen
theologischen G-esinnungsgenossen : sie haben sich einen
,,Bitschl" konstruiert, wie sie ihn sich wiinschten, und eine
^Hitschlsche Schule", wie sie weder je existiert hat, noch
existiert. Sie sehen nicht oder wollen nicht sehen, mit
welcher Freiheit die „ Schiller" dem Meister von Anfang
an zur Seite getreten, wie sie bemiiht gewesen sind, seine
Satze zu korrigieren, zu erweitern und zu erganzen, und
wie es — wenigstens unter denen, die offentlich aufgetreten
sind — einen Bitschlschen Dogmatiker strikter Observanz
niemals gegeben hat. Man kann freilich einwenden, dafi
die Pietat derer, die dankbar bekennen, von Bitschl gelernt
zu haben, dem gelehrten und dem kirchenpolitischen Pub-
350 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VII.
likum das Urteil iiber ihr Verhaltnis zu Kitsch! erschwert
hat. Hat doch z. B. Herrmann seinen Dank gegen Ritschl
stets dort am warmsten bekundet, wo er sich am ent-
schiedensten von ihm entfernte. Allein man schuldet einem
grofien Denker nicht nur die Gedanken, die man von ihm
iibernimmt, sondern vielleicht noch mehr die andern, in
denen man ilin erganzt oder ikm widerspricht; denn in der
geistigen Arbeit wie in der mechanischen kann man sich
nur auf das stiitzen, was Widerstand leistet. Auch kommt
es denen, die weiter arbeiten, nicht zu, die Summe ihrer
Arbeit in Vergleich zu setzen mit dem Kapitale, das sie
iiberliefert erhalten haben. "Wer das beurteilen will, mufl
die Buchhalter befragen, die freilich bisher unaufmerksam,
liiderlich und tendenzios die Biicher gefdhrt haben. Unser
Verfasser hat es besser gemacht, und er ist daher des Danks
aller sicher, denen es um geschichtliche Wahrheit zu tun ist.
In seinen Darlegungen hat sich Ecke lediglich auf das
dogmatische, ja das kirchlich-doginatische Gebiet beschrankt.
"Was Bitschl dariiber hinaus als Historiker geleistet hat,
was die, die zu seinen Schulern gerechnet werden, wissen-
schaftlich erarbeitet haben, das kiimmert ihn nicht. Diese
Beschrankung war gewiB gestattet: der Verfasser schreibt
als Diener der evangelischen Kirche und in ihrem Interesse;
er will seine Grenzen nicht iiberschreiten. Ein vollstandiges
Bild von der Lebensarbeit Ritschls und den Arbeiten seiner
Schule erhalt man freilich so nicht; aber es war auch nicht
beabsichtigt. Es handelt sich lediglich um das Verhaltnis
Ritschls und seiner Schiller zu dem ^kirchlichen" Glauben
der Gegenwart.
IV. '
Der Verfasser hat seinen Stoff in fiinf Kapitel zerlegt.
In dem ersten sucht er Bitschl nach seiner individuellen
Eigenart als Dogmatiker zu verstehen und zu wurdigen:
Er war in hohem Mafle befahigt, Probleme zu ent-
decken und in anregender Weise neu zu bearbeiten . . . Er
Bitschl und seine Sclmle. 351
ging vom Einzelnen aus und verstand es, durch sorgfaltige
Bearbeitung des geschichtliclien Stoffes grofle Gresichtspunkte
zu gewinnen. . . . Er baute, indem er kritisierte.
Fiir die bedeutsamste Kombination, die Ritschl vollzogen
hat, erklart der Verfasser die energisclie Verknupfung der
Tatsaclien des praktischen G-eisteslebens mit der geschicht-
lichen Offenbarung in der Person Christi unter scharfer
Zuriickweisung aller unberechtigten Anspriiche der theoreti-
schen Vernunft. Mit Recht stellt der Verfasser die theologi-
sche Methode Ritschls sehr hoch und behauptet, Ritschl
sei in seinen Ausfiihrungen iiber Fragen philosophischen
Inhalts weniger glucklich. gewesen als in den eigentlicli
theologischen Disziplinen. Alles, was der Verfasser sonst
noch ausfiihrt, namentlich der Nachweis, wie Ritschls dog-
matisches System in geradezu iiberraschender Weise den
Stempel seiner scharf gescnnittenen geistigen und sittlichen
Individualitat tragt, ist vortrefflich. beobacntet. Ebenso ist
der Hinweis auf das Streben Ritschls, die dogmatische
Terminologie zu vereinfachen, sehr beachtenswert. Endlich
wird der Verfasser das Richtige getroffen haben, wenn er
behauptet, dafi in Ritschl eine aufierordentlich kraftige
und in sich fest geschlossene , aber auch sehr einseitige
Individualitat unbewufit die Mafistabe fur die Gruppierung
und Verwendung der biblischen Aussagen geliefert hat.
Hier gedenkt er Ritschls scharfer Ablehnung des Pietismus
in jeder Form und sucht aus ihr die Schranken dieser
,,mannlichena Frommigkeit zu erklaren.
Die Kraft dieser Theologie — so fafit er sein Urteil
zusammen — ruht auf ihrer innern Wahrheit, auf der Uber-
einstimmung streng wissenschaftlicher Gredankenbildung mit
wirklich vorhandner praktischer Frommigkeit; ihre Schranke
liegt in der nur individuellen Auffassung des Christentums,
in der scharfen Zuriickweisung aller Erganzung und Ver-
tiefung durch anders geartete, in der christlichen Gremeinda
nicht nur heimatberechtigte, sondern auch hervorragend be-
352 Zweiter Band, zweite Abteilnng. Aufsatze: VII.
wahrte Frommigkeit. Der das gesamte theologische Leben
nnd Wirken Ritschls ansfiillende Kampf gegen den Pietis-
mus hat seiner ganzen Gredankenarbeit ein einseitiges Qeprage
gegeben, hat ihn an der ruhigen Entfaltung seiner prinzi-
piellen Grrundanschauungen gehindert, hat die Kraft seiner
guten Methode wesentlich geschwacht nnd die bedanerliche
Folge gehabt, daB die unleugbaren Verdienste, welche Kitschl
zuerkannt werden miissen, bis jetzt in kirchlichen Kreisen
nur geringe Wiirdigung gefunden haben.
,,Es ist Ritschl gerade das begegnet, was er durch
seine gate Methode vermeiden wollte" nnd, wie der Ver-
fasser meint, auch vermeiden konnte — statt eines all-
gemein giiltigen Ausdrucks bietet er „ individuelles Christen-
tum mit all seinen Schranken nnd Irrungen".
Ich vermag dem Meisten von dem zuznstimmen, was
der Verfasser Tiber Eitschls Eigenart in vortrefflicher Weise
ansgefdhrt hat, nnd glanbe doch nicht, daB sie hier voll-
standig in ihrer Tiefe nnd Einheitlichkeit, in ihren Zielen
und Ansgangspnnkten erfafit ist. Es sind, wenn ich recht
sehe, drei Momente, die man in den Vordergrnnd zn stellen
hat, die aber in innigstem Znsam m enhang stehen. Erstlich,
Ritschl wollte keine ,,Fragniententheologieu, sondern eine
straffe, einheitliche und geschlossene Ansehannng; was sich
in diese nicht fiigte, schlofl er riicksichtslos ans, zerbrach
es oder erklarte es fur ,,individuella. Lebt der Grlaube von
hellen und klaren Erkenntnissen — von der Erkenntnis
Grottes als des Vaters Jesu Christ! — , hat Jesus Christus
den Vater nicht verhiillt oder in ein mystisches Dunkel
geschoben, sondern offenbar gemacht, so mufi es moglich
sein, in klarer und befreiender Weise von ihm zu reden
und das Los und die Uberzeugung der Christenheit unter
einem solchen Grott zur Darstellung zu bringen. Zweitens,
Eitschl wollte, indein er eine helle Theologie, d. h. deut-
liche Grlaubensaussagen, verlangte, in keinem Sinne von der
^natiirlichen Theologie" etwas wissen, die er fur ein will-
Kitsch! und seine Schule. 353
kiirlich von der Philosophie abstrahiertes Kunstprodukt
erklarte, sondern er wollte sich ausschliefilich an die
G-eschichte halten. Ihr G-ebiet als Lehrmeisterin der
praktischen Weltanschauung suchte er, wie gegen die
Philosophie, so gegen die isolierte ,,innere Erfahrung"
abzugrenzen. Er dachte dabei nicht ausschlieMch an die
sogenannte heilige Greschichte, sondern neben dieser war
ihm der ganze Verlauf der Menschheitsgeschichte, die in
ihrem Kern Religionsgeschichte ist, der gegebne Stoff,
aus dem er schopfte. Endlich drittens — und das scheint
mir der Verfasser vor allem ubersehen zu haben — Ritschl
war protestantischer, d. h. antikatholischer Theologe von
einer Scharfe und Entschiedenheit, wie wir solche seit
Flacius, Chemnitz und den Tagen der altprotestantischen
Orthodoxie nicht mehr eiiebt haben. Hier liegt das eigent-
liche Q-eheimnis seiner Eigenart, Anziehungskraft und
Grofie. Sein Kampf gegen den Pietismus war nichts
andres als ein Kampf gegen den Katholizismus , und er
fiihrte diesen Kampf so energisch, weil er der Uber-
zeugung lebte, dafi nicht weniger als der ganze Protestan-
tismus auf dem Spiele stehe. Merkwiirdig, wie wenig ihn
seine pietistischen G-egner im Protestantismus verstanden
haben! Sie glaubten, er unterschatze den Pietismus; im
G-egenteil, er hielt ihn fur den einzigen Q-egner, mit dem
eine Auseinandersetzung kirchlich-theologischer Art not-
wendig sei, weil er ihn als Katholizismus in evangelischer
Drapierung beurteilte. Der reformatorische Kampf des
sechzehnten Jahrhunderts mufl fortgesetzt werden, nicht
um einige weitere unbegreifliche Dogmen los zu werden —
an solcher Befreiung lag ihm merkwiirdig wenig — , sondern
um in der evangelischen Kirche die Haltung, Stimmung
und G-esinnung zur Herrschaffc zu bringen, die ihm die
evangelische schien, und die der katholischen entgegen-
gesetzt sei. Vor dem Katholizismus, seiner Weite, Starke,
seiner in der Autoritat gegebnen Einheitlichkeit und der
Harnaek, Reden und Aufsatze. 2. Anfl. n. 23
354 Z welter Band, zweite Abteiltmg. Aufsatze: VH.
Eigenart seiner Frommigkeit hatte er den hochsten Re-
spekt; ihm gegeniiber erschien ihm der Protestantismus,
wie er heute lebt, fragmentarisch, buntscheckig, vielfach
haltlos und ohne sichere Orientierung. Aber er war noch
so altmodisch, an Konfessionen die Mafistabe wwahr und
falsch" anzulegen. Den Katholizismus hielt er fur falsch;
im Protestantismus sah er grundlegende und entscheidende
Momente der Wahrheit gegeben. Diese wollte er hervor-
ziehen, ihnen eine souverane Q-eltung verleihen und so
dem Protestantismus eine feste religiose G-esinnung und
Stimmung, eine helle G-laubenslehre und einen sichern
Zusammenhang mit dem aktiven Leben geben. In alien
diesen Beziehungen sollte er sich als die positive und ent-
schiedne Antithese zum Katholizismus offenbaren oder
richtiger als die scharf abgegrenzte hohere Stufe iiber ihm.
Die autoritative Einh.eitlich.keit des Katholizismus soil iiber-
boten werden durch die innere Einheit des protestantischen
Systems; die asketisch-kontemplative Frommigkeit soil ab-
gelost werden durch die tatige, und in der Kombination
des Rechtfertigungsglaubens mit dem Yorsehungsglauben
und der ,,christlichen Vollkommenheit im tatigen Leben"
soil sich die Einheit des geschichtlichen Grundes der
christlichen Religion mit ihrem fortwirkenden Leben dar-
stellen. In alien diesen Beziehungen erschien ihm der
Pietismus als der Feind. Mochten auch personliche Er-
lebnisse ihn mit zum Kampfe bestimmt haben — die letz-
ten Grriinde lagen tiefer. Er war uberzeugt, dafi der Pro
testantismus nur zu sich selber kommen und sich behaupten
werde, wenn er alles Katholische iiberwinde. Der Pietis
mus aber schien ihm als Lehre und Leben die Macht zu
sein, die den Protestantismus niederzwingt, ihn zu einer
bloBen Abart des Katholizismus von zweifelhaftem Existenz-
recht stempelt und ihn daran hindert, die Keimblatter
abzustofien und seine Bliiten zu entfalten. Eitschl wollte
eine neue, von Katholizismus und Pietisnms gereinigte,
Bitschl und seine Schule. 355
stramme protestantische Orthodoxie. Sie sollte wieder in
der Sitte leben, aber auch in der Gesinnung nnd in der
Tat. Dagegen sollten alle unruhigen, riihrenden und
schmelzenden Elemente ausgeschlossen sein. Er glanbte,
diese Form allgemein giiltig gefunden zu haben, nnd er
hiitete sie wie Flacius die seine.
Welch ein holies Ziel, und welch ein Idealismus! Der
feste Glaube an die Moglichkeit, eine streng einheitliche
Erkenntnis Gottes und der Welt zu gewinnen! Der Ver-
zicht auf die Philosophic zu gunsten der Geschichte! Die
Uberzeugung, dafi die Reformation des sechzehnten Jahr-
hunderts ein positives, unerschiitterliches Gut im Reiche
der Religion und des Gedankens gewonnen hat, das nur
rein entwickelt zu werden braucht, um den Katholizismus
herabzudriicken und auf ewig ins Unrecht zu setzen! In
dem Gefiige dieser Gedanken lebte Ritschl, das waren
seine Ziele, und jedes hohe und jedes herbe Wort, das er
gesprochen, ist von hier aus zu verstehen. Wer unter uns
lebt noch der vollen Zuversicht, die diesen grofien Theo-
logen beseelte? Wer getraut sich, die Gedanken so streng
antithetisch und so exklusiv zu entwickeln wie er? Wir
sind alle viel skeptischer und darum an den letzten Punkten,
wo es sich um das Leben der Frommigkeit selbst handelt,
viel konservativer als er, weil wir nicht wie er sicher sind,
jeden Abstrich reichlich ersetzen zu konnen. Aber wer
diesen theologischen Denker in seinen grundlegenden Aus-
fiihrungen und in den entscheidenden Schlufifolgerungen
verstanden hat, wie sie im dritten Bande seines Haupt-
werks und in der Einleitung zur Geschichte des Pietismus
enthalten sind, den lafit er nicht mehr los. In der Rich-
tung, die Ritschl gewiesen hat, liegt die Zukunft des
Protestantismus als Religion und als geistige Macht. Auch
das vorstehende Buch ist dafiir ein Beleg.
23*
356 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsfttze: VII.
V.
In dem zweiten Kapitel erortert der Verfasser wfremd-
artige Elemente in Ritschls Theologie". Ich halte diese
Unterscheidnng fur glncklich gewahlt nnd frnchtbar. Sie
enthalt als Voranssetzung die Anerkennung, dafl die Theo-
logie Ritschls im ganzen, d. h. in den Motiven nnd Zielen,
wirklich eine einheitliche ist, nnd sie ist anch dann be-
rechtigt, wenn sich ergeben sollte, daJS in den ^fremd-
artigen Elementen" vorziigliche Elemente stecken. Der
Verfasser ist freilich der Meinnng, daB sie samtlich minder-
wertig, ja haretisch oder doch bedenklich sind. Anf diese
Kontroverse ausfuhrlich einzugehen, ist hier nicht der Ort.
Sieben Gredankenreihen werden nns vom Verfasser als solche
bezeich.net, die Ritschl hatte ansschliefien miissen, statt sie
aufzunehmen.
Die erste ist jener Versnch, den christlichen G-edanken
von Grott als wissenscnaftlich notwendig nacnznweisen, den
E/itschl in der ersten Auflage nnternommen, dann aber
selbst zuriickgestellt hat. Die zweite sind gewisse Aus-
fiihrungen iiber die Personlichkeit Gottes, die ans spekula-
tiven Erwagungen nnter Anlehnung an Lotze fliefien. Als
firemdartige Elemente werden drittens die erkenntnistheo-
retischen Anfstellungen betrachtet, die zum Teil Kant, zum
Teil ebenfalls Lotze entlehnt sind. Besondres G-ewicht aber
legt Ecke viertens daranf, dafi Ritschl in entschiedner Ab-
weichung von seinen eignen offenbarungsglanbigen Vorans-
setzungen den biblischen Begriff des Zorns Q-ottes nicht
gelten lasse, beziehungsweise nmdeute, sich stranbe, Grottes
Wesen in die geschichtliche Entwicklung hineinzuziehen nnd
Grott wechselnden Stimmnngen zn nnterwerfen. Hiermit habe
er die ,,snpranatnraleZuruckhaltnng gegeniiber der metaphy-
sischen Spekulation" verlengnet, die ihn sonst von dem Ra-
tionalismns nnterscheide. Hier hat der Verfasser meines Er-
achtens in der Tat einen Punkt getroffen, in dem sich die
Eitschl und seine Schule. 357
Unhaltbarkeit des ,,reinen biblischen Offenbarungsglaubens",
wie ihn Ritschl proklamiert hat, erweist; allein Ritschl liat
stets eine Bedingung mit in den Ansatz gestellt, die er
freilich nicht deutlich genug geltend gemacht hat — nam-
lich die der Einheitlichkeit und Widerspruchslosigkeit der zu
gewinnenden Vorstellungen, aus der sich die Zuriickstellung
der niedern und ungefugen, beziehungsweise ihre Verweisung
aus dem Bereich theoretischer Vorstellungen von selbst ergibt.
Biblizist im strengen Sinne des Worts ist er nicht gewesen,
sondern er suchte das Neue Testament durch das Neue Testa
ment zu kritisieren und abzustufen. Ob er dann noch ein
Recht hatte, so souveran und siegesgewiB seinen theolo-
gischen Standpunkt von dem kritischen Biedermanns und
anderer abzugrenzen, ist eine Frage, die ich nicht bejahen
mochte. Andrerseits vermag ich nicht einzusehen, dafi
eine ,7dualistische" Betrachtung oder eine laxe Auffassung
entstehen soil, wenn der nZorn Gottes" als von Gott ver-
hangte Strafempfindung des Sunders aufgefaBt wird, namlich
als das Gesetz G-ottes iiber den Sunder. Getraut sich Ecke
wirklich, alles das in die Gotteslehre im strengen Sinne
des Worts aufzunehmen, was in der heiligen Schrift iiber
den zornigen Gott zu lesen steht? Umgekehrt aber — be-
halten diese Stellen nicht ihren Wert als notwendige Aus-
sagen des siindigenden Menschen iiber Gott?
Zu den fremdartigen Elementen in Eitschls Theologie
rechnet der Verfasser funftens gewisse christologische Aus-
fuhrungen, namlich alle diejenigen, in denen Bitschl die
Glaubigen an den Pradikaten Christi teil haben lafit. Doch
hat der Verfasser diesen Punkt, an dem Bitschl nicht ein-
mal den Bibelbuchstaben uberall gegen sich hat, so kurz
— eigentlich nur mit Befremden — behandelt, dafi er hier
auf sich beruhen kann.
Am ausfuhrlichsten sucht Ecke Bitschls Zuriickhaltung
in bezug auf die Frage nach der personlichen Gemeinschaft
der Glaubigen mit Christus als dem erhohten Herrn der
358 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: ^7TI.
Gemeinde und seine eigentumlichen Ausfuhrungen uber den
heiligen Geist als fremdartig nachzuweisen. Dort scheint
er mir zu iibersehen, daft Kitsch! die Religionslehre all-
gemeingultig ausbilden wollte — ob das moglich ist, ist
eine andre Frage; aber Ritschl hat jedenfalls vieles nicht
nur gelten lassen, sondern anerkannt, was er dock von
dem „ System" fern hielt — ; hier wird man dem Verfasser
in weitesten Kreisen einraumen, daft Hitschls Darlegungen
nnbefriedigend und, auch von seinen eignen Pramissen aus,
iiberraschend diirftig gewesen sind. Den Kanon aber, den
der Verfasser am Schluft dieses Kapitels gel tend macht:
7,Alle Ansspriiche Ritschls, die den supranaturalen Grund-
iiberzeugungen im "Wege stehen, miissen als widerspruchs-
volle nnd fremdartige Elemente in seinem System angesehen
und dementsprechend beseitigt werden," mochte ich ihm
nicht abstreiten, das heiftt: Ritschl selbst hat ihm das
Recht gegeben, so zu folgern. Allein Ritschls biblischer
Standpunkt war nicht geklart — hier war seine Achilles-
ferse — , und darum ist es doch nicht richtig, alles das als
^fremdartig" zu bezeichnen, was sich dem Biblizismus nicht
fiigt. Ritschl war heterodoxer, als es nach dem prokla-
mierten Ausgangspunkt seiner Theologie den Anschein hat.
In den Ausfuhrungen hat er selbst daruber keinen Zweifel
gelassen.
VI.
Der Verfasser unterbricht in dem umfangreichen dritten
Kapitel die Darstellung und Kritik der Ritschlschen Theo
logie, um eine ausfuhrliche Schilderung der Entstehung und
des Entwicklungsgangs der Ritschlschen Schule zu geben
(S. 67 — 130). Er unterscheidet drei Abschnitte, deren Gren-
zen die Jahre 1880 und 1889 bilden. Die Gelehrten, deren
Auftreten und Eigentumlichkeit er schildert, stehen mir
fast samtlich zu nahe, als daft ich es unternehmen diirfte,
iiber diesen Abschnitt zu berichten. Soviel aber sei gesagt,
Eitschl und seine Schule. 359
dafi der Verfasser auch hier lediglich von der Absicht ge-
leitet 1st, der Wahrheit zu dienen und Verstandnis zu er-
wecken. Was mich selbst anlangt, so 1st das, was der
Verfasser iiber mein Verhaltnis zu Bitschl bemerkt (iiber
meine von Bitschl abweichende Stellung zum Neuen Testa
ment und iiber die Erweiterung des religionsgeschichtlichen
und deshalb auch des systematischen Feldes), richtig. Audi
halte ich die scharfe Antithese gegen die katholische
Frommigkeit und Bitschls Versuch, die evangelisch-pro-
testantische Frommigkeit exklusiv gegeniiber der katho-
lischen zu formulieren, in der von Ritschl gegebnen Form
nicht fur haltbar. Eben deshalb teile ich auch nicht seine
Beurteilung des evangelischen Pietismus, fLn.de sie vielmehr
einseitig, eng und parteiisch, ohne zu verkennen, dafi Ritschl
in dem, was er als ,,christliche Vollkommenheit" formuliert,
den Nagel auf den Kopf getroifen hat. Aber diese ,,christ-
liche Vollkommenheit" lafit eine Reihe von Elementen zu,
ja fordert sie, die Ritschl als ,,pietistische" verworfen hat.
Dagegen muB ich es ablehnen, ,,in zielbewuBter Aktionu
den Apostolikumstreit heraufgefuhrt zu haben. Ich scheue
mich nicht vor dem Kampf, auch nicht vor dem kirchen-
politischen; aber niemand ist durch den Apostolikumstreit
mehr iiberrascht worden als ich selber. Nach allem, was
ich bereits veroffentlicht hatte, konnte ich nicht ahnen, dafi
eine wohl erwogne und mafivolle Kritik des Apostolikums,
iiber die niemand sich wundern durfte, der meine Schriften
kannte, als Feuerzeichen in der Kirche aufgepflanzt werden
wiirde. Es ware auch schwerlich geschehen, wenn nicht
die kirchenpolitische Lage - — Ablehnung des Schulgesetzes
— der von Herrn von Hammerstein geleiteten Partei
einen Kampf gegen den 7,Liberalismus" auf offner Szene
damals wiinschenswert gemacht hatte. Dazu sollte es mir
vergolten werden, dafi ich iiberhaupt nach Berlin gekommen
war. Endlich, ich selbst war auf dem Berliner Boden ein
Neuling und wuOte nicht, auf welcher negativen Hohe
360 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VII.
ich in den Augen meiner Qegner stand, und wie meine
Aufierungen belauert wurden. Wenn ich eine ,,zielbewuOte
Aktion" hatte unternehmen wollen, so ware ich nicht so
unvorsichtig und so geschmacklos gewesen, bei der Lehre von
der Greburt aus der Jungfrau einzusetzen, iiber die auf
dem Markte zu streiten anstofiig und hafilich ist. Auch
die Behauptung Eckes mufi ich zuriickweisen, ich hatte
wiederholt durch unvorsichtige Formulierungen den Gegen-
satz zu meinen kirchlichen Gregnern verscharffc. Formulie
rungen, die in ihren Grenzen betrachtet sein wollten, wur
den vom Reichsboten und andern Blattern zu 7,Pronuncia-
mentos" gestempelt, in denen ich angeblich den ganzeri
christlichen Glauben hatte aussprechen wollen. Ich habe
zu diesen aus Unkenntnis und Furcht gebornen, immer
neuen Angriffen bisher stets geschwiegen. Einem so ach-
tungswerten Gregner wie dem Verfasser gegenuber luhle
ich mich aber verpflichtet, darauf hinzuweisen, dafi meine
theologische Schriffcstellerei so umfangreich ist, dafi ich es
mir verbitten darf, nach einzelnen Satzen, die aus einem
Vortrage herausgerissen werden, auf Soil und Haben be-
urteilt zu werden. Wir wollen unsre theologischen Kampfe
doch nicht auf der Stufe der Journalistik fuhren, wo nur
das gilt, was gestern gesagt worden ist, fur die keine
Biicher existieren, sondern nur Vortrage und Ausspriiche,
7,aus denen sich etwas machen lafit". Eben weil der Ver
fasser diesen Krebsschaden kennt und an seinem Teile ehr-
lich und mit Erfolg bemuht gewesen ist, ihn auszuschneiden,
darf ich ihn bitten, sich noch energischer aus den Schlingen
der kirchlichen Tagesmeinungen zu befreien. Uber unser
aller Haupten schwebt diese unheimliche Macht:
Mich angstet das Verfangliche
Im widrigen G-eschwatz,
Und mich befallt das bangliche,
Das grau gestrickte Netz.
Ritschl und seine Schule. 361
VII.
In dem vierten Kapitel (S. 131 — 241) und dem funften,
das den Schlufl (S. 242—318) bildet, liegt der Schwerpunkt
des Buches. In jenem untersucht der Verfasser ,,den Wahr-
heitsgehalt der Ritschlschen Theologie". Es ist wirklich
eine kirchliche Tat des Verfassers, dafi er in ausfiihrlicher
Darstellung seinen Gesinnungsgenossen einmal vorgefohrt
hat, was sie Ritschl verdanken. Was man Gotts chick,
Herrmann und Kaftan nicht glauben wollte, wird man
vielleicht dem Prediger am evangelischen Diakonissenhause
in Bremen einraumen. In drei grofien Abschnitten legt
Ecke den ^Wahrheitsgehalt der Bitschlschen Theologie"
dar. Er handelt erstlich von der Bedeutung der neuen
Methode fur die wissenschaftliche Behandlung der Glaubens-
lehre, sodann von der :,erfolgreichen Bekampfung des speku-
lativen Rationalismus" durch Ritschl, endlich - - und das
ist das hellste Zeugnis fur die Einsicht des Verfassers —
von Bitschls berechtigter Kritik ungesunder Frommigkeit.
Es wiirde zu tief in theologische Fragen fiihren, wollte
ich hier ein kritisches Referat geben liber die Gredankeii-
reihen, in denen Ecke eine entscheidende Forderung der
Behandlung der Grlaubenslehre bei Ritschl erkennt. Die
Art, wie Ritschl die GrroCen Jesus Christus, Siindenverge-
bung, Gremeinde als Ausgangspunkte verwertet, wird vom
Verfasser anerkannt und als ein Fortschritt geschatzt.
Wenn er aber (S. 147) bemerkt, es mlisse das Charisma
dieser theologischen Richtung fur die Losung der apologe-
tischen Aufgaben der christlichen Gemeinde anerkannt
werden, so furchte ich, dafi die Geschichte der Gregenwart
und Zukunft ihm nicht recht geben wird. Ritschl hat
seine Theologie ^vom Standpunkt der Gemeinde" entworfen
und deshalb eine groJBe Anzahl entscheidender Vorfragen
einfach zur Seite geschoben. Wer sich von ihm in die
Theologie einfdhren lafit, der wird - - namontlich wenn er
362 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VIE.
sich schon jahrelang mit der Apologetik abgemuht liat —
zunachst gewifi den befreienden Eindruck erhalten, dafi er
einer Fiille lastender Fragen nun gliicklich entronnen ist
und sich. in einem eignen Hause heimisch machen darf.
Aber es wird nicht lange dauern, so wird er den Grund
nnd Boden untersuchen miissen, auf dem das Haus steht,
und den Besitztitel zu prufen anfangen. Die alien apolo-
getischen Hauptfragen werden sich wieder einstellen, die
Ritschl mundtot gemacht zu haben glaubte. So ist es schon
manchem ergangen, wahrend umgekehrt von einer bedeuten-
den apologetischen Wirkung der Eitschlschen Theologie in
weitern Kreisen meines Erachtens wenig zu spiiren ist.
Diese Theologie hat uberall — das zeigt die G-eschichte
ihrer Verbreitung, und das ist auch dem Verfasser nicht
entgangen - - die Orthodoxie der fiinfziger Jahre unsers
Jahrhunderts zu ihrer Voraussetzung, und sie hat auf solche
entscheidend gewirkt, die mit der Orthodoxie in der An-
erkennung des absoluten Charakters des Christentums einig
waren und blieben, aber sonst die Fesseln dieser Denkweise
driickend empfanden. Dennoch will ich nicht verkennen,
dafl uberall dort, wo ein gewisser Skeptizismus in bezug
auf das theoretische Welterkennen herrschend geworden
ist, die Ritschlsche Theologie als das geistige Komplement
zu einer gern festgehaltenen Kircnlichkeit Dienste leisten
kann.
Was dann Ecke in Hinsicht auf die Uberlegenheit des
Hitschlschen Standpunktes gegeniiber dem modernen Ratio-
nalismus ausfuhrt, liest man mit besonderm Interesse.
Endlich einmal erkennt die Orthodoxie an, was einst gewifi
als die Hauptwirkung der Ritschlschen Theologie in den
Annalen der protestantischen Kirchengeschichte verzeicnnet
stehen wird: Ritschl hat den spekulativen Rationalismus
innerhalb der evangelischen Theologie, der sich als das
gelauterte Christentum gab, besiegt — besiegt zunachst
in dem Sinne, in dem in der Greschichte vorlaufige Siege
Ritschl und seine Schule. 363
erstritten werden: er hat ihn von der Biihne verdrangt.
An sechs Punkten zeigt der Verfasser sehr geschickt und
eindrucksvoll die Uberlegenheit der Ritschlschen Aus-
fiilirungen (Siindenvergebung, Identitat der Person Christi
und des nlleilsprinzipsu, christliche G-emeinde, Lehre von
der Siinde und Schuld, Wunderfrage, Theismus). Ich wiirde
aber vor allem hervorheben, dafi die Eitschlsche Theologie
durch das hohere Mafi geschichtlicher Einsicht den spekula-
tiven Rationalismus , der zogernd auf die wirkliche G-e-
schichte einging, iiberwunden hat. Aber man darf es nicht
verschweigen, der Zug der Zeit kam ihr zu Hilfe, und der
spekulative Rationalismus ist demgemafi selbst in einer
Umbildung begrrffen. "Wenn er sich die G-eschichte ange-
eignet hat — in einem andern Sinn, als Biedermann es
getan — , wenn er zunachst lauschend und lernend den
ganzen Reichtuin geschichtlicher Wirklichkeit und indivi-
dueller Eigenart in sich aufgenommen hat, dann wird er,
das steht auGer jedem Zweifel, mit sieben Geistern zuriick-
kehren, und es werden keine Teufel sein, sondern starke
und lichte Greister. Dann wird noch einmal ein heiGer
Kampf beginnen, und wenn sich die Ritschlsche Betrachtung
der Dinge bis dahin nicht erweitert und nicht ihren ex-
klusiven Offenbarungsstandpunkt okumenischer gestaltet
hat — auch das nur Relative ist wertvoll, und unter der-
selben Sonne liegen verschiedne Zonen — , wird sie einen
schweren Stand haben. Das, was man mit Ecke ^spekula-
tiven Rationalismus" nennen kann, mufi doch in sich wieder
unterschieden werden. Als zeitgeschichtliche Erscheinung,
die G-eschichte destillierend und ihr bestes Teil wegdestillie-
rend, ist er abgetan. Aber wenn wir uber die G-eschichte
in ihren grofien Ziigen nachdenken und aus ihr etwas bauen
wollen, sind wir, offenbarungsglaubig oder nicht, doch alle
spekulative Rationalisten — kundige oder unkundige, und
wiederum bescheidne, verschamte oder unverschamte; denn
es gibt unter den Denkenden keine andern Rassen. In
364 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VII
einem aber wird BitscKl siegreich bleiben, und unvergessen
wird seine Arbeit gegeniiber dem spekulativen Rationalis-
mus alter Art sein: das ist sein Theismus oder, urn dies
hafiliche Fremdwort gut deutsch zu ersetzen, sein Zeugnis
vom lebendigen Grott, der nicht mit der Natur verfLochten
ist, und der Greister erschafft und befreit, damit sie ihn
erkennen und sich zu ihm erhebeii. Aber auch das andre
wird bleiben, dafi es keinen Grattungsbegriff, sei es der des
Reformators , Propheten, Religions stifters usw. gibt, unter
den man Jesus Christus subsumieren darf. Es gibt vieler-
lei Offenbarungen, aber fur uns gibt es nur einen Meister
und Herrn.
Dem, was der Verfasser endlich iiber Ritschls berechtigte
Kritik ungesunder Frommigkeit ausfuhrt, stimme ich ganz
wesentlich bei. Die Darlegungen zeigen so viel Mafi und
Urteil , dafi ihre Lektiire besondere Freude erweckt.
Auch darin hat der Verfasser recht, daB Ritschl manches
als ungesund bezeichnet hat, was eine zuriickhalten-
dere Kritik verdiente, und dafi in der Hitze des Grefechts
der pietistischen Orthodoxie Frommigkeitsmethoden und
-anschauungen aufgebiirdet worden sind, die hochstens diesen
oder jenen einzelnen treffen. Fines aber trifft die ganze
groUe Grruppe, und sie kann sich dieser Verantwortung
nicht entziehen — das ist die niedrige, schlechte, dazu
immer noch von kirchenpolitischen Absichten beeinnufite,
kenntnislose journalistische Vertretung, die sie sich gefallen
laCt. Dazu kommt speziell in Preufien die vollkommne
Vernechtung der kirclilich-,,positiven" Interessen mit denen
einer bestimmten Grruppe der konservativen Partei, die sich
auch freiere Greister aus taktischen Griinden gefallen lassen.
Bevor das nicht anders wird, ist jeder ehrliche theologische
Kampf immer schon im voraus vergiftet, und die Entkirch-
lichung wird immer grower werden. In das Kapitel von
der ,,berechtigten Kritik ungesunder Frommigkeit" gehort
dieser Tatbestand vor allem; aber der Verfasser ist in
Bitschl und seine Schule. 365
Bremen wohl in der beneidenswerten Lage, ihn nicht oder
doch weniger zu empfmden.
VIII.
Im Schluflkapitel liegt der muhsamste und originellste
Teil der Arbeit des Verfassers. Er hat es iiberschrieben :
7,Beachtenswerte Versuche zu einer Umgestaltung der Theo-
logie Bitschls in Annaherung an das unverkiirzte biblisch-
reformatorische Bekenntnis". Dafl es anch eine Ritschlsche
Linke und unechte „ Schiller" gibt, hat der Verfasser be-
reits an verschiednen Stellen der fruhern Kapitel zum Aus-
druck gebracht und die Richtung charakterisiert, in der
sie sich bewegen. In diesem Kapitel ist es ihm einzig
darum zu tun, zu zeigen, dafi an den wichtigsten dog-
matischen Punkten innerhalb der Ritschlschen Schule Um-
gestaltungen hervorgetreten sind, die als bedeutende An
naherung oder sogar als E/iickkehr zum positiven Bekennt-
nis betrachtet werden miissen. Auf Grund einer fast liicken-
losen Kenntnis der Sache weist der Verfasser an der Lehre
von der Siinde, weiter an den Lehren vom Werk Christi
(stellvertretendes Strafleiden), von der Grottheit Christi (Pra-
existenz), vom heiligen Greist und vom Grebet den "Wan-
del der Dinge auf. In erster Linie steht ihm hier uberall
Haring, der in den Augen des Verfassers die Schranken
Bitschls geradezu uberall iiberwunden und die Methode
des Meisters mit dem ,5unverkiirzten biblisch - reformato-
rischen Bekenntnis" versohnt hat. Sehr nahe kommen ihm
Bornemann, Kattenbusch, Loofs. Auch Herrmann
und Kaftan stehen bei dieser Grruppe; aber der Verfasser
mufi doch urteilen, dafi ihre Orthodoxie der Harings nach-
steht, soviel Sympathie er auch diesen Dogmatikern, nament-
lich Herrmann, entgegenbringt. Heischle steht bereits et-
was entfernter, und noch mehr Gottschick. Aber auch bei
ihnen weist der Verfasser bedeutende Modifikationen der
Eitschlschen Theologie im biblisch-positiven Sinne nach,
366 Zweiter Band, zweite Abteilung. Aufsatze: VII.
ebenso bei Rade, Lobstein, Scholz und Drews. In
den Schriften des Referenten endlich findet er ebenfalls
einige Merkinale solcher.
Vielleicht halt der eine oder der andre Leser eine
solche Priifung fur kleinlich oder gar ungehorig. Er tate
dem Verfasser damit Unrecht. Dieser ist nicht nur von
seinem Standpunkt durchans befagt so zu untersuchen und
zu urteilen — wer einen sichern MaJSstab zu haben glaubt,
soil ihn anwenden — , sondern auch die Sache selbst for-
dert eine solche Priifung. Noch mehr: Ecke hat, soviel
ich sehe, auch materiel! wesentlich Recht. Ohne in den
Fehler zu verfallen, die Entwicklung der Ritschlschen Theo-
logie in rosigem Lichte zu sehen, hat er nur konstatiert,
was dem Tatbestande entspricht, dafi namlich die genann-
ten Theologen wirklich in den erorterten wichtigen Punkten
der gemein-kirchlichen Lehre naher stehen als Ritschl selbst
und ihn zum Teil so korrigiert haben, daJS das "Wort
,,Korrekturu viel zu schwach ist.
Wenn dem so ist, was bedarf es noch eines Kampfes?
Mufi der Yerfasser nicht mit dem Urteile schliefien, seine
Freunde sollten, statt sich iiber diese E-itschlianer zu er-
regen, vielmehr ruhig abwarten; denn diese seien auf dem
besten Wege, langsam aber sicher zu ihnen zuriickzukehren.
Hat er nicht Ursache, mit dem trostreichen Urteil zu
schliefien: diese Ritschlianer haben nicht nur religiose Po-
sitionen, die Ritschl aufgegeben hatte, wieder aufgenommen,
sondern sie lassen sogar unter der Hand scholastische
Fragen wieder zu und sprengen die Mauer, die Ritschl um
das gezogen hat, was gewufit werden kann?
Er schlieflt nicht so, und er hat seine guten Q-riinde
dafur. Nicht nur, weil neben den altern Schulern eine
Grruppe aufgetaucht ist, die ihm viel unsympathischer ist
als der Meister, und gegen die sich die altere doch nicht
sicher abgrenzt, sondern vor allem weil er bei alien Ritschl
schen Schulern (mit Ausnahme Harings?) etwas vermifit,
Eitschl und seine Schule. 367
was ihm die Hauptsache 1st. Sie alle schatzen wie Ritschl
die Bibel ,,nur" um ihrer geschichtlichen Urspriinglichkeit
willen als Quelle fur die christliclie Glaubenslehre und
,,wollen ilir die Autoritat ans Offenbarung nicht zuge-
stehen". ,5Fur die christliche Gemeinde aber",fiigt er hinzu,
,,hat das Zeugnis des Christum verklarenden Parakleten
Offenbarungswert." Es handelt sich, kurz gesagt, um das
Inspirationsdogma und demgemafl um die Unterwerfung
des Dogmatikers unter jede Schriftlehre, oder, wie Ecke
euphemistisch sagt, unter das apostolische Bekenntnis von
Christus. Gemeint aber ist die Bereitschaft (s. d. Aus-
fiihrung S. 314), alle Schriftlehren anzuerkennen , nirgend-
wo ein Non liquet auszusprechen , zeitgeschichtliche und
relative Betrachtungen einfach. auszuschlieJlen und die histo-
rische Kritik abzudanken.
Mit vollem Recht erkennt der Verfasser, dafi Ritschl
trotz seines starken Biblizismus doch so nicht gesonnen
war, und daB seine Schuler, auch die konservativsten, so
nicht denken. Ja der Verfasser miifite geradezu das Para-
doxon konstatieren — das doch keines ist — , dafi der Ein-
fhifl der historisch-kritischen und religionsgeschichtlicheii
Betrachtung der Bibel iiber E/itschl hinaus auch bei solcheii
im Steigen begriffen ist, die materiell an wichtigen Lehr-
punkten der iiberlieferten Auf fas sung naher stehen oder
ihr doch mehr abzugewinnen vermogen als Bitschl.
Das Dogma vom Neuen Testament, wie es nicht ohne
Grund genannt worden ist, wird in der wissenschaftlichen
Theologie im Sinne der exklusiven Inspirationslehre nicht
mehr wieder aufleben, im Gegenteil, es wird in der Zu-
kunft noch sichrer durch die geschichtliche Betrachtung
abgelost werden. "Wenn der Verfasser hier auf allmahliches
Entgegenkommen hofft, so hofft er, wenn nicht alles triigt,
vergeblich. Aber das schliefit keineswegs die Zuversicht aus,
dafi man, in der Sache fortschreitend, den neutestamentlichen
Formen und Ausdrucksmitteln des christlichen Glaubens ein
368 Zweiter Band, zweite Abteihing. Aufsatze: VII.
groBeres Verstandnis entgegenbringen wird, als Bitschl ein
solches moglich war. Vielleicht wird die Weise, in der das
gesch.eh.en wird, den Verfasser nicht ganz befriedigen; denn
anders nimmt sich das aus, was sich als Darlegung des In-
halts einer absoluten Urknnde gibt, anders was der wirk-
lichen Greschichte als nachzuempfindendes Leben nnd wirk-
same Kraft entstromt. Aber der Verfasser kennt selbst
diese Quelle sehr wohl; er scheut sich nur, sie rein fliefien
zn lassen, iind er will jene andre Methode nicht aufgeben,
weil nur sie direkt aus dem Greschichtlichen ins Allgemein-
gultige nnd Dogmatische fiihrt, d. h. zum Grlaubensgesetz.
— Freuen wir uns unterdessen, dafi, wie der Verfasser ge-
zeigt hat, es doch in der protestantischen Theologie so
vieles gibt, in dem wir uns zusammenfinden. Vielleicht
diirfen wir auch hoffen, dafi Ecke, wenn er einst die Ar
beit der neuern historischen Theologie ebenso unbefangen
prlifen wird wie die der systematischen, auch sein Urteil
iiber die ihm jetzt so antipathischen Bemiihungen der ge-
schichtlich arbeitenden Theologen modifizieren wird. Fehler,
auch schwere Fehler, werden hier gewifi noch gemacht,
und hin und her werden 7,Erklarungen" dargeboten, die
nur verdunkeln; aber von solchen Schwankungen, wie sie
die systematische Theologie noch immer befallen, wird die
historische nicht mehr betroffen werden.
ADOLF HARNACK - REDEN UND AUFSATZE
ZWEITER BAND • ZWEITE ABTEILUNG
AUFSATZE: VIII
UBER WISSENSCHAFT UND RELIGION
ANGEEIGNETES UND ERLEBTES
Anonym erschienen in der ,,Christlichen Welt" 1895 Nrn. 1 u. 3.
Unser Wissen ist Stiickwerk — das helOt nicht, dafl
wir nicht alles wissen, sondern daB sich die sichersten
Erfahrungen nicht in eine Einheit bringen lassen.
# *
*
Es ist eine paradoxe Einrichtung, daB dem, der der
Wissenschaft dienen soil, zugleich zugenmtet wird, den je-
weiligen Zustand der Dinge iiberall zu stiitzen und hoch-
stens auf eine schrittweise Verbesserung der allgemeinen
Ordnungen bedaclit zu sein. Wissenschaft und Kultur
liegen an vielen Stellen weit auseinander, und an manchen
wird man die Briicken erst nach Menschenaltern schlagen.
Die Wissenschaft kann keine Hucksichten nehmen, keine
Kompromisse schliefien; sie kann vor allem nicht davon
lassen, die Entstehung der Dinge und der Werte zu unter-
suchen. Die Kultur aber hat Rucksichten und Kompro
misse notig, und sie darf ihre eignen Urspriinge nur durch
einen Schleier schauen lassen. Hatte man erst heute das
Verhaltnis beider zu ordnen, so wiirde man vielleicht die
Pflege der Kultur hochgebildeten Journalisten zuweiseii,
die Wissenschaft aber ins Kloster stecken.
Je mehr unsre Einsicht in die Relativitat der Dinge
wachst, desto grofier wird unsre Verantwortlichkeit.
Ein festes Verhaltnis zu den hochsten Fragen kann
man nur durch unablassige Arbeit an sich selber ge-
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B72 Z welter Band, zweite Abteihmg. Aufsatze: VIII.
winnen - - aber im heutigen Betriebe der Wissenschaft
spiegelt sich diese Wahrheit nur selten.
DaB die Wissenschaft umkehren soil, 1st freilicli ein
Loses Wort; aber wie viele Verkehrtheiten setzen sicli in
ihr fest! Ganze Generationen von Gelehrten krankeln an
ilmen und erzeugen noch schwachere Nachkommen. Sollte
die Wissenschaft das einzige menschliche Gebilde sein, das
sich einer unverwiistlichen Gesundheit erfrent? Nicht wenige
sinrl so gedankenlos, das zu glauben.
Die Wissenschaft kann sich nnr selber helfen, das ist
gewifl; ihr aber deshalb ewige Gesundheit beizulegen, ist
eine merkwiirdige Verwechslung.
Wer die Wissenschaft lediglich nach Analogie, wie
ein gi-ofier Meister es vorgeniacht, betreibt, vermag sie zu
fordern; aber sich selbst fordert er nicht, nnd bald wird
er an einen Punkt kommen, wo er auch der Wissenschaft
nicht mehr niitzt, sondern sie schadigt.
Dafi die Wissenschaft heute zur Bildung des Charakters,
zur Erweckung einer edeln Gesinnung und zur Erzeugung
einer festen Weltanschauung so wenig geeignet ist, ist
wohl begreiflich. Uberall werden nur die Anfange der
Dinge studiert; der Naturforscher bleibt bei den Protozoen,
der Psychologe bei den niedersten psychischen Vorgangen,
der Sprachforscher bei den Lauten, der E tinker bei den
primitivsten Stufen des Sittlichen, der Heligionshistoriker
bei den rohesten Formen des Glaubens stehen, und der
Histoiiker wird wieder zuni Annalisten, wenn er es iiber-
haupt so weit bringt. Der Weg von dem, was jetzt wissen-
(Jber Wissenschaft und Religion. 373
schaftlich behandelt wird, zu dem, was dem Leben Halt
und Kraft verleiht, ist so weit, dafi die Gelehrten das Zu-
trauen, ihn bis zum Ende schreiten zu konnen, verlieren
und damit das Ziel selbst preisgeben.
Soil man die genetisehe Methode deswegen verab-
schieden? Gewifi nicht. Aber den Mut soil man wieder
gewinnen, neben ihr die Dinge und Werte, in denen und
von denen wir heute leben, bestimmt ins Auge zu fassen
und genau zu beschreiben. Wer diese uns deutlich macht,
leistet uns einen groBern Dienst als der, der uns ihre Aii-
fange werklart".
Die Entstehung der Dinge Mart uns nicht liber unsre
Giiter und unsre Pflicliten auf.
Beschreiben ist schwerer als erklaren.
Auch die Wissenschaft hat ihre Stufen: je sicherer sie
zu erklaren vermag, je mindei*wertiger ist ihr Objekt.
Im Altertume zweifelte man, ob die ,,Spezialisten" in
die Gelehrtenrepublik gehoren; heute sind sie die Meister,
und die andern mogen zusehen, wie sie ihren Platz be-
haupten.
* *
#
Die absolut gewordne Theorie des Geschichtschreibers
nimmt sich alle Fr^iheiten der Kunst.
374 Z welter Band, zweite Abtoilung. Aufsatze: VIII.
Die Geschichte vertragt keine Extrakte; wer aus ihr
etwas lernen will, mufi sie bis zum letzten Punkt studieren.
Wo einer versteht, da meistert er alsogleich.
* *
*
Jeder Gedanke hat eine physiologische , eine patho-
logische und eine dialektische Seite.
* *
*
Bildung ist wiedergewonnene Naivitat. Hort! Hort!
* *
*
Das Genie ist der Fleifi, sagt der eine; das Genie ist
die Fahigkeit, die Dinge zu sehen, wie sie sind, sagt der
andre. Sie widersprechen sich nicht; denn wer die Dinge
sieht, wie sie sind, der hat keine Ruhe: er mufi immer
mehr und immer tiefer sehen.
Eine Theologie, die die Geschafte der Philosophie be-
treibt, verdirbt damit ihre eigne Aufgabe; eine Theologie,
die die Philosophie entbehren zu konnen meint, wird zur
Geheimwissenschaffc und also eindruckslos.
Die Theologie mufi heute die Wissenschaffc sein, die
die christliche Religion von der Wissenschaft befreit -
aus der Paradoxie dieser Aufgabe entspringt der grofite
Teil der Schwierigkeiten, die sie belasten.
Dem Theologen kommt der Sinn fur das Einfache und
darum fur das Wahre leicht abhanden, weil er sich erst
tfber Wissenschaft und Religion. 375
durch ein Gestriipp kimstlicher Probleme durchschlagen
mufl, bis er zur einfachen Fragestellung vordringt. Auf
dem langen Wege bis dorthiii sind die Knie matt und
der Kopf ist blutleer geworden.
In jeder geschichtlichen Uberlieferung ist ein Stuck
Wahrheit enthalten; man mufi es nur finden konnen; es
liegt gewohnlich nicht dort, wo man es sucht, sondern
tiefer.
* #
*
Der Theologe hat die Aufgabe, die tiefen Wahrheiten
klar zu legen, die in den Wurzeln allgemein giiltiger
Formeln verborgen ist; aber die kleinen und die groflen
Kinder greifen nur nach den Friichten.
Bei den Theologen stehen immer Q-laube, Freiheit und
innere Ehre auf dem Spiel — mit so hohen Einsatzen
spielen die andern nicht, und ich rate keinem, es mit
ihnen zu wagen, der nicht weifi, dafi er ein unzerstorbares
Kapital besitzt.
Dafi der Protestantismus zurzeit aus der doktrinaren
Epoche heraustritt, ist offenbar. Ihn schauert aber noch
vor dem Ernste der Aufgabe, die nun seiner wartet. Um
ihr zu entfliehen, wird er vielleicht eine Art Katholizismus
werden, ohne den Buchstaben der Augustana zu verletzen.
Jede Zumutung, die in der Uberlieferung der christ-
lichen Religion ausschliefilich an den Verstand gestellt wird,
376 Z welter Band, zweite Abteilung. Anfyatze: VIII.
lahmt die ernsten Forderungen, die diese Religion an den
Willen und die Gesinnung richtet. Durch das Sacrificium
intellectus kaufen sich viele von dem Gebote frei, ihr
Fleisch zu kreuzigen samt den Liisten und Begierden.
Es gibt ganz absurde religiose Lehren, die preiszugeben
nicht ohne Gefahr ist, weil sie Gewissenhaftigkeit, Demnt
und zarte Empfindungen hervorgerufen haben oder diese
Tugenden sich doch an ihnen aufrankten wie die Rebe
am Holze.
Wenn der Mensch auch nicht mehr das Bedurfnis be-
sitzt zu glauben, so hat er doch das Bediirfnis bewahrt,
so zu fiihlen, wie in den Zeiten, da er glaubte - - sagt ein
feinsinniger Franzose; aber tiefer und freudiger bekennt
ein Deutscher: Trotz aller Zweifel des Verstandes bleibe
die Religion unverriickt in den Herzen der Christen, die
ein inneres Gefuhl von dem Wahrhaften derselben haben.
Gar mancher glaubt nicht mehr, und weifi es doch
selbst nicht: er ist nur noch der Polterer oder der Sophist
seines fruhern Glaubens.
,,Eiiosung" ist in unsrer heutigen Gesellschaft kein
hoffahiges Wort mehr, sie will hochstens etwas ,,Religios-
Sittliches" horen; aber im stillen trachtet ein jeder nach
Erlosung, sei es auch nur durch Betaubung.
Das ist die rechte Erlosung, die uns zerschlagt und
aufrichtet. Der Mensch findet sein hoheres Selbst nur in
tlber Wissenschaft und Eeligion. 377
einem Hoheren, dem er sich ganz hingibt, seine Freiheit
nur in dem gebieterischen Mufl der Liebe. Amor dei
beata necessitas boni — damit 1st alles gesagt.
* *
Krafte und Kriicken kommen aus einer Hand.
Sobald die feierlichen Fragen des Gewissens und der
Religion auf dem 6'ffentlichen Markte auftauchen, sammelt
sich noch immer alles um sie; aber dafl man sich ihnen
mit reinen Handen nahen mnfl, daran denken die wenigsten.
Quieta non movere 1st, wie ein grofier Staatsmann ge
sagt hat, eine wichtige diplomatische Maxime, und alle
unsre Kirchenpolitiker handeln nach ihr. Sie sind die ge-
borenen Gegner jeder Reform; sie tun recht daran, sie sich
abzwingeri zu lassen.
* *
*
Die Zionswachter fallen zu alien Zeiten ohne Uber-
gang aus dem unendlich Grofien in das unendlich Elleine,
aus der Liebe in den Hafi.
Auch in dem Fanatismus und selbst in der Verleum-
dung soil man den Eifer um ein heiliges Gut zu finden
suchen. Aber es ist nicht immer leicht, sich mit Liebe
oder doch gutem Humor aus dem neunzehnten ins drei-
zehnte Jahrhundert zu versetzen und dem Gegner das bene-
ficium traditionis zuzuerkennen.
378 Z welter Band, zweite Abteilung. Aufsfttze: VIII.
Aus einem erkannten Irrtum vermag keine Anstrengung
des Willens Nahrung zu ziehen.
Die Dinge haben ihre eigne Logik — was hilft es
dir, rastlos dem Mittag zuzuschreiten, wenn die Scholle,
die du ahnungslos betreten hast, gen Mitternacht treibt?
Historia non facit saltum — darum Geduld!
Exsurge, veritas, exsurge et quasi de patientia erumpe!
\Ver einen unwahrhaftigen Zustand aufdeckt, wird von
der Menge )5Lligneru gescholten und offentlich gebrand-
markt. Die Martyrerkroiie schmerzt nicht, dies Brandmal
schmerzt.
Wie viele hohe Ideen konnten der Welt nur durcli
eine Idololatrie begreiflich gemacht werden! Solange Saclie
und Symbol nocli ungetrennt waren, war es keine Tau-
schung.
* #
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Viele halten sich in alien Stiicken fiir stark, nur den
Spruch, dafi man den Schwachen kein Argernis geben soil,
beziehen sie auf sich.
Manche suchen die Wahrheit auf, um sie dann besser
verstecken zu konnen.
Uber Wisscnschaft und Religion. 379
Ein G-elehrter kann oft nicht mehr sein als ein agent
provocateur der Wahrheit — traurig genug, aber die Un-
wahrheit unterhalt noch viel zahlreichere Agenten.
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Non aliunde prodimur quam de bono nostro.
Nicht-s macht so miide und schliefilich auch so schwach,
als immer gerecht zu sein.
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Wer keine Uberzeugung hat, liigt imraer, er mag
sagen, was er will.
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Reden ist Silber und Scliweigen ist Gold, ein wahres
Sprichwort; aber wie verworren ist eine Welt, in der so oft
Schweigen das beste Teil sein muft!
Das Grewissen und die Wahrscheinlichkeit sind nicht
immer sicnere Fiihrer; aber sicher stiirzt der in Abgriiiide,
der sich ihrer entschlagt.
. . . Betriibtres hab ich nicht gesehn
Als jlingst an einem Schmetterlinge:
Der wollt aus seiner Pupp entstehn
Und wufite nicht, wie ers vollbringe;
Nicht wollt ihm auseinandergehn
Die kriippelhaft verschrumpfte Schwinge.
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Ecce labora et noli contristari!
BR 85 .H25 1906
V.l-2 SMC
HARNACK, ADOLF VON,
1851-1930.
REDEN UND AUFSDTZE /
BDI-1620 (MCAB)